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Satinshades

 

 

 

 

 

II. Dunkler Samt

Satinshades

 

 



II. Dunkler Samt







Die Schatten hinter dem Scheinwerferlicht
sind realer als du glaubst.
Willst du wirklich noch im Rampenlicht stehen?



1.

 

 

 

Vaara knabberte an der Haut ihres Daumennagels. Vor ihr lagen Informationen, die einfach unglaublich waren. Die Website, die Romas ihr gezeigt hatte, kannte sie nicht. Sie wusste gar nicht, dass es solche Seiten im Internet gab. Konnte das die verborgene Wahrheit sein? Sie glaubte nicht an Übersinnliches, aber das, was sie erfahren hatte, ließ sie nicht los.

Vaaras Großmutter hatte ihr viele Märchen vorgelesen, als sie noch klein gewesen war. In einigen von ihnen war es um übersinnliche Wesen gegangen. Feen, Djinns, Kobolde, Elfen, Zwerge. Magier, Zauberer, Hexen. Götter.

Was vor ihr lag, las sich ebenfalls wie ein Konstrukt blühender Fantasie. Nur, dass es echt war. Immer noch glaubte sie an eine logische Erklärung für all die Dinge, auf die sie sich keinen Reim machen konnte.

»Ich wünschte, es wäre nicht so.« Romas putzte seine Brille mit einem karierten Tuch.

»Aber ich habe zu vieles gesehen, um noch daran zu zweifeln.« »Sieh dir die Bänder an, die unsere Kameras aufgenommen haben«, meinte Tilarin. »Spätestens dann wirst du begreifen, mit wem wir es zu tun haben.«

Die Schatten waren lebendig. Tilarin hatte es anfangs nicht glauben wollen. Ihr Verstand hatte sich gegen diese Version der Wirklichkeit gewehrt. Er hatte gekämpft und ihr immer wieder einzureden versucht, dass alles, was sie gesehen hatte, unmöglich war. Doch mit der Zeit hatte er nachgegeben. Mittlerweile stellte er sich nicht mehr gegen das Offensichtliche.

Tilarin spulte das Band wieder zurück und zoomte heran. Es kam auf Millisekunden an. Da. Volltreffer. Eine sehr gute Aufnahme. Einer von MMPs Anzugträgern lief durch den Flur des Residance. Romas Spionage-Software lieferte wieder einmal brillante Bilder.

Nach fünf Schritten blieb er stehen. Seine Pupillen flackerten. Ein Schatten wand sich um seinen Hals, eine wolkenartige Schlangengestalt, die aus einer anderen Dimension zu kommen schien. Es war nicht das erste Mal, dass sie eine solche Anomalie beobachtete. Sie wusste, warum sie zu einem Risikofaktor für das Unternehmen geworden war.

 

 

 

 

4 Jahre zuvor...

Immer wieder hatte sie Abschied nehmen müssen. Es gefiel ihr nicht, wie die Leute aus der Plattenfirma die Kandidatinnen vor die Tür setzten. Oftmals verstand sie nicht, wieso die eine gehen musste, während die andere, in ihren Augen weniger talentierte, bleiben durfte. Doch sie wollte nichts sagen, schließlich war sie immer noch im Rennen. Sie war fleißig und scheute keine Arbeit. Ulisa hatte ihr einen Tanzsaal zugeteilt, in dem sie nach dem regulären Training weiter trainieren durfte. Auch heute hatte sie wieder mehrere Stunden dort verbracht.

Auf den Fluren herrschte gähnende Leere. Der große Zeiger ihrer Uhr ging auf die Elf zu. Es war nicht einfach, Schule und Voluntee-Ausbildung unter einen Hut zu bekommen. Dann war da noch der Schlaf, der viel zu kurz kam.

Ein Geräusch ließ ihre Gedanken wie ein Kartenhaus einstürzen. Es klang wie zerbrechendes Glas. Sie runzelte die Stirn.

Schritte. Das Rauschen von Stoff. Mindestens zwei Personen. Sie tat etwas, was sie sich in Nachhinein nicht erklären konnte. Sie versteckte sich. Unweit von ihr stand eine Tür offen, sie führte in einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Küche. Sie schlüpfte hinein und ließ das Licht ausgeschaltet. Je näher die Schritte kamen, desto schneller klopfte ihr Herz. Es waren zwei Männer mittleren Alters. Sie trugen dunkelgraue, gut sitzende Anzüge.

Einer von ihnen, derjenige, der dichter an der offenen Tür vorbeiging, blieb plötzlich stehen. Sie zog sich weiter in die Dunkelheit zurück, ihr Herz schlug so schnell wie ein Presslufthammer. Woher kam diese Angst?

Der Mann warf einen Blick in den Raum. Er konnte nichts sehen, der Lichtschein des Flures reichte nicht so weit, er beleuchtete nur ein viereckiges Stück Teppich, mehr nicht. Dennoch zog sie sich weiter zurück. Ihre Handinnenflächen wurden feucht, wie damals, als sie unerlaubt Auto gefahren war und fast gegen einen Zaun gedonnert wäre.

Der Mann war still. Es schien so, als würde er die Luft anhalten. Sein Brustkorb bewegte sich nicht, reglos verharrte er in dieser Position. Wie eine Statue. Witterte er sie Vielleicht und ahnte, dass sich jemand im Aufenthaltsraum befand?

Geh weiter, beschwor sie ihn in Gedanken. Los, verschwinde. Hier gibt es nichts Interessantes zu sehen.

Auf einmal klingelte ein Handy. Es war der Standardton einer Handymarke, den viele Menschen verwendeten.

Er sagte etwas, das sie nicht verstand.

Sein Partner rührte sich wieder, als ob seine Batterie sich gerade aufgeladen hätte. Er streckte einen Arm in die Luft. Sie blinzelte. Seine Nägel waren schwarz, doch sie war sich sicher, dass sie vor ein paar Sekunden noch ganz normal ausgesehen hatten. Auch seine Augen waren nicht mehr braun. Ein glänzender schwarzer Film überzog die Iris. Sie schauderte.

Seine Augen waren schwarz wie Öl, doch das war nicht alles, was ihr seltsam vorkam. Woher stammte dieser merkwürdige schwarze Schal um seinen Hals, der sich wie eine dunkle Anakonda um seinen Brustkorb wickelte? Ihre Knie zitterten. Was war das für ein Trick, den er vorführte? Damit würde er bei einer Talentshow den ersten Platz machen.

Konnte er sie sehen? Sie wagte nicht, noch einen Schritt zurückzugehen.

»Lass uns gehen.« Der Mann hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich seine Regenbogenhaut wieder braun färbte. Auch die Dunkelheit um seinen Hals und Brustbereich verzog sich wie Rauch, der vom Wind verweht wurde.

»Gehen wir.« Er wandte seinen Blick ab. Eine riesige Last fiel von ihr ab. Ihr Knie gaben nach und sie sackte zu Boden.

Unglaublich. Es existierten Dinge, für die es keine Erklärungen gab. Sie musste der Sache auf den Grund gehen.

 

 

***

 

 

Jungen und Mädchen hielten ihre Handys auf Augenhöhe.

»Ich habe es dir doch gesagt.«

»Sie ist an unserer Schule. In der Oberstufe.«

»Ich habe sie im Internet gesehen.«

»Sie bekommt heute ihr Abschlusszeugnis.«

»Warum ist sie mir nicht schon früher aufgefallen?«

»Ich erinnere mich an sie.«

Zadou bückte sich und tat so, als würde sie in ihrer Tasche etwas suchen. Sie war noch nicht einmal durch das Schultor getreten und wurde schon mit Klickgeräuschen und Blitzen begrüßt. Ein Traube Schüler stand an der Mauer. Alle hielten ihre Handys auf sie gerichtet.

Die letzten Prüfungen hatte sie absolviert, bevor Reyns Video fertiggestellt worden war, damals hatte sie nicht geahnt, welchen Wirbel der Clip verursachen würde.

»Zadou?« Ein Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen sprach sie an.

»Ja?« Zadou versuchte den Handykameras der anderen Schüler den Rücken zuzudrehen.

»Können wir ein Bild machen?«

»Natürlich.« Sie ließ zu, dass das Mädchen einen Arm um ihre Taille legte und grinste in die Kamera. Sie hatte vor dem Spiegel geübt, das richtige Lächeln aufzusetzen. Dabei war es wichtig, die Zunge am Gaumen zu haben und die Mundwinkel nicht zu weit hochzuziehen. So sah ihr Lächeln am besten aus.

In der letzten Zeit machte sie sich viel mehr Gedanken um solche Dinge. In einer Zeitschrift hatte ihr Gesicht viel zu breit ausgesehen, seitdem arbeitete sie an ihrer Mimik

»Können wir auch eins machen?« Hinter dem Mädchen mit den Zöpfen hatte sich eine chaotische Reihe gebildet.

»Na klar, aber ich muss in zehn Minuten in der Aula sein. Sonst komme ich zu spät zu meiner Zeugnisausgabe«, meinte Zadou. Auch auf dem Schulhof hatte sie keine Ruhe. Leute, die sie nur vom Sehen her kannte, riefen ihren Namen und wollten sie nicht durchlassen. Zadou entschuldigte sich bei jedem von ihnen und schlängelte sich durch die Menge.

»Da ist ja unser Star.« Nallit umarmte sie. »Eine Minute bis es anfängt.«

»Ich bin fast nicht durchgekommen.«

Sie gingen zu ihren Plätzen. Familienangehörige und Freunde der Absolventen waren gekommen, um dabei zu sein, wenn die Schüler ihre finalen Zeugnisse entgegennahmen. Zadous Eltern waren auch anwesend.

Sie wäre mit ihnen gekommen, wenn sie nicht vorher zu einem Briefing in die Zentrale von MMP hätte fahren müssen.

»Die Schule steht Kopf. Es sind sogar Reporter hier«, Nallit deutete zum Ausgang. Dort stand ein schlaksiger Mann mit einer großen schwarzen Kamera. Der Hausmeister versperrte ihm den Weg, was ihn nicht davon abhielt, Fotos zu knipsen.

»Ich verstehe nicht, warum sie hierherkommen.« Zadou warf einen Blick in die Runde. Köpfe drehten sich nach ihr um. Ihr Name wurde geflüstert. Dabei war sie doch nur ein paar Mal mit Reyn fotografiert worden. Es lasen mehr Leute Klatschzeitungen, als sie dachte.

»Hast du es auch hierher geschafft?«, zischte Lona. »Ich dachte, so jemand wie du hat einen Schulabschluss nicht mehr nötig.«

»Nur dir zuliebe.« Zadou zeigte ihr breitestes Grinsen. An diesem Tag konnte nicht mal Lona ihre Laune vermiesen.

»Es ist schlau von dir, die Schule zu beenden, denn sonst landest du auf der Straße, wenn deine Karriere vorbei ist.«

»Wie rührend, dass du dich um meine Zukunft sorgst.« Zadou hörte nicht auf zu lächeln. Eines war sicher, heute konnte nichts ihre gute Stimmung trüben. Ihre Eltern saßen in der vorletzten Reihe. Ihr Vater zeigte den Daumen nach oben, als sie sich zwischen sie setzte.

»Ein paar Leute hier haben gefragt, ob sie ein Foto mit mir machen können«, gluckste er. »Mit mir, dem Vater des Stars. Macht mich das berühmt?«

»Papa.« Sie knuffte ihn in die Seite.

»Ruhm ist vergänglich«, kommentierte ihre Mutter. »Gib ihr nicht das Gefühl es sei das ultimative Ziel im Leben, Genow.«

»Das tue ich nicht. Gib es zu, du genießt es doch auch«, gab er zurück.

»Nein.« Hanarit Aldanha fuhr sich durch die braunen Haare. Sie glänzten stärker als sonst und waren leicht gewellt. Zudem hatte sie Schminke aufgelegt. Wann hatte sie sich das letzte Mal so zurechtgemacht?
Sie hatte es aufgegeben Zadou Vorhaltungen zu machen, denn sie wusste, dass ihre Tochter ihren Kopf durchsetzen würde. Wenn es um ihre Voluntee-Laufbahn ging, kannte sie keine Gnade. Zadou hatte oftmals damit gedroht auszuziehen, wenn ihre Mutter sie kritisieren sollte. Hanarit hatte klein beigegeben, sie machte sich nach wie vor Sorgen, aber sie äußerte ihre Bedenken nicht mehr lautstark.

»Du hast dich ganz schön herausgeputzt, Mama.«

»Als ob es dein Abschluss ist und nicht Zadous«, kicherte ihr Vater.

»Wenn diese Presseleute uns fotografieren, will ich einigermaßen gut aussehen.« Zadous Mutter zupfte ihr Kostüm zurecht.

Zadou konnte es ihr nicht verübeln. Die Fotografen hatten das Talent sie aus den unmöglichsten Perspektiven abzulichten. Seit kurzem gehörte eine große Sonnenbrille, die ihr halbes Gesicht verdeckte, in ihre Handtasche. Sie setzte sie sogar auf, wenn es bewölkt war oder regnete.

Der Direktor trat ans Mikrofon und räusperte sich.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um unsere Absolventen in die große Welt hinauszulassen.« Sein Mikrofon rauschte bei seinem letzten Wort. Hinter ihm hatten sich alle Lehrer versammelt, die sie unterrichtet hatten, jeder von ihnen in Schale geworfen.

Zadou hatte ihren Sportlehrer noch nie in einem Kostüm gesehen. Normalerweise trug er Jogginganzüge, wenn er durch die Schulflure ging. Frau Nuth, ihre Biologie-Lehrerin, die ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hatte, trug ein geblümtes Kleid, das ihre Röllchen unvorteilhaft in Szene setzte. Daneben wirkte Frau Henders wie eine geschmeidige Katze. Ihr knielanges graues Kleid stand ihr ausgesprochen gut. Im Kontrast zu den anderen Lehrern sah sie aus wie eine Studentin. Zadou würde sie vermissen. Sie hatte ihr erlaubt, den Proberaum und das Studio zu nutzen, wann immer sie wollte.

»Kommen wir nun zur Vergabe der Zeugnisse. Sie werden euch die Pforten in das Erwachsenenleben öffnen.« Der Direktor begann die Namen der Schüler vorzulesen. Da Zadous Nachname mit A begann, wurde sie als Fünfte aufgerufen. Sie ging mit neun weiteren Absolventen auf die Aulabühne, auf der sie so oft mit ihrer Tanz-AG geprobt hatte.

Der Direktor überreichte ihnen nacheinander die Zeugnisse, die sich in einem Ordner aus blauer Pappe befanden.

»Herzlichen Glückwunsch.« Er schüttelte ihre Hand. »Vor dir erwartet unsere Schule sehr viel.«

»Ich werde Ihre Erwartungen nicht enttäuschen.« Zadou verbeugte sich leicht. Es war ein Zeichen des Respekts gegenüber Autoritätspersonen. Eltern machten Fotos von ihnen, Mütter konnten ihre Tränen nicht zurückhalten und Väter klatschten stolz in die Hände. Es war kein leichter Weg bis hierher gewesen, doch nun hatten ihre Kinder es geschafft.

Zadou konnte sehen, wie ihre Mutter sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Auch die Augen ihres Vaters glänzten verräterisch. Es rührte Zadou diese Seite ihrer Eltern zu sehen.

Ihre Familie war eine Einheit, das spürte sie in diesem Augenblick. Es fehlte nur noch ein Mensch. Jemand, der ihr sehr wichtig war. Reyn. Doch er würde nicht kommen. Er befand sich gerade in Grihol, einer Stadt, die über 500 Kilometer nördlich von Dalxatir lag.

»Ich bin stolz auf dich.« Frau Henders trat zu ihr und umarmte sie. »Ich habe schon immer gewusst, dass du ein ganz besonderes Mädchen bist.«

»Danke.« Zadou ließ sich umarmen und genoss diesen Moment der Geborgenheit.

»Ich habe gesehen, wie schwer du es hattest. Aber du bist eine Kämpferin. Du wirst dich an die Spitze boxen. Ich weiß, dass du es zu etwas bringen wirst.«

»Sie waren immer meine Lieblingslehrerin. Immer.«

»Ich hoffe, ich bekomme Freikarten für deine Konzerte.« Sie ließ Zadou los und zwinkerte ihr zu.

»Wann immer Sie wollen.« Zadou lachte. Irgendwann vielleicht, wenn sie auf der Bühne stand, würde sie den Wunsch ihrer Lehrerin erfüllen. »Wenn Sie wollen, können Sie sogar in den Backstage-Bereich kommen.«

»Das werde ich.«

Der Direktor bat sie, wieder Platz zu nehmen. Gerade als Zadou von der Bühne gehen wollte, erblickte sie einen jungen Mann, der ihr bekannt vorkam. Er saß am Rande der dritten Reihe. Am Außengang. Sie stutzte. Dieses sandfarbene Haar, diese klaren Augen. Die Grübchen um die Mundwinkel, die sein angedeutetes Lächeln umrahmten. Wo hatte sie ihn gesehen?

»Beeilst du dich ein bisschen?«, fragte jemand hinter ihr. »Hier hat sich schon ein Stau gebildet.«

»Natürlich.« Zadou nahm zwei Stufen auf einmal. Sie glaubte aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sein Lächeln breiter wurde. Nallit, die ganz in der Nähe saß, winkte ihr zu.

»Das hast du großartig gemacht.« Ihr Vater küsste sie auf die Stirn.

»Ich habe doch nur ein Stück Papier in Empfang genommen.«

»Sei nicht so bescheiden.« Ihre Mutter richtete den Kragen von Zadous Kleid. »Papa und ich freuen uns, dass du die Schule beendet hast, obwohl du mehr als einen guten Grund hattest, sie vorzeitig abzubrechen.«

»Mama...« Zadous Worte gingen im Stoff einer Seidenbluse unter. Ihre Mutter drückte sie an sich. Am Ende der Zeugnisausgabe warteten mehrere Schülergrüppchen vor der Aula, um Fotos zu machen.

»Ich will eine Gewinnbeteiligung«, meinte Nallit, als sie Zadou mit einem Zwillingspaar aus der unteren Stufe fotografierte. Viele Leute fragen Nallit, ob sie nicht ein Bild mit ihrem Handy schießen könnte.

»Die bekommst du, sobald mein erstes Honorar überwiesen wird. Abzüglich der Ausbildungskosten dürfte nicht mehr viel übrig bleiben«, scherzte Zadou.

Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Balyon hatte sie erreicht.

Hast du dich schon entschieden? Er hatte ihr einen Monat Bedenkzeit eingeräumt. Es gab nichts, was sie mehr wollte, doch Gylills Verschwinden ließ ihr keine Ruhe. Der Platz in der Band gehörte ihrer Freundin und nicht ihr. Was war mit Gylill geschehen, warum meldete sie sich nicht?

Langsam lichteten sich die Menschentrauben. In diesem Moment sah sie ihn wieder. Er stand vor dem schwarzen Brett und schaute sich die Aushänge an. Zadou stöberte in ihren Erinnerungen nach seinem Gesicht.

Natürlich. Er hatte in Reyns Video getanzt. Was machte er hier in ihrer Schule? War er mit einem Absolventen verwandt? Gerade als sie überlegte, ob sie ihn ansprechen sollte, wurde sie herumgewirbelt.

»Da ist ja unser Star.« Benko hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.

»Der heutige Tag gehört uns. Wir haben einiges vorbereitet. Sag alle Termine ab!«, rief Dati.

 

 

 

 

4 Jahre zuvor...

Die seltsamen Schatten ließen ihr keine Ruhe. Sie suchte in der Bibliothek nach Büchern über mystische Wesen und recherchierte jede freie Minute im Internet. Ohne Erfolg. Anfragen wie 'Schlangenartige Schatten' oder 'Schlangenähnliche Schatten, die sich um den Hals eines Menschen winden' hatten sie auf die Website eines Onlinespiels gebracht. Doch in den Foren dort fand sich nichts Aufschlussreiches. Die Leute unterhielten sich über das Rollenspiel und ignorierten Posts, die sich um andere Themen drehten. Hier würde sie keine Antworten finden. Sie musste die Schatten noch einmal sehen, um es wirklich glauben zu können. Der Entschluss reifte, wie die Kirschen, die am Baum vor ihrem Fenster hingen. Wie sollte sie es anstellen? Sie kaute an ihrem Daumennagel. Eine dumme Angewohnheit, die Ulisa ihr auszureden versuchte.

»Idole haben keine angeknabberten Nägel.«

Idole hatten überhaupt keine Makel. Sie durften mit ihren Haaren nicht machen, was sie wollten. Jemand anders entschied, wie sie frisiert werden sollten. Sie hatte viel zu wenig Entscheidungsfreiheit, dabei war es ihr Körper. Sollte sie sich die Haare nicht so schneiden dürfen, wie sie wollte?

»Ich wusste gar nicht, dass du Dark Dungeons spielst.« Ihr Bruder steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Was für einen Charakter hast du dir ausgesucht?«

»Ich spiele gar nicht.«

»Wenn man einmal angefangen hat, ist es schwer wieder aufzuhören.« Er tapste ins Zimmer und zog den Laptop zu sich heran.

»Was hast du eigentlich hier verloren?« Sie versuchte, ihm den Computer zu entreißen.

»Du gehst auch ständig in mein Zimmer.«

»Lass meinen Laptop los, Nives. Sonst wirst du es bereuen. Ich muss gleich gehen und will ihn mitnehmen.«

»Immer musst du zu MMP, warum wohnst du nicht da?«, regte er sich auf.

»Du weißt genau, wie wichtig der Unterricht dort ist.« Sie eroberte ihren Computer zurück und stopfte ihn rasch in ihren Rucksack. Heute Nacht würde sie wieder länger bleiben und beobachten. Sie wurde aufgeregt bei diesem Gedanken.

»Du wirst ja ganz rot«, neckte Nives sie. Mist, sah man ihr an, was sie dachte?

»Hast du einen Verehrer?«

»Nein.«

»Darum bist du also immer so lange weg. Kihi hat einen Verehrer. Kihi hat einen Verehrer.«

»Raus aus meinem Zimmer«, sie schob Nives auf den Flur und schloss die Tür.

»Du bist so gemein zu mir«, beschwerte er sich.

»Ich bin noch gütig. Wenn du wüsstest, was andere Mädchen mit ihren ungezogenen Brüdern machen, würdest du dich vorsehen.«

Unter anderen Umständen hätte sie Nives verraten, was sie so bewegte. Doch zunächst brauchte sie Gewissheit. Ehe sie sich versah, stand sie im Tanzsaal. Der Unterricht war schon seit einigen Stunden vorbei. Sie hatte ihre Kamera mitgebracht, mit der sie manchmal Videos filmte, die sie auf eine Videoplattform im Internet stellte. Mittlerweile sahen ihr über zweitausend Menschen zu, wenn sie Passanten in der Innenstadt Streiche spielte oder Sketche mit ihren Freunden aufführte. Wenn sie ihren Zuschauern zeigen würde, was sie gesehen hatte...

Das Gerät besaß eine Einstellung, mit der man nachts filmen konnte. Die Aufnahmen waren nicht so scharf wie bei einer teuren Nachtsichtkamera, aber sie würden genügen. Sie wusste nicht, ob sich einer dieser Geschäftsmänner heute überhaupt blicken lassen würde. Sie filmte sich probeweise selbst. Dazu postierte sie die Kamera vor dem Spiegel und schaltete das Licht aus. Sie brauchte einige Zeit, um sich in der Dunkelheit zu orientieren.

Nach ein paar Minuten sah sie sich das Resultat an. Die Kamera hatte ihre Umrisse aufgezeichnet, selbst ihre Mimik wurde schattiert dargestellt. Ihre Augen schimmerten in einem gruseligen rötlichen Ton. Die Qualität würde genügen. Bei einer minimalen Lichtquelle arbeitete das Gerät noch besser. Und sie würde in den Flur hinein filmen.

Kurz vor Mitternacht bezog sie im Aufenthaltsraum Stellung und wartete. Die Männer stellten ihre Geduld auf die Probe. Sie war ein Nachtmensch, doch sie würde nicht ewig auf sie warten. Wer gab ihr überhaupt die Garantie, dass sie erschienen?

Sie musste herausfinden, wo sich diese seltsamen Männer trafen. Einige dieser Schlipsträger sah sie hier öfter. Bisher hatte sie nie darauf geachtet, doch seit kurzem verharrte ihr Blick länger am Hals, Kragen oder der Krawatte eines dieser Männer. Immer in der Erwartung, Dunkelheit zu sehen, die dort nicht hingehörte.

Der Desktophintergrund ihres Smartphones zeigte ein neues Bild. Jede Nacht um 00.00 Uhr änderte sich das Foto. Nun zeigte es für 24 Stunden eine zerklüftete Küste. Lange würde sie nicht mehr warten. Sie brauchte einen besseren Plan. Irgendwie musste sie herausfinden, wo sich diese Männer trafen, um ihre Schatten herauszulassen. Genug für heute. Sie löschte das Licht.

Im selben Moment hörte sie ein Geräusch, das Klirren von Glas. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf. Jemand war in der Nähe. So leise wie möglich bediente sie ihre Kamera und richtete die Linse auf die offene Tür.

Lange Zeit geschah nichts. Doch sie wusste es besser. Jemand war hier. Nur wenige Meter entfernt von ihr. Sie konnte die Präsenz schmecken. Ihre Zunge fühlte sich metallisch an.

Schritte. Leise. Zielgerichtet. Schnell.

Sie hielt die Luft an. Hoffentlich bemerkte sie niemand.

Dieses Mal war es nur ein Mann. Sein dunkelgrüner Anzug saß wie angegossen. Die Schwärze umhüllte ihn wie ein Seidenstrumpf. Sie waberte um seinen Oberkörper. Seine Schritte verlangsamten sich. Aus dem dunklen Schleier wuchsen hauchdünne Tentakel und sondierten die Umgebung. Sie hielt sich den Mund zu, um einen Schrei zu unterdrücken. Einer dieser Arme streckte sich zur offenen Tür.

Bitte nicht stehen bleiben, bat sie stumm. Geh weiter. Sie schloss die Augen. Er blieb nicht stehen. Kurz nachdem er den Raum passiert hatte, wurde er wieder schneller.

Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Obwohl ihre Beine einschliefen und ihre Muskeln ihr deutliche Signale sandten, achtete sie nicht auf das pochende Gefühl. Das, was sie gerade gesehen hatte, überlagerte alle Empfindungen ihres Körpers, alle ihre Erinnerungen und Erfahrungen. So etwas durfte es nicht geben.

Nicht in ihrer Realität. Doch sie hatte einen unumstößlichen Beweis. Die Aufzeichnungen ihrer Kamera.

 

 

***

 

 

Sie hatten ihr nichts verraten. Der ganze Tag war voller Überraschungen gewesen. Dati, Benko und Nallit hatten sie entführt. Hinaus aus der Stadt in einen Vergnügungspark, anschließend in ein Café in der Nähe mit vielen kalorienreichen Leckereien, die schon lange von Zadous Ernährungsplan gestrichen worden waren. Nun fuhren sie wieder zurück nach Dalxatir. Benko, der den Wagen lenkte, steuerte Intresar an. Die Leuchtreklamen der Hochhäuser spiegelten sich in ihrer Sonnenbrille, die sie sich vorsichtshalber wieder aufgesetzt hatte. Der Abend hatte gerade begonnen. Leute strömten durch das Viertel. Auf der Suche nach Abwechslung, Aufregung und Angeboten, die sie von ihren Alltagssorgen ablenken konnten.

»Setz die hier auf.« Dati reichte ihr eine rote Perücke.

»Ist das dein Ernst?« Zadou fasste durch das künstliche Haar.

»Ich habe keine Lust, alle zwei Meter stehen bleiben zu müssen, weil jemand ein Foto von dir machen will.«

»Wir haben noch mehr.« Benko warf einen Blick über die Schulter.

»Kontaktlinsen.« Nallit, die auf dem Beifahrersitz saß, reichte ihr ein Päckchen nach hinten.

»Neongrün?« Zadou betrachtete die beiden Linsen, die in einer klaren Flüssigkeit schwammen. Sie sahen aus wie zwei giftige Fische. »Könnten sie nicht meinen Augen schaden?«

»Die sind von einem geprüften Optiker. Ich gebe da mein Siegel drauf. « Benko zerstreute ihre Bedenken. »Wenn sie nicht halten, was sie versprechen, kaufe ich dir zu deinem nächsten Geburtstag zwei neue Augen.«

Die Kostümierung hielt, was sie versprach. Niemand sprach Zadou an. Die Farbe der Kontaktlinsen wirkte in ihren Augen nicht mehr so unnatürlich grell. Benko steuerte einen ganz bestimmten Club an. Sie hätte es wissen müssen.

Er liebte das Residance.

»Wollen wir wirklich in diesen Club?« Schlagartig kehrten alle Erinnerungen an die Nacht mit Tilarin zurück. Ihre Vergangenheit rieselte in winzigen Fetzen auf sie herab und verdunkelte die Sicht auf die Gegenwart.
Missada, die Drogen kaufte. Hinar Philit, die Sängerin von Trouble, die wie ein Baby lallte. Der Mann im Anzug, der so kalt wie eine Maschine war. Bilder, die ihre Sicht auf das Show-Business verändert hatten.

»Es gibt doch so viele andere Discotheken in Intresar«, versuchte sie ihre Freunde zu überzeugen.

»Das ist der In-Club. Das ist der Ort, wo die besten Partys von Dalxatir stattfinden. Wir gehen nirgendwo anders hin.« Benko hakte sich bei ihr ein und zog sie weiter.

»Wir werden heute viel Spaß haben.« Dati grinste sie an.

»Es wird bestimmt gut«, stimmte Nallit zu.

»Seht ihr diese Schlange da vorne? Wir werden mindestens eine Stunde anstehen müssen.« Zadou ahnte, dass sie schlechte Karten hatte. Es stand drei gegen eine. Abgesehen davon, dass sie ein paar Sternchen unter Drogeneinfluss gesehen hatte, war damals nichts Schlimmes passiert und dennoch hatte jeneNacht etwas verändert.

Steig lieber aus, bevor es zu spät ist. Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Zadou dachte an Tilarin, die ihr alles gezeigt hatte. Tilarin, die sie hatte überzeugen wollen, aus der Unterhaltungsindustrie auszusteigen. Warum hatte sie so vehement versucht, Zadou das Musikgeschäft schlecht zu reden? Was hatte sie davon?
Langsam begriff sie.
Gylill war nicht in den Urlaub gefahren oder ins Ausland gezogen. Ihr Verschwinden ließ Zadou keine Ruhe.
Was war mit ihr Geschehen? Und warum war Balyon ihren Fragen ausgewichen?

»Du denkst zu viel nach.« Benko kniff ihr sanft in die Wange. »Heute vergessen wir alles.«

»Ihr habt die Schule abgeschlossen, das ist ein Grund zum Feiern.« Dati holte eine Flasche mit bernsteingelber Flüssigkeit aus ihrer Tasche. »Ich habe die besten Sorten gemixt. Ihr werdet nichts spüren. Morgen gibt es keine Kopfschmerzen.« Sie nahm einen Schluck und reichte die Flasche an Nallit weiter.

»Ich weiß nicht.« Zadou betrachtete die leuchtenden Buchstaben des Residance, von dem jeder größer als sie war.

»Wer weiß, wann wir das nächste Mal eine Gelegenheit dazu bekommen werden.« Benko zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Zadou ließ sich mitziehen. Was hatte sie schon zu verlieren? Was auch immer Dati zusammengemischt hatte, es begann seine Wirkung schneller zu entfalten, als sie Music Might Productions buchstabieren konnte. Wärme breitete sich in ihrem Körper aus und ein Hochgefühl ergriff Besitz von ihr.

»Wir können alles schaffen.« Sie reckte die Faust in die Luft.

»Ja.« Nallit prostete ihr zu.

»Das ist die Zadou, die ich vermisst habe.« Benko wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge.

Zadou fühlte sich unbesiegbar. Die Schule lag hinter und der Weg in den Olymp vor ihr. Sie war ein Idol. Alles, was sie sich je erträumt hatte, war real geworden. Träume konnten in Erfüllung gehen. Sie war das beste Beispiel dafür.

Die Menschenmenge im Residance wogte um sie herum und schaukelten ihren Körper vor und zurück. Zadou genoss es, ein Teil dieser Welle voller junger Leute zu sein, die die Nacht auskosteten.

»Da hinten gibt es ein Tanz-Battle.« Benko stieß sie leicht in die Rippen.

»Wo?« Zadou suchte die Menge nach Tänzern ab.

»Auf dem anderen Floor.« Benko, der sie alle überragte und größer war, als viele Männer hier, deutete in eine bestimmte Richtung. Für ihn war es ein Leichtes, über die Köpfe der anderen hinweg zu sehen.

»Ein Tanz-Battle?« Datis Mund klappte vor Verblüffung auf. »Hier?«

»Ihr drei seid doch so tanzverrückt. Lasst uns hingehen«, schlug Nallit vor.

»Sehr gute Idee.« Dati hüpfte hoch. Jeder von ihnen war von der Energie im Residance angesteckt worden. Zadou verstand, warum es so viele Leute hierherzog. Vielleicht würde sie von nun an öfter herkommen, wenn es ihr Zeitplan erlaubte. Was in den privaten Bereichen geschah, interessierte sie nicht.

Benko schlug eine Schneise durch die wippenden Körper. Zadou war froh, dass er voranging. Sie selbst hätte doppelt so viel Zeit gebraucht, um die Tanzfläche zu verlassen. Sie machten einen Bogen um die Bar, die die beiden Bereiche miteinander verband. Zadou hörte Jubelrufe, die die Musik aus den Boxen übertönten.

Die Leute drängten sich in einem chaotischen Kreis um die Tanzfläche und feuerten die Tänzer an. Zadou sah von hier nicht viel. Sie musste dichter heran.

»Sie sind gut.« Dati, die sich auf einen Tisch gestellt hatte, um einen besseren Überblick zu bekommen, zog anerkennend die Augenbrauen hoch.

»Wir bräuchten ein paar davon in unserer Crew«, fügte Benko hinzu. Sie hielten die Tanz-AG am Leben, obwohl sie die Schule vor Zadou abgeschlossen hatten. Jetzt trainierten sie nicht nur in der Aula, sondern in einem Tanzraum, den sie sich für zwei Stunden in der Woche mieteten. Durch das regelmäßige Training war das Niveau der Gruppe gestiegen. Benko schickte Zadou ab und zu Videos ihrer Proben und Auftritte. Sie wollte selbst vorbeikommen und mitmachen, doch bisher hatte sie es nicht geschafft.

»Ich sehe nichts.« Nallit stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Kommt hier rauf.« Dati half ihnen auf den Tisch.

Tatsächlich. Von hier oben konnten sie gut erkennen, was im Zentrum der Fläche geschah.

Ein Tänzer machte einen Salto und ging in eine Tanzkombination auf dem Boden über.

Zadou klatschte begeistert in die Hände. Ein anderer löste sich aus der Menge und begann mit einer Hiphop-Routine. Dann stellte er sich auf den Kopf und machte einen Headspin.

»Mir wird schon vom Zusehen schwindlig«, kommentierte Nallit das Geschehen.

Die beiden Tänzer klatschten ab und traten zur Seite, als ein dritter hervorgeschossen kam.

Zadous Kinnlade fiel herunter. Er sprang einen Salto mit Schraube, es verging kaum eine Sekunde, bis er in einen Handstand ging und sich auf einer Hand zu drehen begann. Das war noch längst nicht alles. Er vollführte eine schwierige Kombination aus akrobatischen Tricks und wob den Tanz so perfekt ein, dass Zadou sich nicht an ihm sattsehen konnte. Es gab viele gute Tänzer, doch so viel geballtes Können bekam man selten zu Gesicht.

Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Jeder aus dieser Showgruppe trug eine Maske. Sie war dunkelblau und bedeckte das gesamte Antlitz. Es gab Schlitze für die Augen, der Rest war eine glattglänzende Fläche.

»Wenn sie nur halb so gut aussehen, wie sie performen, gehört einer von ihnen mir.« Dati zwinkerte Zadou zu. »Du suchst ja nicht mehr.«

Nein, Zadou suchte nicht. Doch warum fühlte sie sich so einsam? In der Zeit des Videodrehs hatte sie geglaubt auf Wolken zu laufen. Doch einen Tag später war Reyn auf Tournee gegangen. Hatte sie wirklich geglaubt, eine normale Beziehung mit einem Popstar führen zu können?

Obwohl sie den wohl begehrtesten Mann des Landes an ihrer Seite hatte, war sie die meiste Zeit allein. Reyn hatte ihr gestern das letzte Mal geschrieben. Er fragte nur selten, wie es ihr ging. Meist waren es kryptische Botschaften, mit denen er seinen Gemütszustand zu umschreiben versuchte, ohne ihr zu viel zu verraten. Immer wenn sie nachhakte, stieß sie auf Granit.

Es war ungerecht. Einfach unfair. Er konnte ihr so viel mehr geben, warum war er nur so wortkarg und verschlossen?

Zadou kletterte vom Tisch. Sie wollte nicht daran denken, was ihr fehlte, wenn sie so viel hatte. Sie war vom Glück geküsst. Ganz in Gedanken versunken, war sie durch die jubelnden Zuschauer zum Rand der Tanzfläche getreten. Die drei Männer waren sehr talentiert. Nun tanzten sie zu dritt, stellten sich in eine Reihe und warfen den Mittleren in die Luft, wo er eine riskante Drehung vollführte. Die Zuschauer tobten. Zadou war noch nicht oft in Discotheken gewesen, doch sie ahnte, dass eine solche Darbietung eine Seltenheit war.

Der Auftritt der jungen Männer war viel zu schnell vorbei. Sie sonnten sich im Applaus und verbeugten sich mehrmals.

Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Der Tänzer, der links stand, löste sich aus der Reihe und kam auf sie zu. Zadou drehte sich um. Die Menge löste sich langsam auf, in ihrer Nähe befand sich niemand mehr. Ja, er meinte sie. Sie presste die Lippen aufeinander. Wie seine Augen wohl aussahen? Ob er grinste? Hinter einer solchen Maske konnte sich jeder verbergen.

Er ging vor ihr in die Knie und nahm ihre Hand. Wie ein Gentleman einer längst vergangenen Zeit. Zadou beobachtete mit Erstaunen, wie er ihren Handrücken zu seinem Mund führte. Oder vielmehr dorthin, wo sie seine Lippen vermutete. Das glatte Plastik fühlte sich kühl auf ihrer Haut an, ganz anders als die Wärme seines Händedrucks. Zadou unterdrückte ein Kichern. Die Situation war abstrus. Vor ihr kniete ein Mann mit einer blauen Maske und deutete einen Kuss an.

»Ihr wart sehr gut.« Zadou fragte sich, ob er sie hörte.

Er schien sie verstanden zu haben, denn er nickte. Dann ließ er ihre Hand los und stand auf. Zadou hätte nichts dagegen gehabt, wenn er sie einen Augenblick länger festgehalten hätte. Ihr fehlte die Wärme einer Berührung. Ihr fehlte so vieles. Sie schalt sich für diesen Gedanken.

»Für dich.« Er zog eine weiße Rose hervor. Seine Stimme klang dumpf. Er sagte noch etwas, doch es ging im Bass des nächsten Liedes unter. Die Blume verströmte einen angenehmen, süßlichen Duft. Das Licht der bunten Scheinwerfer fiel auf ihn. Sie erhaschte einen Blick auf seine Augen. Sie funkelten violett im künstlichen Licht.

»Vielen Dank.« Zadous Finger fuhren über den dornigen Stiel.

Er verneigte sich. Menschen drängten sich zwischen ihnen durch.

»Oh. Mein. Gott.« Nur Benko gelang es, die Musik zu übertönen, ohne zu schreien. Er klopfte ihr auf die Schulter.

»Ich will auch eine Rose.« Dati betrachtete die Blume interessiert.

»Ich schenke sie dir.« Zadou blickte sich nach dem Tänzer um. Er war nicht mehr da. Die Fläche, auf der sie ihre Show gezeigt hatten, war wieder voll von Tanzwütigen.

»Nein, sie gehört dir.«

»Du darfst diese Rose nicht weitergeben.« Nallit schnalzte mit der Zunge. »Dein Ritter hat sich als würdig erwiesen und erwartet, dass du sein Präsent in Ehren hältst.«

»Du hast zu viele Mittelalterserien gesehen, Nallit.« Benko zog ein imaginäres Schwert hervor und wedelte damit herum. »Ich werde euch vor allen Gefahren beschützen. Drachen und feindliche Ritter sind ein Klacks für mich. Ich kenne keinen Schmerz, wenn es darum geht, meine holde Prinzessin zu retten.«

»Hör auf damit.« Dati boxte ihn in den Oberarm.

»Autsch.« Benko verzog das Gesicht.

»Ich dachte, du wärst ein starker Ritter, der keinen Schmerz kennt«, Nallit gluckste vor Lachen. Sie steckte Zadou an. Sie betrachtete die Rose und verfolgte die bunten Lichter, die über die Köpfe der Leute flogen. Sie wünschte sich mehr solcher Momente, in denen sie die Sorgen ihres Lebens einfach vergessen konnte.

2.

 

 

 

 

Er studierte das kleine Kärtchen in seinen Händen ein paar Sekunden, dann knüllte er es zusammen und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
Elina Tishims Familie wohnte in dem Reihenhaus am Ende der Allee. Elina selbst nicht mehr.

Er schlenderte durch die baumgesäumte Straße und betrachtete die Häuser hinter den akkurat gestutzten Büschen. Er sog die saubere Luft dieses idyllischen Vorortes wie ein lebensspendendes Serum ein. Es war eine willkommene Abwechslung zu den Abgasen der Großstadt.

Er öffnete das hüfthohe Gartentor und schritt gemächlich über das Grundstück der Tishims. Hübsch hatten sie es hier. An der Tür hing ein herzförmiges Holzschild mit der Aufschrift 'Willkommen'.

Er klingelte. Schritte waren zu hören.

»Ja?« Eine Frau mittleren Alters öffnete ihm die Tür. Die Ähnlichkeit zu ihrer Tochter war unverkennbar. Sie wirkte wie eine ältere Version von Elina. Eine zarte Elfe mit kunstvollem Haarknoten.

»Ich bin Ivol Lorrent«, stellte er sich vor.

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Das können Sie.« Beiläufig berührte er ihre Hand, während er ihr tief in die Augen sah. Frau Tishim erwartete mit Sicherheit ihre Tochter, die gestern bei der finalen Entscheidung gewesen war.

Balyon hatte sie nicht in die Band Apricoze gewählt, doch sie würde ihnen trotzdem nützlich sein. Dieser Auftrag war einfach.

Majiha Tishim war eine alleinerziehende Mutter. Die nächsten Verwandten lebten auf einem anderen Kontinent. Auch ihre Schulfreunde würden sie nicht vermissen, denn sie hatte die Schule vor kurzem abgeschlossen. Sie hatten ihre Social Media-Profile gehackt und geschrieben, dass sie auf eine unbestimmte Zeit ins Ausland ging. Nicht alle Vergessens-Missionen liefen so mühelos wie diese hier.

»Elina Tishim gibt es nicht«, suggerierte er der Frau.

»Wie bitte? Reden Sie von meiner Tochter?« Die Frau schluckte. »Denn ich warte...« Ihre letzten Worte bröckelten.

»Es gibt sie nicht. Du wirst sie vergessen.« Seine Augen drangen in ihren Geist und zwirbelten ihre Gedanken. Nun war der Moment gekommen, er verstärkte die Kraft seines Blickes. Ihre Reaktion folgte augenblicklich.
Verwirrung spiegelte sich in ihrem Antlitz, ein Ausdruck der Angst, als die Farbe seiner Iris sich veränderte und dann völlige Leere.

»Ich warte...« Sie stockte. »Worauf warte ich eigentlich?«

»Wenn dich jemand fragt, sagst du, sie ist ins Ausland gezogen, um zu studieren. Sie kommt nicht zurück. Sie ist glücklich an diesem Ort und wird dort bleiben«, fuhr er fort.

Elinas Mutter sah ihn an, ohne zu blinzeln. Sie sprach perfekt auf seine Hypnose an.

Ivol rieb sich die Hände, das lief wie am Schnürchen.

Vier Minuten später saß Majiha Tishim in ihrem Wohnzimmer und erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie auf ihre Tochter gewartet hatte.

 

 

***

 

 

Zadou konnte nicht leugnen, dass sie sich über die Aufmerksamkeit freute, aber sie war mehr als nur Reyns Begleiterin.

Viel mehr. In jeder wachen Sekunde dachte sie über Balyons Angebot nach. Er hatte ihr zuliebe sogar Apricozes Debüt nach hinten verlegt.

Der erste TV-Auftritt mit Gylill war nicht ausgestrahlt worden und die Promo-Bilder wurden nicht veröffentlicht. Es schien so, als wolle man ihre Spuren wegradieren. Ju-Ann hatte ihr davon erzählt. Sie drängte Zadou dazu, endlich den Vertrag zu unterschreiben. Ihr blieb noch eine knappe Woche, dann musste sie Balyon Ferrer ihre Entscheidung mitteilen.

Zadou wollte, sie wollte es so sehr. Aber sie musste wissen, was mit Gylill geschehen war. Die Antworten warteten bei MMP.

Also beschloss sie den Menschen zu besuchen, der Gylill am besten kannte. Haskar Wednan. Gylills Onkel und Musikproduzent.

Baylon hatte ihr erklärt, dass sie immer noch ein gerngesehener Gast bei MMP war. Auch Mädchen wie Sanri oder Faya würden eine zweite Chance bekommen. In der Band zu debütieren, war nur eine Art, den Gipfel des Ruhmes zu erklimmen. Balyon hatte Kontakte zu zahlreichen Fernsehsendern, Model- und Schauspielagenturen. Seine Schützlinge konnten also auf vielerlei Arten berühmt werden.

Wofür war Zadou eigentlich bekannt? Sie war im Moment nichts weiter als Reyn Yuhos Sidekick, eine Begleiterin der Hauptfigur.

Sie hatte sich geschworen alle Klatschblätter wegzuwerfen, aber wenn sie sich in ihren Mail-Account einloggte oder einfach im Internet surfte, stieß sie immer wieder auf Artikel über ihre Beziehung zu Reyn. Sie konnte nicht anders, als draufzuklicken.

Die Regenbogenpresse spekulierte, wie lange die Liaison der beiden noch Bestand haben würde. Zadou knirschte mit den Zähnen, als sie daran dachte, wie ein besonders dreister Journalist bereits davon sprach, dass Reyn wieder Single war. Sie konnte es ihm nicht verübeln, denn seit dem Videodreh machte er sich rar.

Auf den Bildern, die von ihm gemacht wurden, war er allein. Wenn jemand ihn nach ihr fragte, wich er gekonnt aus. Er verletzte sie damit, obwohl sie keinen Anspruch auf ihn erheben durfte. Schließlich hatten sie nie geklärt, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Zadou teilte sich Reyn mit der ganzen Welt.

Und es störte sie.

In Gedanken versunken, war sie bei den Tonstudios angekommen. Hinter den dicken Metalltüren saßen die Komponisten des Labels, Menschen, welche die Öffentlichkeit nicht kannte. Künstler, die keine Zuschauer brauchten.

Zadou klopfte an die erste Tür. Als ihr nach ein paar Minuten noch niemand geantwortet hatte, drückte sie die Klinke herunter. Der Raum war abgeschlossen. Sie versuchte es bei dem nächsten. Ein schlaksiger Mann mit braunen Locken und einer runden Brille öffnete ihr.

»Ja?« Aus den orangen Kopfhörern, die er auf seine Schultern gelegt hatte, drang eine interessante Melodie. Hinter ihm erblickte Zadou ein riesiges Pult mit Knöpfen und Reglern, daneben einen Computer mit einem riesigen Bildschirm. Er hatte ein Musikbearbeitungsprogramm geöffnet. Bunte Zickzacklinien zeigten die unterschiedlichen Spuren. Für wen schrieb er einen Song? Für Reyn, Silvery oder sogar Apricoze? In der Wand hinter dem Mischpult war ein Fenster eingelassen, das einen schwach beleuchteten Aufnahmeraum zeigte.

»Hallo. Ich bin Zadou«, stellte sie sich vor.

»Ich arbeite nicht mit Voluntees. Du kannst wiederkommen, wenn du den richtigen Vertrag unterschrieben hast.« Er klang genervt. Sie schien ihn mitten im kreativen Prozess unterbrochen zu haben.

»Ich bin kein Voluntee.« Oder war sie es noch? Was war ein Voluntee, der kurz vor dem Übergang in den Idolstatus gescheitert war? Egal, das war im Moment unwichtig. »Ich suche Haskar Wednan.«

»Er wird für dich auch keinen Song produzieren.« Der Lockenkopf blickte sehnsüchtig zu seinem Pult.

»Darum geht es nicht.« Langsam wurde sie wütend.

»Dann kannst du deine Frage auch mir stellen.«

»Es ist etwas Persönliches.«

Er zog eine Augenbraue hoch, sie konnte sich vorstellen, was in seinem Komponistenkopf vorging.

»Darum geht es nicht, es...«

»Er ist nicht da«, unterbrach er sie.

»Wo ist er?«

»Aus familiären Gründen hat er sich zurückgezogen und arbeitet im Moment von seinem Studio in Shihola aus.«

»Shihola? Diese Insel liegt vier Flugstunden von hier entfernt.« Zadou konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen.

»Tja, Kreative brauchen manchmal eben einen Tapetenwechsel.«

Zadous Gedanken ratterten.

Familiäre Gründe. Gylill war verschwunden. Wenn ihr Onkel ein Herz besaß, ließ ihn dieser Umstand nicht kalt.

»Sonst noch etwas?«, pflaumte der Lockenkopf sie an.

»Ich...« Sollte sie es wagen? »Ich frage mich nur, was mit seiner Nichte Gylill Wednan passiert ist. Sie ist eine gute Freundin von mir.« Sie ließ es drauf ankommen.

»Woher soll ich so etwas wissen?« Die Antwort des Produzenten kam viel zu schnell und strafte seine Worten Lügen. Sein genervter Ausdruck war wie weggewischt, beinahe lauernd musterte er sie. Er wusste etwas, er wollte es nur nicht sagen.

»Ich muss jetzt weitermachen, die Songs produzieren sich nicht von selbst.« Er nickte ihr kurz zu und zog die schwere Tür zu.

Großartig, das war gegen die Wand gelaufen. Sie hatte weder Haskar getroffen, noch Informationen bekommen. Das Verhalten des lockigen Typen gab ihr Rätsel auf. Warum hatte er sie mit diesem feindseligen Ausdruck angesehen?

»Zadou!« Ein hellblauer Haarschopf tauchte am Ende des Korridors auf. »Was tust du denn hier?«

»Denio.« Sie winkte ihrem Gesangslehrer zu, seine Haarfarben änderten sich schneller als die Jahreszeiten. Er kaute Kaugummi und summte ein Lied. »Hast du gerade einen Song aufgenommen?«

»Schön wär's.«

»Du wirst bestimmt eine große Solokünstlerin.«

»Irgendwann«, murmelte Zadou. »Vielleicht darf ich bei Reyns nächstem Lied eine Background-Stimme singen.«

»Wenn wir gerade von Reyn sprechen...« Denio kaute schneller.

»Ja?«, hakte Zadou nach, die Art wie er sie ansah, machte sie nervös.

»Ich mag dich sehr gerne, darum will ich dir einen Rat geben.« Er formte eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. »Sei vorsichtig.«

Zadou runzelte die Stirn. Ein Schar Vögel flatterte durch ihren Magen.

»Warum?« Wollte sie es wirklich wissen?

»Seine frühere Freundin ist verschwunden.«

Zwei Worte rissen Zadou den Boden unter den Füßen weg.

Verschwunden und Freundin.

Zadou hielt sich an der Wand fest. Dieser kurze Satz war wie ein Peitschenschlag gewesen.

»So wie Gylill?«, stammelte sie.

Denio wollte etwas sagen, überlegte es sich aber im nächsten Moment anders.

»Wo ist Gylill?«, stieß sie hervor. Sein Satz klang immer noch nach. Reyns frühere Freundin war verschwunden, was hatte das zu bedeuten? Stand ihr das gleiche bevor?

»Ich habe dir bereits zu viel gesagt.« Denio verschluckte beinahe seinen Kaugummi. Er sprach leise und blickte sich um. »Vergiss alles. Das war dumm von mir.«

»Du weißt etwas...«

»Das war nur dämliches Geschwätz.« Er verscheuchte eine Fliege und sein schlechtes Gewissen mit einer wegwerfenden Handbewegung. Einen Augenblick später setzte er ein breites Lächeln auf. »Ich muss zurück, meine Schüler warten. Wir sehen uns bald wieder. Ich nehme an, du wirst Balyons Angebot annehmen, oder?«

»Aber, was ist mit...«

»Du solltest dir diese einzigartige Möglichkeit nicht entgehen lassen, wer weiß, ob sie wiederkommt.« Er hauchte ihr einen Luftkuss auf die Wange und machte auf dem Absatz kehrt.

 

 

 

 

4 Jahre zuvor...

Sie kannte nur einen Menschen, dem sie diese Videos zeigen konnte. Er war eine Klasse über ihr und leitete die Computer-AG. Sie hatte herausgefunden, dass sich die Jungs, nur zum Schein als Arbeitsgemeinschaft ausgaben. So hatten sie mehrmals die Woche den Anspruch auf den Informatikraum der Schule. Was sich wirklich auf ihren Bildschirmen abspielte, war alles andere als harmlos. Sie nutzten die Computer nicht nur, um ins Internet zu gehen, Musik herunterzuladen oder Onlinespiele zu zocken. Einige von ihnen waren Hacker.

Die AG bestand fast nur aus Jungs. Bis vor kurzem hatte sie geglaubt, dass es kein weibliches Wesen in der Gruppe gab, bis sie die kurzhaarige, sehr burschikose Lita entdeckt hatte, die in ihrer Klassenstufe war. Unter den Jungs war sie kaum aufgefallen.

Es war 15.30 Uhr. Laut Plan traf sich die Computer-AG heute um diese Uhrzeit. Sie klopfte an die weiße Tür des Informatikraums. Ihre Kamera und ein Stick, auf den sie die Aufnahmen überspielt hatte, befanden sich in ihrem Rucksack. Wieso kam niemand, um zu öffnen? Sie legte ein Ohr an die Tür. Drinnen erfüllte ein elektrisches Surren die Luft. Wie konnten sie so lange vor ihren Bildschirmen sitzen, es war bestimmt nicht gut für die Augen. Vielleicht hörte sie niemand, weil jeder mit Kopfhörern vor seinem Computer hockte und die Außenwelt ausgeblendet hatte.

Sie drückte die Klinke herunter. Die Tür ging ganz leicht auf. Viel zu leicht, weil der Leiter der AG sie von innen aufgezogen hatte.

Romas Dovotny stellte sich ihr in den Weg. Er war ein hochgewachsener Nerd mit braunen Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Seine graubraunen Augen studierten sie wie eine Spielanleitung.

»Ich wollte...«

»Wir nehmen keine Mitglieder mehr auf«, unterbrach er sie.

»Warum nicht?« Sie hatte die Mitglieder der Computer-AG beobachtet und wusste, dass sie eine zurückgezogene Gemeinschaft waren, doch mit einer solchen Abweisung hatte sie nicht gerechnet.

»Wir brauchen fähige Leute« Romas ließ den Blick über ihre blauen Kreolenohrringe und ihre selbstgemachte Kette gleiten. Es hatte ihr viel Mühe gemacht, den Kupfer zu löten, um ihm diese Sternenform zu verpassen. Romas sah den Anhänger an, als hätte ihn ein Kleinkind gefertigt. »Und du machst den Anschein, als ob du aus der Modedesign-AG ausgebüchst bist. Oder haben sie dich für deinen eigenwilligen Geschmack herausgeworfen?« Er zog eine Augenbraue hoch. Tastenschlagen begleitete seine Worte. Die anderen nahmen keine Notiz von ihr. Der Informatikraum sollte gelüftet werden. Wie hielten sie nur die Wärme und diesen Geruch aus? Sie versuchte einen Blick in den Raum zu werfen, doch Romas stellte sich breitbeinig in den Türrahmen.

»Jeder Schüler hat das Recht, Mitglied einer Arbeitsgruppe zu werden, insofern sie ihre Mitgliederkapazität noch nicht überschritten hat«, zitierte sie die Richtlinien der Arbeitsgemeinschaften. Sie hatte sich für alle Eventualitäten vorbereitet.

»So?« Er kräuselte die schmalen Lippen. Sie konnte hören, wie der Prozessor in seinem Kopf arbeitete. »Ich nehme dich trotzdem nicht auf. «

»Ich kann gerne zum Direktor gehen. Er wird sich bestimmt dafür interessieren, wer die Drucker letzte Woche im ersten Stockwerk lahmgelegt hat. Sie suchen nach dem Übeltäter, der die Geschichtsklausur der Oberstufe sabotiert hat. Ohne Kopien musste Frau Kober die Klausur verschieben. Das wirft ihren Zeitplan völlig durcheinander.« Sie hatte diesen Trumpf nur im Notfall ausspielen wollen, aber anders kam sie nicht voran. Der Zufall war ihr zu Hilfe gekommen. Sie hatte Lita und einen Jungen in der Pause scherzen hören.

Die Drucker sind ein Kinderspiel gewesen. Das nächste Mal wird es lustiger.

Die Worte schlugen die Selbstsicherheit aus Romas Miene. Seine Brauen zogen sich zu einem Strich zusammen.

»Ich habe genug gehört«, grummelte er.

Sie streckte eine imaginäre Faust in die Luft. Sie hatte es geschafft.

»Ich muss dir etwas zeigen, es wird dich interessieren, denn...«

»Wenn du es schaffst, den Code zu lösen, dann überlege ich es mir«, unterbrach er sie.

»Code?«

»Ich schicke ihn an deine Email-Adresse.«

»Was für einen Code? Woher soll ich wissen, wie...«

»Das ist meine Bedingung. Wenn du etwas von mir willst, musst du den Code knacken.«

»Aber wie willst du mir diesen Code schicken? Du kennst meine Email-Adresse doch gar nicht.«

Er zog seine Augenbraue so hoch, dass sie beinahe seinen Haaransatz berührte. Von drinnen erklang Gelächter, als ob sie den Witz des Jahres gerissen hätte.

»Es ist ein Kinderspiel für mich sie herauszufinden. Du bist doch die berühmte Zilva, die Höhenflüge macht.« Er bedachte sie mit einem mitleidigen Blick.

»Ich bin nicht berühmt«, entgegnete sie brüsk. Nur weil sie ein Voluntee war, war sie noch lange keine Berühmtheit.

»Bekannt genug, um alles herauszufinden, was ich wissen muss.« Er zwinkerte ihr zu. »Komm wieder, wenn du mein Rätsel gelöst hast.« Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu.

 

 

***

 

 

Die Tanzfläche leerte sich langsam. Zadou gähnte immer häufiger, Benko torkelte über die Tanzfläche und Dati schlief mit dem Kopf auf dem Bartresen ein. Zadou bereute, dass sie sich erneut dazu überreden hatte lassen, ins Residance zu kommen. Das nächste Mal würde sie zu Hause bleiben. Aber Denios Worte ließen ihr einfach keine Ruhe. Sie hatte gehofft bei ein paar Drinks und lauter Musik abschalten zu können, doch es hatte nicht funktioniert, die ganze Zeit kreisten ihre Gedanken um Reyn.
Warum war seine Ex-Freundin verschwunden? War sie die nächste? Ein Gefühl sagte ihr, dass auch Gylills Verschwinden etwas damit zu tun hatte. MMP gab ihr viel zu viele Rätsel auf.

»Ich glaube, wir sollten gehen.« Nallit nahm Benko das halbvolle Glas aus der Hand und stellte es neben Datis Gesicht. Der Barkeeper räumte es sofort ab.

»Das kannst du doch nicht machen.« Benko sah seinem Getränk wehmütig hinterher.

»Doch, das ist das Beste, was sie tun konnte. Lasst uns gehen.« Zadou hakte sich bei ihrem Kumpel ein und schleifte ihn von der Bar fort.

Auf dem Weg zum Eingang mussten sie sich nicht durch zusammengedrängte Körper quetschen und waren überraschend schnell draußen. Ein kühler Wind wirbelte Zadous Haar auf, als sie auf die Straße traten. Intresar zeigte um diese Uhrzeit ein anderes Gesicht. Das Make-Up des Viertels blätterte ab und konnte seine Augenringe nicht länger kaschieren. Die Menschen, die noch unterwegs waren, trieben wie Bojen im Meer. Kaum einer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 11.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7488-6

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