Cover

Leseprobe

 

 

Ann-Kathrin Wasle

 

Bittersüßer Nachtschatten

 

 

 

 

 

Ann-Kathrin@TintenSchwan.de

www.TintenSchwan.de

 

 

 

 

 

TintenSchwan

 

Buchbeschreibung:

»Was würdest du vom Teufel verlangen, wenn er dir einen Wunsch gewährt?«

In einer vergessenen Basilika unter der Prager Altstadt stellt sich Rita diese Frage. Und sie muss nicht lange über eine Antwort nachdenken: Wie einfach könnte doch ihr Leben sein, wäre sie nur ein wenig selbstsicherer, ein wenig durchsetzungsfähiger im Umgang mit den Männern. Keine dummen Anmachen mehr, keine aufdringlichen Kunden im Job, kein Gepfeife auf der Straße – es klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein.

Und so spricht Rita ihre Bitte aus. Was sollte so ein unschuldiger Wunsch denn schon für Folgen nach sich ziehen?

 

 

Über die Autorin:

Ann-Kathrin Wasle wurde 1987 geboren und wuchs in der Gegend um Heidelberg auf. Noch während ihres Mathematikstudiums begann sie, historische Romane zu schreiben – eine Aufgabe, der sie sich bald gänzlich widmete.

Nachdem sie ihre ersten Bücher bei verschiedenen Verlagen veröffentlicht hat, publiziert sie ihre neue Reihe Nachtschattengewächse nun im Eigenverlag unter dem Label TintenSchwan. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Mann, ihrem Sohn und zwei Freundinnen in einer quirligen Hausgemeinschaft am Rand der Karlsruher Rheinauen.

 

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© 2021 Ann-Kathrin Wasle

Hirtenweg 22

76287 Rheinstetten

 

Lektorat: Martha Wilhelm

 

Coverdesign: Vanessa Hahn

 

ISBN: 978-3-949198-03-8

 

1. Auflage, Oktober 2021

 

 

 

 

 

 

»Jetzt will ich, dass wir abrechnen«

– Claire Zachanassian

 

Der Besuch der alten Dame

Friedrich Dürrenmatt

1

Glaub mir, du kennst die Situation.

Sagen wir, du bist ein Mann, ein ganz normaler Typ, und möchtest am Samstagabend etwas erleben. Du hast eine harte Woche hinter dir – na ja, nicht richtig hart, aber doch anstrengend genug. Dein Chef hat dich angemault, nur weil diese blöde Tusse aus der Buchhaltung keinen Spaß versteht. Ist doch nicht deine Schuld, dass … Ach, egal. Auf jeden Fall willst du nun in die Stadt gehen, etwas abhängen, vielleicht noch in eine vernünftige Kneipe auf ein Bier. Ein Mädel aufreißen wäre nett, vielleicht ein kleines Abenteuer … Das wäre jetzt genau das Richtige, um abzuschalten und die beschissene Woche zu vergessen.

Zum Glück ist in der Stadt heute etwas los. Die Osterferien haben angefangen und vor zwei Tagen hat sich das Wetter gebessert, sodass nun Gott und die Welt nach Prag strömen, um das Wochenende abzufeiern. Vor dem ersten Laden stehen so viele Leute, dass du es gar nicht erst versuchst. Aber im Roten Hut kennst du den Türsteher und als du ihm einen Schein zusteckst, schiebt er dich unauffällig an der Schlange vorbei.

Aufatmend setzt du dich im Untergeschoss an den Tresen, ein Bier in der Hand, und schaust zu den Tanzenden hinüber. Die meisten Mädchen sind mit ihren eigenen Typen beschäftigt – nein, es hat keinen Zweck, sich an denen die Finger zu verbrennen. Da drüben tanzen ein paar junge Dinger in einer Traube beisammen. Schon besser, aber für den Anfang etwas stressig … Später vielleicht. An der Wand lehnt ein dunkelhaariges Weibsbild, Typ Femme fatale, doch die sieht aus, als würde sie jeden Mann auffressen, der sich ihr nähert.

Aber dort vorne, wenige Schritte entfernt, bewegt sich eine niedliche Blondine selbstvergessen zur Musik. Sie ist jung, aber nicht zu jung, ihr kurzes Kleidchen sitzt locker und sie ist hübsch genug, dass du es mal versuchen könntest. Also lehnst du dich zurück und betrachtest die Kleine – wie sie sich zum Rhythmus der Musik bewegt, wie sie die langen Haare schwingen lässt, mit verträumtem Gesicht und hüpfenden Brüsten. Du schaust ihr zu und wartest ab, bis sie zwei Lieder später schwer atmend zur Bar herüberkommt, um sie dann ganz beiläufig von der Seite anzuquatschen.

»Alle Achtung; so wie du tanzt, weiß man gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll.« Der Satz kommt gerade richtig heraus, so als wäre er dir gerade erst eingefallen.

Die Kleine sieht sich zu dir um, unsicher, ob du wirklich sie gemeint hast. Als eure Blicke sich kreuzen, lächelt sie kurz und schaut wieder zur Bar. »Ein großes Glas Wasser, bitte.«

»Ach was, du, ich lade dich ein.« Souverän winkst du den Barkeeper herüber. »Ein Hugo für die junge Dame!«

»Nein, bitte, ich …« Sie sieht, wie der Barkeeper schon nach den Zutaten greift, und verzieht kurz das Gesicht, dann nickt sie dir zu. »Vielen Dank.«

»Ist doch kein Ding. Komm, setz dich zu mir. Also, wenn du keine Angst vor mir hast.« Du lachst, auf eine nette, unverfängliche Art. Es ist dein Lieblingstrick; wenn eine Anmache am Ende doch zu dreist ist, kannst du den Spruch immer noch als Witz abtun.

Die Kleine verzieht die Lippen. »Ich bin mit einem Begleiter hier.« Sie blickt sich suchend um, aber da reicht ihr der Barkeeper schon den Hugo. Jetzt bleibt ihr nichts übrig, als das übervolle Glas in der Hand zu balancieren und vorsichtig daran zu nippen.

»Na, schmeckt’s?« Du schenkst ihr ein freundliches Lächeln. Zeit, zum Angriff überzugehen. »Ich habe dich eben tanzen sehen – das war echt der Hammer. Wie sieht’s aus: Wollen wir gleich mal zusammen rübergehen?«

Das Mädchen lacht verlegen und nimmt einen großen Schluck. Du bemerkst nicht, wie sich ihre Finger um das Glas verkrampfen, wie sie deinem Blick auszuweichen sucht … nein, deine Aufmerksamkeit gilt ganz ihrem Ausschnitt und dem dünnen Kleid, das ihre Rundungen wunderbar betont. Der DJ legt einen neuen Song auf, irgendwas Langsam-Schnulziges – perfekt.

Da schiebt sich ein schlaksiger Typ mit Brille herüber und spricht die Kleine erleichtert an. »Hey, Rita, ich hab dich gesucht.«

Ihr Begleiter – verflixt, den gibt es also wirklich. Kurz überlegst du, einen Rückzieher zu machen, aber nein … Der andere Kerl traut sich kaum, das Mädchen zu berühren, geschweige denn, sie von dir fortzuziehen. Also richtest du dich auf, legst deinen Arm auf den Tresen und streifst dabei wie von ungefähr ihre Finger, während du den Typ ansiehst. »Hey. Deine Freundin und ich waren gerade im Gespräch.«

Selbst in der düsteren Barbeleuchtung kannst du sehen, wie der schmächtige Kerl rosa anläuft. »Oh, nein, wir sind nicht zusammen …«

»Na dann, umso besser.« Mit einem Lächeln drehst du dich wieder zu ihr um. »Wie wär’s, Lust zu tanzen?«

Da ist es wieder, ihr unsicheres Lachen: Ganz offensichtlich weiß sie nicht, wie sie auf die Frage reagieren soll. Wahrscheinlich wartet sie nur darauf, dass du endlich den ersten Schritt tust und sie auf die Tanzfläche ziehst. Du streckst die Hand aus, um ihre Finger zu ergreifen – da spürst du, wie dich jemand von hinten an der Schulter packt und herumdreht.

»Hey, Arschloch.«

Es ist die Femme fatale von vorhin, mit ihrer hochgeschlossenen Bluse und dem dunklen Lippenstift. Was zum Teufel will die nun von dir?

Das Weibsbild – das bin übrigens ich – hält dich an der Schulter gepackt und sieht dich kalt an. »Warum lässt du deine Pfoten nicht einfach bei dir?«

»Hackt es bei dir oder was?« Wütend reißt du dich los. »Was geht es dich an, was ich treibe? Ich hab nur Spaß gemacht.« Aus dem Augenwinkel siehst du, wie sich das Blondchen mit ihrem Begleiter im Schlepptau aus dem Staub macht.

Die elende Zicke lächelt und kommt noch einen Schritt auf dich zu, sodass sie dich fast berührt. »Spaß gemacht, am Arsch. Weißt du, was mir Spaß macht? Typen wie dich bei den unverschämten Eiern zu packen und so fest zuzudrücken, dass du die nächsten Monate gar keiner Frau mehr hinterhersteigen willst.«

Sprachlos starrst du mich an, mit offenem Mund und leerem Blick. Du weißt nicht, was dich getroffen hat.

Seien wir doch ehrlich: Das wisst ihr nie. Wenn eine von uns sich mal wehrt, kommt es euch immer so vor, als sei euch der Himmel auf den Kopf gefallen.

Was denn – du bist gar kein aufdringliches Arschloch, das sich an nichtsahnende Frauen heranmacht? Wenn du einen Kerl dabei beobachtest, wie er sich derart zum Affen macht, dann schüttelst du nur den Kopf – über die Dreistigkeit des anderen und ein wenig auch darüber, dass diese Masche bei so vielen Frauen funktioniert? Vielleicht stehst du auch schon in den Startlöchern, um einzugreifen und dich als strahlenden Helden zu präsentieren … Na ja, wenn es denn etwas einzugreifen gibt. Hier ist ja noch gar nichts Schlimmes passiert und schließlich hilft es niemandem, wenn du wegen so einer Kleinigkeit einen Aufstand machst.

Nein, niemand will einen Aufstand. Nicht der Barkeeper, der sich während der ganzen Sache um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, nicht das Arschloch, dem ich gerade die Leviten gelesen habe, und das nun mit eingezogenem Schwanz das Weite sucht. Auch die junge Frau, die sich längst mit ihrem Begleiter verkrümelt hat, hat keine Lust, wegen der Sache einen Aufstand zu machen. Sie wohl am allerwenigsten – dabei wäre ein wenig Aufstand vielleicht genau das Richtige für sie.

Am Ende bleibt es wieder an mir hängen, mich hinzustellen und den Status quo etwas aufzumischen. Keine Sorge, ich bin es gewohnt.

Wer einen Aufstand will, muss bereit sein, den ersten Stein zu werfen.

2

Rita ist nach drüben zur Treppe geflüchtet, fort aus dem Sichtbereich der Bar. Immer noch spürt sie die Blicke des Mannes auf sich, wie ein Jucken auf Armen und Wangen. Und gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie das Getränk einfach stehenlassen hat – ob sie den Kerl nun mochte oder nicht, sie hasst es, unhöflich zu sein.

»Hey, ist alles in Ordnung?«

Michal – den hat sie fast vergessen. Sie bemüht sich, ein Lächeln aufzusetzen, und dreht sich zu dem jungen Mann um. »Natürlich, alles okay.«

Ihr Begleiter wirkt erleichtert. »Gut. Ich dachte schon … Also, ich wusste nicht, ob ich …« Er hebt die Hand, will sie ihr vielleicht tröstend auf die Schulter legen, aber ihre abweisende Haltung hält ihn davon ab. »Kann ich dir irgendwas Gutes tun?«

»Nein danke.« Rita lächelt knapp. Mit einem Mal will sie nur noch allein sein, weit weg von irgendwelchen Männern, die ihr an die Wäsche wollen. Das Date mit Michal war ein Fehler, sie hat es gleich gewusst.

»Wollen wir vielleicht hinausgehen?«, fragt er nun ungeschickt. Er bemüht sich um ein Lächeln. »Ich wollte dir ja noch die Fledermäuse zeigen, unten an der Moldau.«

Warum muss er es ihr so schwer machen? Seufzend schüttelt sie den Kopf. »Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt lieber allein sein. Es war ein schöner Abend …«

Seine Miene verzieht sich enttäuscht. »Oh … Ich verstehe. Soll ich dich dann nach Hause fahren?« Er öffnet den Mund zu einem Grinsen. »Das erinnert mich an einen Witz: Zwei Flöhe kommen von einer Party und wollen nach Hause gehen. Draußen regnet es aber in Strömen. Da …« Ein Blick auf Rita lässt ihn innehalten. Offenbar hat sie ihre Ungeduld allzu deutlich gezeigt. Lahm bringt Michal den Satz zu Ende: »Da fragt der eine den anderen: ›Hüpfen wir zu Fuß oder nehmen wir uns einen Hund?‹«

Rita lächelt gequält. »Sehr lustig. Vielen Dank für das Angebot, aber ich werde noch etwas hierbleiben.« Bei seinem betroffenen Gesichtsausdruck ringt sie sich ein »Vielleicht ein andermal« ab.

»Ja, vielleicht.« Mit einem unglücklichen Lächeln rückt Michal sich die Brille zurecht. »Ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende.« Er nickt ihr auf seine seltsam förmliche Art zu, dann dreht er sich um und stapft die Treppe hinauf, nach oben ins Erdgeschoss.

Rita sieht ihm nach, bis er auf dem Treppenabsatz verschwunden ist. Dann lehnt sie sich an die Wand und lässt den Kopf gegen die kalten Steine sinken. Was für ein komischer Typ … und was für ein mieser Witz! Sie nimmt einen tiefen Atemzug, wie um sich zu stählen – dabei könnte sie nicht einmal sagen, was genau sie nun so fertiggemacht hat.

Endlich öffnet sie die Augen wieder und geht zurück zur Tanzfläche. Vielleicht wenn sie es noch einmal versuchen würde … in den Flow kommen …

Als sie das beleuchtete Gewölbe erneut betritt, trifft die Musik sie wie eine Welle und der tiefe Bass wummert in ihrem Innern wie ein zweiter Herzschlag. Kurz fürchtet sie, dass der Kerl an der Bar ihr weiter auflauern könnte, doch dann vertreibt sie den Gedanken; irgendetwas sagt ihr, dass der für heute genug hat. Also wandert Rita an den Rand der Tanzfläche. Sie braucht etwas Zeit, sich zu akklimatisieren – sie muss die Musik fühlen, auf den richtigen Moment, den richtigen Rhythmus warten.

Es ist eine Schnapsidee gewesen, mit Michal ausgerechnet hierher zu kommen. Wenn es eine Sache gibt, die Rita heilig ist, dann ist es das: allein in der Menge zu versinken, im Rhythmus der Musik, den Bass in ihren Gliedern zu spüren und zu tanzen, als wäre sie der einzige Mensch auf Erden. Die Augen halb geschlossen, bewegt sich Rita zum Takt der Musik, sie lässt sich von den dumpfen Schlägen durchdringen, bis ihre Füße schmerzen, bis sie sicher ist, dass sie diesen Augenblick niemals vergessen wird. Das hier, das ist die wahre Rita, nicht das verschüchterte Ding, dem eben an der Bar die Wangen gebrannt haben.

Doch etwas stimmt nicht – irgendetwas ist anders als sonst. Rita findet nicht zurück in den Flow. Ungeduldig öffnet sie die Augen und schaut sich im blitzenden Scheinwerferlicht um. Fast sofort sieht sie sie: Dort vorne, neben dem DJ-Pult steht eine dunkelhaarige Frau, die Arme verschränkt und den Blick auf die Menge gerichtet. Natürlich, das ist die, die dem aufdringlichen Typen drüben an der Bar die Meinung gegeigt hat. Seltsam, für einen Moment hat Rita die Sache fast vergessen. Mit schräggelegtem Kopf mustert sie die andere Frau. Die scheint kaum hierher zu passen; ihre Haltung ist steif, geradezu geschäftsmäßig, und ihr Blick schweift prüfend über die Tanzenden – als sei sie nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um die Gästeschar genau zu beobachten.

Unauffällig löst sich Rita aus der Menge und schlendert zu der Frau hinüber. Sie mag den Kleidergeschmack der anderen, das hochgeschlossene Oberteil und die grüne Faltenhose, die etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Dem Aussehen nach ist sie Ende zwanzig, ein paar Jahre älter als Rita selbst. Auch wenn die Frau nicht in ihre Richtung schaut, ist Rita doch sicher, dass sie sie bemerkt hat. Wie von ungefähr lehnt Rita sich gegen das DJ-Pult und beugt sich zu ihr hinüber.

»Du bist von der Security, stimmt’s?«

Die Frau dreht sich um und sieht Rita neugierig an. »Wie kommst du darauf?«

»Na ja, wie du eben den Kerl zurechtgestutzt hast … Das war ziemlich cool. Danke dafür.« Sie lächelt. »Ich heiße übrigens Rita.«

»Erika.«

Die Frau streckt ihre Hand aus, in einer Geste, die höflich und spöttisch zugleich wirkt. Instinktiv greift Rita zu.

»Und«, fragt Erika, »wo hast du deinen Freund gelassen?«

»Oh, Michal? Er ist nicht mein Freund«, antwortet Rita rasch. Dieses Mal ist sie sicher, dass ein spöttisches Lächeln um Erikas Mundwinkel zuckt. Rita verzieht das Gesicht. »Er ist ein netter Kerl … Wir kennen uns eigentlich nur von meiner Arbeit. Aber das hier war eine dumme Idee. Ich glaube, er hat sich schrecklich unwohl gefühlt …«

Die Frau hebt ihre Braue. Trotz der düsteren Beleuchtung ist ein Funkeln in ihren grünen Augen zu sehen. »Er hat dich allein hier zurückgelassen, ohne dich auch nur nach Hause zu begleiten?«

»Oh, nein«, beeilt sich Rita zu erklären, »ich wollte noch ein wenig hierbleiben.« Etwas an Erikas Tonfall weckt in ihr den Drang, Michal zu verteidigen. »Ehrlich gesagt, bin ich am liebsten allein hier. Es war ein Fehler, ihn mitzunehmen.«

Verlegen streicht sie sich über die bloßen Oberarme – und schreckt dann zusammen. »So ein Mist, meine Jacke! Ich habe sie in Michals Auto gelassen.«

»Warum bist du lieber allein?«, hakt Erika nach, so als hätte sie Ritas letzte Worte gar nicht gehört. »Du wirkst nicht unbedingt wie eine Einzelgängerin.«

»Nein, wahrscheinlich nicht …« Rita lacht verlegen. Mit einem Mal ist es ihr unangenehm, dass sie überhaupt von dem Thema angefangen hat. Sie bemüht sich, die richtigen Worte zu finden: »Mit anderen zusammen ist es nicht das Gleiche. Wenn ich allein hier bin, auf der Tanzfläche … na ja, dann fühle ich mich lebendig. Beim Tanzen kann ich meinen ganzen Körper spüren, mein Kopf sirrt, als wäre ich betrunken … Es ist, als könnte ich den Moment einfangen, sodass ich ihn nie wieder vergesse.«

»Und andere Menschen stören dabei nur?«

»So ungefähr.« Rita mustert die Frau abschätzend. »Sag mal, du bist nicht wirklich von der Security, oder? Du klingst, als wärst du nicht aus der Gegend. Was treibst du hier in der Stadt?«

Erika lacht auf, mit schräggelegtem Kopf sieht sie Rita an. »Ach, Süße … Ich könnte dir erzählen, dass ich für den Leibhaftigen höchstpersönlich arbeite, und du hättest es in fünf Minuten vergessen. Aber du hast recht: Ich bin nur auf der Durchreise in Prag. In einer Woche ziehen wir weiter.« Bei diesen Worten wird ihre Miene ernst. Noch einmal betrachtet sie Rita von Kopf bis Fuß. Sie scheint einen Moment zu überlegen, dann beugt sie sich zu ihr herüber: »Hör zu, ich habe einen Rat für dich. Du tanzt gerne? Dann solltest du uns besuchen. Wir veranstalten eine Party, diesen Freitag, in einer uralten Basilika unter der Stadt.«

»Unter der Stadt?«, wiederholt Rita zweifelnd. »Du meinst einen privaten Keller, so wie hier?«

»Nicht ganz – der Ort, von dem ich rede, gehört schon lange niemandem mehr. Man kommt durch ein Netz aus versteckten Kellergewölben dorthin, über das Untergeschoss einer alten Weinschenke nicht weit von hier.« Erika schenkt ihr ein verheißungsvolles Lächeln. »Ich glaube wirklich, dass es dir dort gefallen könnte.«

»Ich …« Rita versucht, ihre Gedanken zu sammeln. Endlich schüttelt sie den Kopf. »Das ist nett von dir, danke für den Tipp. Aber das klingt nicht unbedingt nach meiner Art von Party …«

»Überleg es dir. Du kennst doch die Sternzeichen-Symbole, drüben auf der Rathausuhr?« Als Rita verneint, greift die andere nach ihrem Arm. »Darf ich?«, fragt Erika kurz, dann zückt sie ihren Lippenstift und zeichnet ihr damit einen Kringel auf den Unterarm. »Schau nach diesem Zeichen: Libra, die Waage; ein Omega mit einem doppelten Strich darunter.«

Rita runzelt die Stirn, während sie mit den Fingerspitzen über den Arm streicht – eine dunkelbraune Schleife ist dort zu sehen, beinahe wie ein Muttermal. Als sie wieder aufblickt, zwinkert Erika ihr zu.

»Bis bald.«

Noch ehe Rita reagieren kann, löst sich die Frau von ihrem Platz neben dem DJ-Pult und schlendert zur Treppe hinüber.

Stumm blickt Rita ihr hinterher, die rechte Hand immer noch an ihrem Unterarm. Sie atmet tief ein und aus, wie nach einem allzu realen Traum. Dann schüttelt sie sich und fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Was für ein Abend. Erst die Sache mit Michal und nun …

Langsam geht Rita hinüber zur Bar, um sich ein Glas Wasser zu holen. Das frische Nass tut ihr gut; ihr Kopf kann sich wieder einigermaßen sortieren. Die Jacke ist bei Michal im Auto geblieben – sie muss also trotz der Frühlingskälte mit bloßen Armen nach Hause laufen. Bei dem Gedanken holt sie sich gleich noch ein zweites Glas – ist es nicht eine Frechheit, dass die Gläser in Clubs immer so klein sind? –, dann macht sie sich auf den Heimweg.

Genug getanzt für einen Tag.

3

Am nächsten Morgen erwacht Rita mit drückendem Kopfweh. Seltsam, sie hat doch sonst nie einen Kater. Schließlich hat sie ja nicht einmal etwas getrunken – die zwei Schluck Hugo sind sicher nicht genug, um ihre Gliederschmerzen zu erklären. Vielleicht hat sie sich auf dem Heimweg verkühlt, als sie ohne Jacke mit der Metro nach Hause gefahren ist. Sei’s drum; sie kann sich gerade keinen Fehltag erlauben. Stöhnend steht Rita auf und verflucht nicht zum ersten Mal ihren Job, bei dem sie auch am Sonntagvormittag pünktlich zur Arbeit erscheinen muss.

Die Fahrt mit der Metro zehrt mehr als gewöhnlich an ihren Nerven. Ihr gegenüber sitzen zwei halbstarke Kerle, die wohl gerade erst von ihrer Sauftour zurückkommen. »Hey, du«, ruft der eine ihr zu, »stress dich nicht so, es ist Wochenende!« Rita wendet den Kopf zum Fenster, wo die dunkle Tunnelwand an ihnen vorbeirauscht, und streicht sich über den Arm.

Trotz der Kälte nimmt Rita den Weg über die Kampa-Wiese, am Flussufer entlang. Das Lokal, in dem sie arbeitet, liegt am Teufelsbach, einem schmalen Seitenarm der Moldau. Rechts neben der Brücke, die über den Bach führt, hängt ein großes Mühlrad im Wasser und auf der anderen Seite ragt die Terrasse über den Strom hinaus. Rita runzelt die Stirn: Die Tische auf der Terrasse sind nicht mehr zugedeckt; offenbar hat ihr Chef vor, trotz der Frühlingskälte den Außenbereich zu öffnen. Sie schaut an sich herunter, auf den kurzen Rock und die Satinbluse, die sie trägt. Auch zusammen mit ihrer weißen Schürze wird das sie kaum vor der Kälte schützen. Ein missmutiger Zug legt sich auf ihre Lippen.

Schnell hat Rita entschieden, dass der Tag gelaufen ist, noch bevor er richtig begonnen hat. Sie zittert in dem viel zu kalten Aufzug, während sie sich zwischen den Tischen hindurchschiebt, ihre neuen Schuhe stolpern über die Terrasse und es kommt ihr vor, als wäre heute jeder Gast darauf aus, sie persönlich zu schikanieren.

»Hallo, hören Sie mich? Ich warte jetzt schon seit zehn Minuten!«

Ein blasierter Typ im Business-Anzug wedelt mit der Kreditkarte, um sein Mittagessen zu bezahlen. Auf Ritas freundliches Lächeln, als sie ihm die Rechnung gibt, reagiert er nicht – also kein Trinkgeld für sie. Seufzend schiebt sie die Karte in das Lesegerät. Dabei wirft sie einen langen Blick auf die Kreditkarte. Rita hat ein besonderes Talent dafür, sich Zahlenreihen zu merken, eine Fähigkeit, die nicht nur beim Aufnehmen der Bestellungen von Vorteil ist. Sie schürzt die Lippen. Soll Herr Ondřey Beneš sein Trinkgeld doch später bezahlen.

Als sie nach drinnen geht, um das Lesegerät zurückzubringen, kommt Natálie mit einem Stapel Geschirr und wirft ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Du siehst echt nicht gut aus, Liebes, weißt du das?«

Rita verzieht das Gesicht. »War ein langer Abend gestern. Und die Kerle da draußen …« Mit einer Grimasse steckt sie den Zahlungsbeleg in die Schublade zu den anderen – nicht ohne sich die Ziffern auf der Karte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Natálie bringt das dreckige Geschirr in die Küche, dann kommt sie zurück, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. »Ganz ehrlich, deine Probleme möchte ich haben. Wenn ich noch einmal so aussehen könnte wie du … Da dürften die Männer sich gerne das Maul zerreißen. Wart’s nur ab, wenn du erst in meinem Alter bist, kräht dir kein Hahn mehr nach.«

»Red doch nicht solchen Unfug. Als würden dir die Kerle nicht genauso hinterherstarren wie mir! Nur traut sich bei dir keiner, etwas zu sagen.« Neidisch schielt Rita zu ihrer Kollegin hinüber. Mit ihrer fülligen Figur und dem aufrechten Gang strahlt Natálie ein Selbstbewusstsein aus, von dem Rita nur träumen kann. Dabei schadet es nicht, dass die andere Frau einen halben Kopf größer ist als sie selbst.

»Und ob sie was sagen – wenn sie denken, ich würde sie nicht hören.« Natálie nickt zu einem der Tische hinüber, an dem zwei junge Kerle mit ihren gertenschlanken Freundinnen sitzen und tuschelnd die Köpfe zusammenstecken. Mit grimmiger Miene wendet sie sich wieder um. »Und da sind sie nicht die Einzigen. Mein werter Gatte scheint zurzeit auch in anderen Gewässern zu fischen … Weißt du, was ich letzte Woche, als er aus Pilsen zurückgekommen ist, in seiner Manteltasche gefunden habe?« Sie greift in ihre Schürze und zieht eine Papierserviette heraus. »Pinker Lippenstift! Sag mir, wer trägt pinken Lippenstift?« In ihren Augen mischen sich Wut und schaler Triumph.

Mitfühlend verzieht Rita den Mund. »Das ist doch bestimmt nur ein Missverständnis. Rede am besten mit ihm und frag ihn, was los ist.« Sie streicht Natálie noch einmal über die Schulter, was die mit einem müden Lächeln quittiert. »Dein Mann hat einfach keine Ahnung, was er an dir hat!« Damit greift Rita sich einen der Lappen vom Tresen und macht sich auf den Weg nach draußen, um den Tisch für den nächsten Gast fertig zu machen.

Das Publikum am Vormittag ist ein anderes als abends: Statt der betrunkenen Mittzwanziger sitzen nun vor allem ältere Herrschaften im Lokal, die den Tag mit Spiegelei und Croissant einläuten wollen. Eigentlich mag Rita diese Art Kundschaft – gesetzte Rentner, die großzügige Trinkgelder verteilen, und freundliche Damen, die ihr bei ihrem verfrühten Kaffeeklatsch erzählen, sie würde sie an ihre Enkeltochter erinnern. Aber heute scheinen sie es allesamt darauf angelegt zu haben, Rita das Leben schwerzumachen. Jeder ältere Herr, der ihr ein zweideutiges Kompliment macht, jedes Muttchen, das sie fragt, ob sie denn wohl auch einen Freund habe, lässt sie die Zähne zusammenbeißen. Fahrig streicht sich Rita über den linken Unterarm und blickt auf das dunkle Zeichen darauf. Seltsam, sie kann sich nicht mehr erinnern, woher sie das Mal hat.

»Hallo, Fräulein? Kommen Sie vielleicht mal hier rüber?« Ein älterer Herr mit Zwicker greift sie an der Schürze und mit einer heftigen Bewegung reißt Rita sich los. Als er ihren Blick sieht, schüttelt der Mann den Kopf. »Da müssen Sie jetzt gar nicht so reagieren. Ich will ja nur bestellen.«

»Ich komme gleich.« Schwer atmend wendet Rita sich ab, die Hand zur Faust geballt. Erst als sie sicher aus seiner Sichtweite verschwunden ist, öffnet sie die Finger: Darin liegt der Schlüsselbund des Herrn, den sie im Vorbeigehen vom Tisch geschnappt hat, komplett mit Autoschlüssel und Anhänger. Rita erlaubt sich ein grimmiges Lächeln. Sie wird den Schlüsselbund ins Fundbüro bringen – sobald sie Zeit dafür findet. Bis dahin kann sich der Herr fragen, wie er sein Auto von dem Kurzzeitparkplatz fortbewegen soll.

Doch selbst dieser Vergeltungsschlag bringt ihr heute keine wirkliche Genugtuung. Was sich sonst anfühlt wie ein persönlicher Triumph, kommt ihr nun kleinlich und sinnlos vor. Mühsam zwingt Rita sich zu ihrem gewohnten Lächeln, während sie sich weiter an die Arbeit macht; sie verteilt Teller, stellt Rechnungen aus und sammelt das dreckige Geschirr ein. Als sie das nächste Mal neben Natálie an der Kasse steht, sieht sie die andere von der Seite an.

»Was würdest du tun, wenn du es ihnen reindrücken könntest?«, fragt Rita, während sich ihre Fingernägel in den Handballen pressen.

Irritiert sieht Natálie auf. »Meinem Mann?«

»Jedem!« Rita atmet ein. »Nein, nicht jedem – aber jedem Typen, der dich nervt. Du weißt schon, der dich blöd anquatscht oder so tut, als wäre er etwas Besseres. Was würdest du tun?«

Für einen Moment kraust Natálie die Stirn. »Keine Ahnung. Am besten wäre es, wenn die Arschlöcher einfach verschwinden würden.«

»Aber das tun sie nicht«, fährt Rita gereizt ein. »Also, wenn du einfach tun könntest, was du wolltest – was wäre das?«

Natálie hebt die Schultern. »Keine Ahnung.«

4

Als Rita an diesem Abend nach Hause fährt, fühlt sie sich wie gerädert. Stumm lehnt sie sich gegen die Scheibe der Metro, den Blick zur Schwärze der Felstunnel gewandt, die hinter dem Fenster vorüberrauschen.

Sie wohnt im Süden der Stadt, in den Wohngebieten hinter der Hochfeste. Der Himmel ist längst finster, als Rita schließlich die Metrostation verlässt und über leere Straßen und Hinterhöfe zu ihrem Mietshaus hinüberwandert, das zwischen den neueren Bürogebäuden und Hochhäusern ein wenig anachronistisch wirkt.

Den linken Arm mit der Hand massierend, schleicht Rita die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung oben im zweiten Stock. Dabei setzt sie ihre Schritte vorsichtig, um die alten Stufen nicht zum Knarren zu bringen. Doch umsonst: Sie hat den letzten Treppenabsatz gerade erreicht, da geht im Stockwerk über ihr die Tür auf und die breite Gestalt ihrer Vermieterin schiebt sich über das Treppengeländer.

»Ach, die Frau Černá, gut, dass ich Sie sehe!«, flötet es ihr von oben entgegen. »Ich wollte Sie doch daran erinnern, beim nächsten Mal Ihre Schuhkartons kleinzumachen, ehe Sie sie in den Abfall tun. Nicht, dass die Tonne wieder so voll wird, dass am Ende der Deckel nicht schließt!«

Rita hebt den Kopf und nickt der Frau zu. »Natürlich, Frau Kučerová. Ich werde daran denken.« Mit diesen Worten will sie sich in ihre Wohnung verziehen – aber so schnell lässt ihre Vermieterin nicht von ihr ab.

»Ist aber gestern wieder mal ziemlich spät geworden, nicht wahr?« Das Geländer knarzt protestierend, als die Frau ihren üppigen Busen über die Brüstung lehnt. »Wissen Sie, mir ist das ja egal. Aber Sie können sich ja denken, wie die Leute reden. Als Ihre Vermieterin fühle ich mich da quasi verantwortlich.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich meine nur, als anständige Frau muss man ja nicht jedes Wochenende unterwegs sein.«

Rita seufzt innerlich auf. Wie gut würde es tun, der anderen einmal gebührend die Meinung zu geigen – und wenn es nur ein einziges Mal wäre. Aber stattdessen blickt sie hoch und zwingt ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. »Ja, Frau Kučerová, da haben Sie sicher recht.«

Hastig, ehe ihre Vermieterin noch weitere Lebensweisheiten vom Stapel lassen kann, steigt sie die restlichen Stufen hinauf und verschwindet in ihrer Wohnung.

5

Die Kerzen flackern im Luftzug, der zwischen den Vorhängen durchs Fenster dringt. Sorgsam zündet Rita den letzten Stumpen an und stellt ihn am Fußende der Badewanne zwischen zwei Teelichtern hin. Für einen Moment schließt sie die Augen und lauscht auf das Rauschen des einlaufenden Wassers. Sie beugt sich hinab und lässt ihre Fingerspitzen durch den Schaum fahren, in ihrer Nase der Duft nach Flieder, der das Bad erfüllt. Heute Abend hat sie sich das gute Badeöl genehmigt – so wie sie sich fühlt, hat sie diesen Luxus verdient. Als das Wasser hoch genug eingelassen ist, schließt sie den Hahn.

Ein paar Herzschläge lang lauscht Rita auf die Stille, riecht den Fliederduft und spürt den seidigen Bademantel auf ihrer Haut. Ein kühler Windhauch dringt herein und lässt die Vorhänge tanzen. Die Kerzen flackern, ihr Licht fängt sich in der Rasierklinge, die in einem Holzkästchen neben der Badewanne liegt, und erhellt das alte Märchenbild an der Wand. Im unsteten Kerzenlicht sieht es aus, als würden sich die Figuren auf dem Bild bewegen – die Fürstin Libuše, wie sie vor dem hohen Rat den Ruhm der Stadt Prag vorhersagt. Ein leises Lächeln umspielt Ritas Züge. Mit einem zufriedenen Seufzen öffnet sie den Bademantel und lässt ihn zu Boden gleiten, dann steigt sie in die schaumgefüllte Wanne.

Eine Weile genießt Rita einfach nur das Gefühl des heißen Wassers, das ihren Körper umschmeichelt. Sie hebt die Hand und pustet den Schaum von ihren Fingern, sodass er in leichten Flocken durch den Raum schwebt, verweht durch die Brise, die von draußen hereindringt. Dabei bemerkt sie wieder das dunkle Zeichen auf ihrem linken Arm – ein breiter Kringel, fast wie ein Muttermal. Rita runzelt die Stirn; sie weiß nicht mehr, woher das Zeichen stammt. Vergebens versucht sie, den Fleck mit Wasser und Seife abzuwaschen, aber er ist wie eingebrannt. So hebt sie schließlich die Schultern und lässt sich zurück ins Wasser sinken – warum einen weiteren Gedanken daran verschwenden?

Mit ruhigen Atemzügen lässt Rita alle Verkrampfung der letzten Stunden von sich abfallen, sie spürt nichts mehr außer dem heißen Wasser, das ihre Haut zart und schmeichelnd umgibt. Dann, als auch die letzte Anspannung verflogen ist, hebt sie die Hand aus dem Schaum und greift nach der Rasierklinge, die in dem Kästchen neben der Badewanne funkelt.

Rita seufzt leise auf, während sie die scharfe Klinge über ihren Daumen fahren lässt – nicht schneidend, nur austestend, wie eine Liebkosung. Sie sollte das Rasiermesser nicht benutzen, das weiß sie. Aber an manchen Tagen geht es eben nicht anders … Wenn Ärger, Frustration und Erschöpfung zu groß werden, dann bleibt ihr immer der Kuss der Klinge als Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden. Ganz für sich allein, umgeben von duftigem Schaum und Kerzenlicht.

Langsam hebt sie das linke Bein aus dem Wasser und stützt es am Badewannenrand ab. Seifenschaum und Badewasser rinnen den Schenkel entlang, doch Rita macht sich nicht die Mühe, ihre Haut abzutrocknen; sie wartet geduldig ab, während die Abendbrise von draußen über ihr Bein fährt und das Wasser verdunsten lässt. Ihre Finger fahren die letzten Muster nach, die sich noch in hellem Rosarot auf ihrer Haut abzeichnen: die breite Schlangenlinie von dem Tag, als ihr Chef ihr die Standpauke gehalten hat, ein durchgekreuztes Herz für Georg, den süßen Kerl aus dem Goldbaum, der sich nach ihrer gemeinsamen Nacht nicht mehr gemeldet hat. Und dort, schon fast verblasst, eine Spirale an ihrer Hüfte für den letzten großen Streit mit ihrer Mutter.

Es dauert oft mehrere Wochen, manchmal Monate, bis die Male auf ihrer Haut endgültig verschwinden. Rita lächelt leise. Sie ritzt sich nicht, um sich zu entstellen oder zu bestrafen, im Gegenteil. Es macht ihr Freude, ihren Körper zu verschönern, ihm für ein paar Tage ein neues Muster zu bescheren. Natürlich ist es eine schlechte Angewohnheit – Rita braucht keinen Therapeuten, der ihr das erklärt. Aber manchmal, nach einem allzu anstrengenden Tag, ist es ihre einzige Möglichkeit, sich selbst wieder zusammenzuflicken. Wie ein Blutopfer an eine unbekannte Gottheit. Das Kerzenlicht wirft Schatten über das schaumbedeckte Bein, über Bad und Rasiermesser und das Libuše-Bild an der Wand.

Versonnen streicht sie mit dem Daumen über die scharfe Schneide. In ihrem Kopf schwirrt es – der Kerl ist da, der ihr am Samstagabend an der Bar aufgelauert hat, ihre Vermieterin mit ihren dummen Sprüchen und jeder Gast, der sie im Vorbeigehen wie zufällig berührt hat. Noch einmal fährt sie mit der Linken über die bloße, gerade erst getrocknete Haut. Dann hebt sie die Klinge, um ihren Körper aufs Neue zu zeichnen.

6

Montage sind freie Tage. Das ist das Beste an Ritas Job: das Gefühl, am Montagmorgen aufzuwachen und zu wissen, dass sie heute nicht arbeiten muss. Es ist ein angemessener Trost für den elenden Wecker am Sonntag.

Also schläft Rita aus, so lange, bis die Uhr am nahen Kirchturm Mittag schlägt. Langsam steht sie auf, klaubt sich aus dem Kühlschrank ihr Frühstück zusammen und schaut während des Essens zum Fenster hinüber. Zwischen den Häuserfronten blinzelt die Sonne zurück – der Frühling hält Einzug in die Stadt. Kurz überlegt Rita, ob sie

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ann-Kathrin Wasle
Cover: Vanessa Hahn
Lektorat: Martha Wilhem
Satz: Ann-Kathrin Wasle
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1666-1

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
»Jetzt will ich, dass wir abrechnen« – Claire Zachanassian Der Besuch der alten Dame Friedrich Dürrenmatt

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