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Memoire

Memoire

 

 

Die Lücken meiner Vergangenheit schließen sich langsam,
ich erinnere mich.

Die Moment sind rar gesät aber ich erkenne langsam den Faden, der uns verbindet.

Er ist hauchdünn.
Mit jedem Memoire ziehe ich dich näher zu mir heran.
Bald werden wir uns an alles erinnern, was wir vergessen haben.

 

 

 

1.

1.

 

 

Ich werde wiederkommen.

Ich werde dich wiedersehen.

Auch, wenn es unmöglich scheint.

Es wird ein Wir geben.

Irgendwann.

Wenn wir die Grenzen überwunden haben.

Wenn wir uns erinnern, können sie uns nichts mehr anhaben.

Irgendwann wird der Tag kommen.

 

Ciel schreckte aus dem Schlaf hoch.

Seit der Meister der Necramars sein Gedächtnis gelöscht hatte, geschahen seltsame Dinge.

Statt zu vergessen, erinnerte er sich. Seltsame Szenen tauchten in seinem Wachbewusstsein auf und machten ihn nachdenklich.

Auch seine Träume veränderten sich.

Er wurde zu einem Wanderer. Sein Astralkörper reiste durch surreale Landschaften. Immer auf der Suche nach etwas. Hinweisen, Anhaltspunkten...

Ciel fuhr sich durch sein rabenschwarzes Haar. Bisher hatte er seinen Träumen nicht viel Beachtung geschenkt. Doch die Botschaften verwirrten ihn. Er hinterfragte seine Existenz oft, doch bislang hatte er sein Leben hingenommen. Als Spion bei der Geheimorganisation Ranxour war sein Leben durchgeplant.

Er war ein Rädchen im großen System. Ein Schatten, der Aufträge erledigte, wenn man ihm Befehle erteilte.

Nicht mehr und nicht weniger.

Doch in der letzten Zeit verirrten sich immer mehr Zweifel in seinen Geist. Der Necramar hatte sein Gedächtnis nicht gelöscht.

Es war ihnen nicht mehr gelungen.

Er hatte eine Tür aufgestoßen. Eine Pforte, die lange verschlossen gewesen war.

 

 

Sireza liebte den Geruch frischer Minze. Der Tee auf ihrem Nachttisch war fast kalt aber der Duft der grüner Blätter erfüllte immer noch die Luft. Sie blätterte die 203. Seite des Romans um, als es an der Tür klopfte. Sie wusste, wer es war, bevor die Klinke heruntergedrückt wurde.

In dieser Lautstärke hämmerte nur Tjore Anson. Er und Narilenne waren im gleichen Jahrgang. Tjore war ihr bester Freund. Die beiden verband vor allem die Liebe zum Regelbrechen. Sireza schmunzelte, von ihrer Schwester hatte sie ihr Verantwortungsbewusstsein nicht gelernt. Manchmal fühlte sie sich wie die Reifere von ihnen beiden. Dabei war sie zwei Jahre jünger.

Tjores blonder Wuschelkopf tauchte im Türrahmen auf.

»Ist Nari bei dir?«

»Nein. Sie wollte vorhin in die Stadt, noch ein paar Besorgungen machen. Morgen fahren wir für eine Woche nach Hause.«

»Sie wollte doch bis zum Mittagessen wieder da sein.«

»Sie kommt bestimmt später. Manchmal braucht sie Zeit für sich. «

»Komischerweise antwortet sie auch nicht auf meine Nachrichten.« Tjore hielt sein Voune in die Höhe.

»Vielleicht hat sie ein Date«, meinte Sireza verschwörerisch.

»Mit wem?«

»Das weiß nur der Himmel.«

»Es wundert mich nicht, dich hier zu treffen.« Eine weitere Stimme tauchte im Hintergrund auf. Livero Yarsain stellte sich neben Tjore. Die beiden waren wie Feuer und Wasser. Während Tjore ein explosiver Hüne war, bestach Vero durch seine Eleganz und sein tadelloses Auftreten.

»Suchst du Nari?« Sireza zog eine Braue hoch. Vero strich eine karamellbraune Strähne aus der Stirn. Er wirkte sehr gelassen, doch unter dieser Fassade witterte sie Angst.

»Sie hat ein Date.« Tjore verschränkte die Arme vor der Brust. Veros Gesichtszüge entglitten. Seine grünen Augen verdunkelten sich.

Sireza kicherte. Sie hatte Vero selten so fassungslos gesehen.

»Das glaube ich nicht.« Er fing sich schnell wieder.

»Warum nicht? Wird Zeit. Sie ist schon 20.« Tjore lächelte anzüglich.

»Sie ist wahrscheinlich von den Menschenmassen überwältigt und ruht sich irgendwo aus, bis ihr einfällt, dass sie sich langsam auf den Rückweg machen sollte. Wir müssen morgen früh zum Flughafen. Also müsste sie bald hier aufkreuzen. Hoffentlich denkt sie an den Gutschein für unsere Tante.« Sireza fand es lustig, dass ihr Zimmer zu einem Treffpunkt der älteren Schüler geworden war.

Vor allem Veros Verhalten amüsierte sie. Sie beobachtete schon seit langem, wie er Narilenne ansah. Tjore war ein guter Freund, bei Vero sah es ganz anders aus.

Er war sehr gutaussehend. Viele Mädchen verrenkten sich den Hals nach ihm.

Doch das war ihm egal.

Wenn Narilenne es nur endlich selbst bemerkte. Sireza seufzte. Manchmal war ihre ältere Schwester schwer von Begriff. Sie analysierte die Stimmung der Menschen aber ihre eigenen Gefühle ignorierte sie hartnäckig.

»Was ist, kann ich euch einen Tee anbieten?« Sireza nippte an ihrer Tasse. »Hier drinnen ist es gemütlicher als auf dem Flur.«

Tjore ließ sich nicht zweimal bitten. Vero zögerte. Seine Miene versteinerte sich.

»Ich habe eine seltsame Vorahnung.«

Sireza verschluckte sich fast an ihrem Tee. Vero war ein begnadeter Esper. Er konnte die Gefühle der Menschen präzise erspüren und besaß die Gabe die Varianten der Zukunft zu sehen.

Wenn er so etwas sagte, schlugen in ihr die Alarmglocken.

 

 

 

Narilenne war ruhig. Still und bewegungslos wie ein Stein. Sie wusste absolut nicht, was sie tun sollte. Bei Estra wurden sie auf jede Situation vorbereitet.

Auf fast jede – korrigierte sie sich.

Niemand der Dozenten rechnete damit, dass die Cadets hundert Jahre zurück in die Vergangenheit versetzt wurden.

Missmutig blickte sie auf das Display ihres Vounes. Es war aus.

Gegenstände aus der Zukunft funktionierten hier wohl nicht. Wen sollte sie überhaupt anrufen? Sie war weit und breit die Einzige, die ein mobiles Telefon mit sich herumtrug.

»Imrid, das wird dir noch leid tun«, knurrte sie. Die Arcana hatte ihr im Büro der Medienfakultät aufgelauert. Sie hätte nicht gedacht, dass dieses blasse Mädchen über solche Kräfte verfügte.

Sie war bereits die zweite Arcana, die die Zeit nach Belieben formen konnte. Die erste Person war Ciel.

Er hatte ihr das Leben gerettet. Seine Motive waren ein Rätsel für sie. Er war so undurchschaubar wie die Nacht.

Ciel Noar.

Selbst in der Vergangenheit schweiften ihre Gedanken immer wieder zu dem rätselhaften Arcan.

Er hatte ihr Leben gerettet. In dem er eine neue Zeitlinie aktiviert hatte. Narilenne fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Hatte er ihr Schicksal damit nicht verändert? Sie wusste nicht viel über die Zeitbegabten. Doch eine derart große Veränderung blieb nicht ohne Spuren.

Narilenne schnaufte. Sie konnte hier nicht länger tatenlos herumstehen. Wenn es einen Weg gab in die Vergangenheit zu reisen, sollte es auch möglich sein in die Zukunft zurück zu kehren.

Sie musste nur noch herausfinden wie.

»Warum bist du nicht in der Nähstube?« Eine Stimme zerriss die Stille. Narilenne fuhr herum. Am Ende des Flures stand eine Frau in einem bodenlangen Kleid. Ihr ergrautes Haar war streng nach hinten frisiert. Kein Härchen löste sich aus dem Knoten.

Ihr ganzes Wesen strotzte vor Strenge. Die Augen waren so kalt wie ein gefrorener Teich, der Mund schmal und von vielen Falten durchzogen. Diese Frau wusste nicht, was Spaß bedeutete.

»Was hast du an, Mädchen?« Sie war für ihr Alter erstaunlich schnell. Sie durchquerte den Raum und zupfte an Narilennes Jacke.

»Warum trägst du die Kleidung eines Mannes und warum hat deine Hose so viele Löcher?«

»Das ist gerade in Mode«, Narilenne startete einen Erklärungsversuch. »So etwas trägt man, wenn man modern sein will.«

»Nicht in diesem Land. Zieh dich um und gehe zu den anderen.«

»Sie verwechseln mich. Ich komme nicht von hier. Ich bin aus Versehen hier gelandet und würde am liebsten sofort kehrt machen... «

»In unserem Internat herrscht Zucht und Ordnung. Wage es nicht, dich einer Autorität zu widersetzen. Gehe sofort und ziehe dich um. Diese Sachen sind eine Schande für unsere Eliteschule.« Mit jedem Wort wurde die Stimme der Ordnungshüterin lauter und schriller.

Noch seltsamer war, dass sie Narilenne für eine Schülerin des Internats hielt. Wie konnte das möglich sein?

»Sie verwechseln mich.«

»Unmöglich, Athrina. Ich kenne meine Schützlinge.«

»Athrina?«

»Hast du dich am Kopf gestoßen oder warum erzählst du mir heute so wundersame Dinge?«

»Sie wissen doch Misses...«

»Odams.« Die Frau musterte Narilenne wie eine Wahnsinnige.

»Richtig. Misses Odams, sie wissen doch, dass ich eine lebhafte Fantasie besitze.« Narilenne war eine miserable Schauspielerin aber seltsamerweise kauften ihr viele Leute ihre Maskeraden ab.

»Der Unterricht bei Daqari hat wirklich Früchte getragen«, murmelte sie.

»Du hast zu viele Märchen im Kopf, mein Kind. Nun mach dich rasch in die Nähstube auf. Bald wird das Abendessen serviert.«

Misses Odams schob sie die Treppe hinunter. Der Raum musste sich also im Erdgeschoss befinden.

»Vergiss dich nicht vorher umzuziehen«, zischte die alte Dame. Im Dämmerlicht der Kerzen konnte man sie leicht mit einer Hexe verwechseln.

Fragte sich nur wo sich die Schlafgemächer der Mädchen befanden.

Narilenne streifte durch die Gänge und war beeindruckt wie wenig sich dieses Gebäude über ein Jahrhundert verändert hatte.

Es gab hier keine Lampen, sondern Kandelaber ansonsten hatten die Architekten und Restaurateure stark darauf geachtet, das originale Interieur beizubehalten. Sie berührte die Marmorsäulen und betrachtete die Malereien an den Wänden. Vieles kam ihr sehr bekannt vor.

Die meisten Türen waren geschlossen. Sie hörte gedämpftes Murmeln, Streicher- und Klavierklänge. Hier lernten also Mädchen aus gutem Hause.

»Athrina.«

Narilenne zuckte zusammen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, aber die Leute hier schienen sie zu kennen.

»Ja?«

»Wo bleibst du so lange? Du wolltest dich doch nur kurz frisch machen.« Eine junge Frau mit langen dunkelroten Haaren lugte aus einem Zimmer.

»Es hat wohl etwas länger gedauert.« In Narilennes Kopf drehten sich Schrauben und Rädchen. Ihr Verstand suchte nach einer Erklärung.

Sie tauchte plötzlich in der Vergangenheit auf und kein Mensch fand es seltsam. Nein, sie wurde sogar für eine Person gehalten, die sie nicht war.

Diese Imrid.

Sie hatte Narilenne nicht nur in der Zeit zurückversetzt. Sie musste irgendwie dafür gesorgt haben, dass sie hier überwacht wurde.

Es war unmöglich, dass sie jemand hier kennen konnte.

»Ich glaube ich habe meinen Kopf gestoßen. Denn ich weiß nicht mehr wo mein Zimmer ist.«

»Bist du die Treppe heruntergestürzt?« Die Rothaarige musterte sie besorgt.

»Nein. Ich meine, ich weiß es nicht mehr. Misses Odams fand mich.«

»Deinem Kopf geht es wirklich nicht gut. Vielleicht sollten wir den Doktor rufen lassen. «

»Ganz so schlimm ist es nicht.«

»Komm ich begleite dich zu deinem Zimmer. Wo hast du eigentlich diese merkwürdige Kleidung her? Hat sie dir einr Stalljunge geschenkt?«

»Ich glaube schon.« Mit vagen Antworten manövrierte sich Narilenne durch das skurrile Fragenspiel.

Wie sollte sie dem Mädchen erklären, dass sie nicht Athrina war und überhaupt nicht in diese Zeit gehörte? Sie würde an ihrem Verstand zweifeln.

Narilenne fiel es selbst schon schwer, alles zu begreifen.

Zeitreisen funktionierten. Das wusste sie nun.

»Ich bin Lorel, falls du es vergessen hast.«

Narilenne sah das Mädchen genauer an. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht. Sommersprossen sprenkelten ihre spitze Nase.

»Lorel«, stellte sich das Mädchen vor.

 

 

 

»Hast du nicht immer eine seltsame Vorahnung?«, Tjore hob theatralisch die Hände in die Luft.

»Nein, nicht immer«, entgegnete Vero leise.

»Ist Narilenne etwas passiert?«, fragte Sireza.

»Vielleicht übertreibt ihr nur und sie kommt gleich zur Tür herein«, meinte Tjore.

»Du solltest nicht so vorlaut sein. Wer musste dich aus dem Casinoviertel holen?«, warf Sireza ein.

Der Blonde murmelte etwas unverständliches.

»Ich kann ihre Energiesignatur nicht mehr spüren. Normalerweise nehme ich sie wahr. Auch, wenn sie weit entfernt ist. Doch jetzt spüre ich nichts.«

»Vielleicht ist dein Sensor in die Ferien gefahren.« Tjore schien nicht wahrhaben zu wollen, dass Narilenne etwas zugestoßen sein könnte.

»Wohin war sie unterwegs?« Vero überhörte die Bemerkung.

»In die Innenstadt«, antwortete Sireza. »Sie wollte Geschenke für unserer Familie kaufen.«

»Hat sie noch mehr gesagt?«

»Nein.« Sireza grübelte. »Oder doch. Ich kenne meine Schwester. Sie war nicht nur zum Shopping unterwegs. Sie hatte noch irgendetwas anderes vor. Ich konnte es in ihrem Gesicht lesen. So sieht sie aus, wenn sie einen Auftrag erledigen muss. Da ist immer ein Glanz in ihren Augen und eine Anspannung.«

»Was für einen Auftrag?« Auch Tjore war nicht mehr nach Witzen zumute. Seine Kieferknochen traten hervor.

»In der letzten Zeit erzählt sie mir nicht mehr viel«, seufzte Sireza.

»Dann suchen wir sie einfach«, schlug Tjore vor. »Bist du dabei, Vero? Deine empathische Spürnase können wir gut gebrauchen. Vero?«

Vero war verschwunden.

»Er war schneller als du.« Sireza sah zur offenen Tür.

 

 

 

Es gab bestimmt einen Weg aus diesem Irrgarten. Diese Imrid war eine starke Arcana aber sie konnte Narilenne nicht für die Ewigkeit in eine andere Zeit sperren.

Auch ihre Macht hatte Grenzen. Narilenne musste diesem Taschenspielertrick nur auf den Grund gehen.

Ausnahmslos alle Menschen in diesem Internat nannten sie Athrina. Lorel erzählte ihr von gemeinsamen Spaziergängen, Kutschfahrten und Reisen über den Fluss, während sie sich zum Abendessen begaben.

Narilenne trug jetzt genauso ein hochgeschlossenes blaues Kleid wie die anderen. Darunter dicke Strumpfhose und knöchelhohe Stiefel.

»Wann sind wir das letzte Mal über den Fluss gefahren, Lorel? «, fragte sie.

»Das war erst vor einer Woche. Kurz bevor er zugefroren ist.«

»Warum erinnere ich mich nicht daran?«

»Weil du wohl auf den Kopf gefallen bist.«

»Hast du schon mal von Vounes gehört?«

»Nein. Was soll das sein?«

»Geräte, mit denen man telefonieren und ins Internet gehen kann.«

»Internet?« Lorel runzelte die Stirn.

»So etwas gibt es hier nicht.«

»Du redest im Fieberwahn. Willst du nicht lieber zum Doktor gehen.«

»Nein. Es würde mir nicht helfen.«

»Ich mache mir aber wirklich Sorgen um dich. «

»Du bist doch meine Freundin, nicht wahr?«, Narilenne fasste sie am Ellenbogen. Lorel nickte eifrig.

»Dann darfst du mit keinem Arzt reden. Mir geht es wirklich gut.« Narilenne hatte wenig Lust von einem Doktor aus dieser Zeit begutachtet zu werden. Womöglich steckte er sie noch ins Irrenhaus. Ihre jetzige Lage bereitete ihr genug Kopfzerbrechen.

»Gut, gut. Ich habe es verstanden.« Lorel schien sehr unentschlossen.

»Wo ist eure Bibliothek?«

»Du hast es wirklich vergessen.«

»Ich scherze nicht.«

»Ich zeige sie dir.« Lorel hakte sich bei ihr ein und zog sie mit sich davon.

Narilenne folgte einer Eingebung. Vielleicht konnten ihr die alten Schriften weiterhelfen. Irgendwo musste sie anfangen, wenn sie zurück in ihre Zeit reisen wollte.

Sie fragte sich, wie viel Zeit im Leben ihrer Freunde vergangen war. Ob ihnen schon aufgefallen war, dass sie fehlte?

 

 

 

Die Stadt war voll. Hunderte von Menschen bewegten sich durch die Straßen. Viele hatten es eilig. Vero las in ihren Energiefeldern. Ihre Gedanken waren auf das Kaufen von Geschenken und anderen Dingen gerichtet. Gedankenfetzen flatterten in seinen Geist.

Banalitäten. Alltagssorgen. Langeweile.

Er pustete sie weg, wie Staub und bahnte sich einen Weg durch die Nebel der Leute. Ihre Auren waren Parfüm- und Geruchswolken. Dabei wollte er die meisten Düfte gar nicht riechen.

Sie war nicht hier.

Vero kannte Narilennes Energiesignatur. Er wusste, wenn sie im Raum war. Es war nicht schwer, sie in der Menge zu erhaschen.

Doch hier steckte sie nicht.

Vero konzentrierte sich. Vielleicht konnte er Spuren entdecken. Dafür musste er mit seinen Sinnen die sicht- und spürbare Ebene verlassen. In den Astralwelten fand er vielleicht Hinweise, die mit bloßem Auge unsichtbar waren. Er ging auf ein Cafe zu, hinaus aus dem Menschenstrom. Eine Brise durchwühlte sein hellbraunes Haar.

Er lehnte sich leicht an die Wand und stöpselte sich die Kopfhörer seines Mp3-Players ins Ohr. Zwei Schulmädchen beobachteten ihn verstohlen. Er lächelte, woraufhin die beiden zu kichern anfingen.

Gute Musik half ihm oftmals, die Reizüberflutung einzudämmen.

Er schloss die Augen.

Die Menschen wurden auf dieser Ebene zu einem Fluss aus verschiedenen Lichtern. Es war faszinierend, was man alles herausfinden konnte, wenn man durch das Tor der physischen Welt hinein in die unsichtbaren Sphären trat. Vero hatte bereits früh gelernt seine empathischen Fähigkeiten zu verfeinern.

Dennoch gab er ihnen immer wieder einen neuen Feinschliff. Er fand, dass dieser Diamant noch nicht perfekt war. Immer wieder entdeckte er neue Dinge. Jede Erkundung dieser Welten brachte ihn ein Stück weiter.

Dieses Mal tat er es nicht zu seinem Vergnügen, sondern für sie.

Was hatte Narilenne wieder angestellt? Ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Das war typisch für sie. Wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte, war ihr egal was für eine Strafe auf sie wartete. Daqaris Zurechtweisungen hielten sie nicht davon ab, verbotene Dinge zu tun.

Doch dieses Mal war etwas anders als sonst.

Er spürte es, wie einen leisen Missklang in einer bekannten Sinfonie. Nur wenn man genau hinhörte, erkannte man die unterschwellige Dissonanz.

Für Außenstehende musste er wie ein gedankenverlorener junger Mann wirken, der sich in seine Musik vertieft hatte. Kaum jemand ahnte wo sich sein Geist gerade aufhielt. Er wusste es selbst nicht immer genau.

Seine Erkundungen führten ihn weit fort von der materiellen Ebene. Es gab so wenige Menschen, die ihn verstanden. Die meisten Leute, die er kennenlernte, waren völlig auf die greifbare Welt fokussiert.

Ihr Horizont hörte dort auf, wo sein Universum begann. Banale Alltagsdinge interessierten ihn nicht. Er sah sofort die Hintergründe und Zusammenhänge eines Problems. Oftmals fühlte er sich deswegen völlig fremd unter Menschen.

Witzig, dass Narilenne immer glaubte, er habe eine Menge Freundinnen. Es fiel ihm nicht schwer, jemanden kennenzulernen.

Doch die meisten Frauen waren nicht interessant genug. Er konnte nichts dafür, aber sobald er jemandem nahe kam, durchleuchtete er in den ersten Sekunden die gesamte Persönlichkeit und das Energiefeld seines Gegenübers. Die Auren vieler Menschen waren matt und voller grauer Töne. Die meisten befassten sich nicht mit der Erweiterung ihres Bewusstseins, sondern ließen sich von ihrer Außenwelt ablenken.

Oberflächliche Gespräche langweilten ihn. Er war ständig auf der Suche nach neuen Impulsen und brauchte jemanden, der ebenfalls einen wachen Geist hatte.

Niemand wollte die Wahrheit hören. Die Menschen trugen Masken und versuchten ihre verletzlichen Seiten zu verstecken.

Krakenartige rotorange Dunstschwaden griffen nach ihm.

Vero öffnete die Augen, um die Quelle ausfindig zu machen.

Eine blonde Frau sah ihn an. In wenigen Momenten wusste er viel mehr über sie, als viele ihrer Freunde.

Er konnte der Blondine, die ihn gerade mit koketten Blicken taxierte, schlecht erklären, dass er wusste, warum sie an Depressionen litt und dass es wenig Sinn machte ihren Freund mit ihm zu betrügen. All diese Informationen erhielt er in Sekundenbruchteilen.

Ihr sehnsüchtiger Wimpernaufschlag, der Griff in die Tasche wo ihr Antidepressivum lag. Ihre übertrieben hohen Absatzschuhe, die ihr Rückenprobleme bereiteten und die sie nur gekauft hatte, um von den Männern wahrgenommen zu werden, all das ließ ihn Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit ziehen.

Er zog sich zurück, denn er wollte ihr eine gewisse Privatsphäre lassen.

Die hübsche Frau fuhr sich unsicher durchs Haar, sie hatte seinen Blick bemerkt. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Fand er sie attraktiv oder war sie ihm völlig egal?

Hatte sie vielleicht ihren Mascara verschmiert?

Vielleicht stand er aufs andere Geschlecht. Ein Mann der so aussah, musste schwul sein.

Vero widerstand dem Impuls, die Augen zu verdrehen.

Wenn die Menschen sich einmal selbst denken hören würden.

Er stellte die Musik ein wenig lauter und senkte die Lider.

Bei den Mitgliedern von Estra und Ranxour sah es anders aus.

Sie tarnten sich, wurden zu Schatten, um besser arbeiten zu können.

Narilenne war nicht so leicht zu durchschauen. Sie versteckte ihre Emotionen und Gedanken gut hinter Schutzkreisen. Dennoch schwappten manche Gedanken und Gefühle über, wenn sie unachtsam war.

Sie war immer auf der Hut. Vor allem vor ihm. Dabei achtete er ihren Wunsch ihre Stimmungen für sich zu haben.

Außer am heutigen Tag.

Er musste in die Mentalwelt dieses Ortes tauchen und nach dem roten Pfaden ihrer Gedanken suchen. Sie musste hier vorbeigekommen sein. Wohin war sie unterwegs gewesen?

Da.

Er sah es.

Ein glänzender Fisch, der aus den grauen Fluten sprang. Dort am Ende der Straße. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte sich Vero durch diese Welten.

Dieses Mal waren es Flüsse und Ufer aus verschiedenen Grautönen. Das astrale Abbild der realen Welt.

Er musste dieses Glitzern zu fassen kriegen. Es tauchte wieder auf. Für wenige Sekunden. Vero musste nur herausfinden, in welche Richtung es sich bewegte.

Sekunden verstrichen. Vero wartete. Auf dieser Ebene verschwamm sein Zeitgefühl. Draußen konnten bereits viele Minuten vergangen sein.

Das verräterische Funkeln war weitergewandert.

Nordosten. Noch ein Stück weiter.

Sein physischer Körper meldete sich. Seine Fingerspitzen wurden taub vor Kälte.

Vero verließ diese Welt und kehrte wieder zurück. Das Rauschen verwandelte sich in Gesprächsfetzen und Autohupen. Der wässrig modrige Geruch wurde von Benzin, Essens- und Parfümnoten überdeckt.

Narilenne war zu ihrer Fakultät gegangen. 

2.

2.



Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolkendecke. Sofort wurde es wärmer. Ciel streifte die Handschuhe ab.

Normalerweise störte ihn die Sonne. Ihr gleißendes Licht stach ihm zu sehr in die Augen. Er arbeitete lieber in der Dunkelheit.

Doch nicht heute.

Die Strahlen hatten etwas besänftigendes an sich. Sie ließen den schwarzen Nebel in seinem Herzen verdunsten und sogen ihn aus seinen Lungen heraus.

Dieser Moment wurde jäh gestört. Das wohlige Gefühl verdampfte wie ein Wasserfleck in der Wüste und hinterließ einen schalen Nachgeschmack.

Eine dunkelgraue Wolke schob sich vor die Sonne.

Ciel drehte sich um.

Er wurde beschattet. An der Ecke der Straße stand ein Mann, der ihm unter den Passanten sofort auffiel. Er scrollte zu zielstrebig über den Bildschirm seines Vounes. Vielleicht wartete er auf neue Anweisungen von oben.

Wer hatte ihn beauftragt? Die Necramars oder jemand von anderes von Ranxour?

Also hatte ihn sein Gefühl nicht getäuscht. Beim letzten Ritual war seine Erinnerung nicht vollständig gelöscht worden. Er erinnerte sich noch an die Vorkommnisse im Blumenturm.

Er hatte eine neue Zeitlinie geschaffen, um Narilenne zu retten.

Er konnte sich selbst nicht erklären was in diesem Moment mit ihm geschehen war.

Er hatte einfach gehandelt. Ein Instinkt hatte die Führung übernommen. Es war der einzige Weg gewesen ohne Alternativen.

Selten hatte er so klar gesehen.

Der Rat der Necramars musste ihm seit diesen Tag für unzurechnungsfähig halten. Anders ließ sich der Verfolger nicht erklären.

Ciel hatte keine Lust, sich noch mehr bevormunden zu lassen. Als Arcan stand er ohnehin unter ständiger Beobachtung.

Er hatte gesehen wie Ranxour mit Leuten umging, die aus der Reihe tanzten. Wer austauschbar war, wurde eliminiert. Sein besonderes Händchen für die Zeit machte ihn zu einem Unikat.

Noch.

Irgendwann würde ein jüngerer Zeitmanipulator auftauchen, der ihn ersetzbar macht. Im Moment bestand diese Gefahr noch nicht. Genau das würde er nutzen, um den lästigen Verfolger abzuhängen.

Er trat in das Zeitkontinuum und dehnte es wie ein Kaugummi in die Länge. Für die Umstehenden lief die Zeit wie gewohnt weiter. Sie merkten nicht was der Mann mit dem wilden schwarzen Haar tat.

Nur er sah, wie die Farben der Umgebung langsam zu einem Sepia verblichen. Er schlüpfte durch das Raster, in dem jede Sekunde sich ausdehnte und legte hundert Meter in einem Atemzug zurück.

Nicht mehr.

Denn die Erschütterung würde seinem Verfolger auffallen. Als Ciel wieder aus der temporalen Ebene auftauchte, hatte er drei Straßen hinter sich gebracht. Er stand zwischen zwei Lkws abseits der großen Einkaufsstraße.

Der Fahrer des einen Wagens hatte nichts gemerkt. Ciel hatte gelernt die Menschen zu beobachten, bevor er in das reguläre Zeitsystem zurückkehrte. Es musste immer ein Moment sein, in dem die Leute unachtsam waren oder woanders hinschauten.

Eine Katze streifte um seine Beine und maunzte.

Tieren konnte er nichts vorspielen. Katzen konnten durch den Schleier des Sichtbaren blicken. Das kleine Tier sah an seiner Hüfte vorbei.

Sie erkannte das Wesen aus der Astralwelt. Seinen Symbionten, der seit einem Ritual an ihn gebunden war. Der Schattenpanther fing den Blick der Mieze auf und kommunizierte mit ihr.

Aus diesem Grund war er für Katzen immer sehr interessant. Sie suchten den Kontakt zu ihrem Artgenossen aus der Astralwelt.

»Verrate niemandem was du gesehen hast.« Ciel streichelte das anschmiegsame Tier.

»Seit wann redest du mit Katzen?«

»Himevi.« Ciel sah überrascht auf. Himevi Nerstan war eine Arcana aus seinem Jahrgang. Sie war eine der wenigen, die außer ihm die Zeit aus ihrem Gefüge bringen konnte. Sie manipulierte das temporäre Gewebe ganz anders als er. Himevi und Ciel beeinflussten verschiedene Spektren desselben Farbtons.

»Was tust du hier?« Sie zupfte an den Spitzen ihres kurzen sandbraunen Zopfes.

»Dingen auf den Grund gehen.« Ciel hatte keine Lust auf lange Erklärungen. Er mochte Himevi, aber sie war für seinen Geschmack zu ehrgeizig. Jede Information, die sie von ihm bekam, legte sie auf die Goldwaage. Wenn sie etwas weiterbrachte, kannte sie keinen Skrupel. Auf dem steinigen Weg an die Spitze, nutzte sie alles, was sie in die Finger kriegen konnte.

»So, so.« Die zierliche junge Frau schien mit seiner Antwort nicht zufrieden. »Kann ich dir dabei helfen?«

Ciel schüttelte den Kopf.

»Aus dir wird man einfach nicht schlau.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre grauen Augen musterten ihn. Sie spielte damit, dass man sie leicht unterschätzte. Den meisten Leuten fiel die unscheinbare, kleine Schülerin nicht auf. Dabei war sie eines der vielversprechendsten Talente in der Akademie. Sie nahm die Rolle des schüchternen Mädchens an, damit der Überraschungseffekt größer war.

»Was tust du eigentlich hier?« Ciel hatte sie schon lange durchschaut. Sie gierte nach jedem Wort wie eine hungrige Möwe nach einem Stück Brot. Am besten fütterte man sie mit so wenig Information wie möglich.

»Ich war in der Uni.«

»In der Vorlesungsfreien Zeit, schon klar.«

»Ich hatte etwas zu erledigen.« Sie zwinkerte.

»Ich will gar nicht wissen was.« Ciel sah sie scharf an.

»Ich würde es dir sowieso nicht verraten.«

»Na dann mach weiter so.« Ciel ließ sie stehen.

»Halt.« Sie zupfte an seinem Jackenärmel.

»Ja?«

»Ich habe an der Uhr gedreht.«

Ciel runzelte die Stirn. Himevi sprach nie von Zeitmanipulation. Sie drehte an Uhrzeigern. Etwas an der Art und Weise ihrer Betonung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

»Du solltest es auch tun. Es ist ein Heidenspaß.«

»Was hast du angestellt?« Ciels Geduldsfaden wurde immer dünner. Manchmal verwandelte sich Himevi in eine nervenzerrende kleine Schwester. Ihr Talent verband sie auf eine untrennbare Art und Weise. In den letzten Jahren wurden sie gemeinsam unterrichtet.

Aus diesem Grund hatte Ciel so ein zwiespältiges Verhältnis zu ihr. Einerseits misstraute er ihr, doch auf der anderen Seite gab es kaum jemanden, der ihn auf diese Weise verstand.

Sie waren nicht verwandt aber so musste es sich anfühlen Geschwister zu haben.

»Nur ein wenig herumexperimentiert. Da solltest du auch tun.« Sie pikste ihn in die Seite.

»Ich habe schon genug Löcher in meinen Erinnerungen.«

»Weil du einfach zu unvorsichtig bist. Mir würde so etwas nie passieren.«

»Wenn du nichts zu sagen hast, solltest du mich nicht nerven.« Ciel wischte sich eine widerspenstige Strähne aus der Stirn.

»Du regst dich immer sofort auf. Deswegen kriegen sie dich. Es ist dein emotionales Gehabe. Du brennst für jeden wie ein Leuchtfeuer.«

Ciel seufzte. Himevi war schlau. Im Gegensatz zu ihm führte sie die Necramars an der Nase herum. Bisher war sie für keines ihrer Zeitexperimente bestraft worden.

»Vielleicht solltest du mir wirklich Nachhilfe geben.«

»Dann bringt mich Lanissa mit Sicherheit um. Jede Frau, die dich anrührt ist zu Tode verdammt.«

»Du übertreibst.« Der Gedanke an Lanissa prickelte auf seiner Haut. Sie fragte sich bestimmt, wann er zurückkommen würde. Ihr war nicht entgangen, dass die Necramar ihn geholt hatten. Ihr schwerer Parfümduft umfing ihn selbst aus der Entfernung wie ein Seidenschal und zog ihn davon. Er musste sie sehen.

»Sie wartet auf mich.«

Himevi nickte.

»Genauso wie die anderen.«

»Sie erinnern sich nicht an alles.«

»Nein. Nur an die Dinge, an die sie sie sich erinnern sollen.«

»Du bist die Einzige, die durch die Lücken ihres Kontrollnetzes dringen kann.«

»Ich weiß«, verkündete Himevi mit stolzgeschwellter Brust.

»Irgendwann verrätst du mir dein Geheimnis.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sollte nicht jede Frau geheimnisvoll bleiben? Sonst wird es schnell langweilig.« Ihre grauen Augen funkelten.

»Machs gut.« Ciel tätschelte ihren Kopf.

Er mochte sie trotz ihres verbissenen Ehrgeizes. Trotz der Gefahr verraten zu werden. Dachte nicht jeder von ihnen an seinen eigenen Vorteil?

»Willst du gar nicht wissen, wie ich an der Uhr gedreht habe?«

Ihre Worte gingen im Motorenlärm des startenden Lastwagens beinahe unter. Ciel betrachtete den Schriftzug auf der Seite des Wagens: Freunde helfen ihnen, wenn sie es nur zulassen. Welch Ironie. Konnte man Himevi überhaupt als richtige Freundin bezeichnen?

»Also?« Ciel drehte sich zähneknirschend zu ihr um. Sie wusste seine Neugier zu wecken.

»Ich habe mich selbst übertroffen.« Himevi blickte ihn triumphierend an.

Ciel zog die Augenbrauen hoch, ohne etwas zu erwidern. Wie erwartet sprach die Arcana von selbst weiter.

»Ich habe ein großes Zeittor geschaffen.«

»Wie viele Jahre? In die Zukunft oder Vergangenheit?« Ciel wusste, dass Himevi auf der Zeitlinie Jahre vor oder zurückspringen konnte. Er selbst hatte versucht es zu imitieren, doch er konnte nie weiter als einige Tage springen.

Sein Maximum lag bei fünf Tagen. Er hatte es einmal geschafft und wäre im Kontinuum beinahe in Stücke gerissen worden. Seit diesem Moment hielt er Abstand von weiteren Experimenten dieser Art.

Im Gegensatz dazu hatte sie Schwierigkeiten eine andere Zeitlinie zu greifen, geschweige sich dahin zu projizieren. Manchmal tauschten sie sich über ihre Erfahrungen aus, für Himevi war es mehr als bloße Information. Ciel hatte oft den Eindruck, sie würde seine Worte wie ein lebenserhaltendes Serum herunterschlucken. Sie hoffte auch seine Fähigkeiten zu erlernen. Ihre eisenharter Ehrgeiz war bewundernswert und erschreckend zugleich.

»100 Jahre. Exakt.«

Ciel fiel die Kinnlade herunter.

»Dein Rekord lag bei 60 Jahren.«

»Es gibt also noch Dinge, die dich beeindrucken können«, lachte Himevi.

»Wie lange warst du in der Vergangenheit?«

»Nur ganz kurz. Ein paar Minuten.«

Ciel runzelte die Stirn. »Du hast einen neuen Meilenstein erreicht und bist sofort wieder hergekommen?«

»Schau nicht so entsetzt.« Himevi schubste ihn. Für ihr Fliegengewicht war sie außergewöhnlich stark. »Ich habe jemanden begleitet.«

Ciel hielt ihre Hand fest. »Wen?«

»Unwichtig.«

»Wenn die Person unwichtig wäre, hättest du nicht so einen Aufwand betrieben.«

»Ist doch egal.«

»Das kannst du nicht tun.« Ciel keuchte. Eine Schmerzwelle erfasste sein Herz. Er fühlte sich an, als ob spitze Nägel in seine Brust gestoßen wurden.

»Du bist so ein Spießer. Du solltest nicht Noar sondern Langweiler mit Nachnamen heißen. Ciel Langweiler.«

»Dann musst du Himevi Doppelmoral heißen.« Ciel wich zurück. Immer mehr eisige Spitzen drangen in sein Herz.

»Was ist los mit dir?« Sie merkte, dass etwas nicht stimmte.

»Nichts«, knurrte er ungehalten. Sofort lenkte er seinen Fokus auf die Quelle des peinigenden Gefühls.

War es ein astraler Angriff?

»Du beißt dir eher die Zunge ab, bevor du zugibst zu leiden.«

»Es ist nichts.« Auf einmal ebbte der Schmerz ab.

»Nichts, wie immer«, Himevi seufzte. Sie gab den Versuch auf ihn auszufragen. Wenn er nichts sagen wollte, wurde er stumm wie ein Stein. Ein Onyx, der in der Mittagssonne glänzte.




Der Campus der Medienfakultät machte einen idyllischen Eindruck.

Immergrüne Büsche säumten Springbrunnen, die in dieser Jahreszeit trocken gelegt waren. Die Uhr im Zentrum des Platzes überwachte die Universität auch in der Ferienzeit. Ohne Horden von Studenten wurde dieser Ort zur lebendigen Postkarte einer vergangenen Zeit. Die Energien früherer Jahrhunderte flossen durch das Gestein der Gebäude.

Plätze, die Hunderte von Jahren erlebt hatten, waren für Vero spannender als jedes Geschichtsbuch. Ohne die Energien anderer Menschen, konnte er sich viel leichter auf diesen Ort einstimmen.

Wenn er wollte, konnte er in die Bilderflut tauchen und dort wie auf dem Grund eines See verweilen, ohne Luft zu holen. Aber jetzt waren andere Dinge wichtiger für Vero.

Er suchte nach ihrer Spur. Es war nicht schwer den flüchtigen Eindruck einzufangen und zu verfolgen. Da sich hier kaum Menschen aufhielten, sah er den Abglanz ihres Energiefeldes ohne sich lange fokussieren zu müssen.

Narilenne hatte die Fakultät betreten. Auf den Fluren traf Vero zwei Professoren und einige Studenten. Sie allen nahmen ihn nur am Rande wahr. Im Kopf waren sie bereits in den Ferien. Nur noch mechanisch erledigten sie die letzten Dinge vor ihrem wohlverdienten Urlaub.

Eine Putzfrau reinigte die Fenster. Das wischende Geräusch und das Ticken der Wanduhr begleiteten Vero die Treppe hoch.

Das durchsichtige Band wurde klarer. Es hatte stärkere Konturen. Also musste Narilenne vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen sein. Seine Füße führten ihn zu einer bestimmten Tür.

Auf einmal zerfaserte das Band. Die Fäden lösten sich auf. Vero stutze. So etwas war nicht normal. Das Band verschwand völlig.

Als wenn es nie dagewesen wäre.




Drei Tage war Narilenne schon Athrina. Die Internatsschülerin.

So langsam lebte sie sich ein. Wie eine Schauspielerin, die vergessen hatte, ihr Kostüm abzulegen.

Lorel zeigte und erklärte ihr alles. Sie hatte viel Geduld und freute sich über jeden Fortschritt. Für Narilenne war es nach wie vor unbegreiflich.

Sie war hier irgendwo in der Vergangenheit und verkörperte eine völlig fremde Identität. Für die anderen Leute war sie Athrina, die an Gedächtnisverlust litt. Selbst ihr Voune schien niemanden mehr zu interessieren. Anfangs hatten ihre Mitschülerin neugierig zu ihr herübergesehen, wenn sie im Unterricht das schmale Gerät auf den Tisch gelegt hatte.

Immer wieder strich Narilenne über die glatte Oberfläche, immer in der Hoffnung es möge reagieren.

Wie sollte sie Kontakt zu Estra aufnehmen? Niemand würde sie hier suchen.

Zeitbegabte waren eine Seltenheit. Die Zeitmanipulatoren unter den Sagents waren an einer Hand abzuzählen. Wann würden sie nach ihr suchen? Sie mussten erst in Erfahrung bringen, wo Narilenne sich aufhielt.

Wie viele Tage waren in ihrer Zeit vergangen? Auch drei oder vielleicht schon drei Wochen?

Sie verbrachte viel Zeit in der Bibliothek und wälzte Bücher. Immer auf der Suche nach einem Hinweis, der sie in die Zukunft bringen konnte. Bisher hatte sie nichts brauchbares gefunden.

Mit jeder durchblätterten Seite wurde sie resignierter. Niemand schrieb die Geheimnisse von Zeitreisen auf. Die Informationen waren zu brisant.

Seufzend knallte Narilenne ein dickes Buch zu. Sofort schnalzte jemand mit der Zunge. Es war die Bibliothekarin, die Narilenne mit Argwohn betrachtete. Sie kaufte Ahtrina ihr neu gewonnenes Interesse an Geschichtsbüchern nicht ab.

»Gehe sorgfältig mit unseren Antiquarien um, sonst

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 05.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5485-7

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