Höllenschlaf
Finsternis kann keine Finsternis vertreiben.
Das gelingt nur dem Licht.
Martin Luther King (1929-1968), »Kraft zum Lieben«-Rede 1963
PROLOG
Hochsommer 1996
Es geschah leise.
Ohne Vorzeichen, die Ina zu deuten vermocht hätte.
Eben noch saß sie am zerschrammten Küchentisch ihrer Großmutter, im Hintergrund ein Radio, auf einen Lokalsender eingestellt. Vor ihr die obligatorische Tasse Kaffee.
Tausend Mal gehörte Songs, Wetter (heiß und trocken), lahme Telefonspäße, Staumeldungen, irgendwo eskalierte wieder eine Krise.
Ein Wimpernschlag später. Ina kam es vor, als hätte sich die Welt draußen verdüstert. Der Rollladen vor dem Küchenfenster war halb herunter gelassen, um die Wärme jenseits der dicken Mauern des alten Hauses zu halten. Ihr Blick schweifte nach draußen zu der sommerlich dichten Hecke und dem Stückchen blauen Himmels darüber. Einbildung: Die Sonne strahlte unbarmherzig, sogar die Vögel hatten ihr lethargisches Zwitschern eingestellt. Es war still. Zu still.
Ohne einen Grund, was sie plötzlich alarmierte, sprang Ina auf und stürzte zum Küchenfenster. Sie riss den alten Riegel zur Seite und streckte den Kopf durch den Rahmen. Die mickrige Basilikumpflanze in ihrem Zinkeimerchen krachte von der Fensterbank auf die Küchenfliesen. Ina schenkte dem keine Beachtung.
„Mäuschen?“
Die schwüle Sommerhitze waberte um ihren Schädel, der Schweiß brach ihr im Nacken aus.
„Jenny?! Wo bist du?“, rief sie nun deutlich lauter. Erschrocken vom Klang ihrer eigenen Stimme.
›Du bist hysterisch. Meine Güte, entspann’ dich mal!‹, schalt sie sich selbst in Gedanken. ›Wo soll sie schon stecken? Wahrscheinlich ist sie mal wieder in den Wald gegangen‹.
Auf ihre sechsjährige Tochter Jenny übte der nahe Waldrand eine magische Anziehungskraft aus. Während andere Vorschulkinder eher Angst vor dem düsteren Saum des Tannenwaldes verspürt hätten, fühlte ihre tollkühne Prinzessin sich stets angespornt, dort auf Abenteuerjagd zu gehen. Natürlich hatten ihr Mann Patrick und sie die Kleine dutzendfach ermahnt, den eingezäunten Garten nicht zu verlassen. Doch Jenny hatte Inas Dickkopf geerbt. Und das badete sie nun aus.
Mit wenigen Schritten war Ina zur Terrassentür hinaus. Vor ihr breitete sich die leicht abschüssige Rasenfläche zum Wald hin aus. Sie kniff die Augen zusammen, um im gleißenden Sonnenlicht in Richtung der Bäume zu spähen. Die feinen Fältchen auf ihrer Stirn und unter den Augen vertieften sich.
Nichts zu sehen. Die Schaukel kurz vor dem Zaun, der ihr Grundstück von dem Wald trennte, hing völlig unbewegt in der zum Schneiden dicken Luft.
„Jenny!“
Ina konnte sich nicht helfen, sie brüllte den Namen ihrer Tochter. Jetzt war sie richtig sauer. Eine heiße Woge der Wut verlieh ihr den nötigen Schub, um in Richtung Wald zu rennen. Binnen weniger Sekunden erreichte sie den windschiefen Staketenzaun und flankte leichtfüßig darüber. Hätte sie über diesen Sprung nachgedacht, wäre sie sicherlich gestolpert und an einem der schmalen Holzbalken des Zauns hängen geblieben - doch ihre Gedanken kreisten nur um ihre Tochter.
›Wo, verdammt, bist du? Warum hörst du nie auf das, was ich dir sage? Renitente kleine Rübe!‹
Der Teil ihres Verstandes, der nicht von mütterlicher Panik beherrscht wurde, beharrte darauf, dass eine Sechsjährige nicht gleich in einen schweren Unfall verwickelt oder einem pädophilen Soziopathen zum Opfer fallen müsse, nur weil sie mal ein paar Minuten außer Sicht geraten war. Doch ihr wummerndes Herz trieb ihre Beine an zu rennen, ihre Lungen immer wieder „Jenny! Jenny!“ zu schreien.
Kleine Rübe ... Der Spitzname ihrer Tochter ließ ihr in die Tränen in die Augen schießen.
Den scharfen Schmerz im Knöchel ignorierend, als sie in eine Vertiefung trat, brach Ina in den Waldsaum. Für ein kleines Kind hingen die Äste der dunklen Tannen nicht tief genug, um diese zu berühren, Ina schlugen sie unerbittlich ins Gesicht und an die Brust. Doch sie verlangsamte ihren Schritt nicht, sie spürte die Äste nicht mal. Die nackte Angst um ihre Tochter hatte die Regie über ihr Handeln übernommen.
Inas Schreie waren längst in heiseres Keuchen über gegangen, Minuten waren vergangen, oder Stunden, als sie im Augenwinkel einen hellen Schemen im schattigen Gewirr des dichten Geästs wahr nahm.
In exakt diesem Moment verließ die Panik sie. Inas Schritt stockte, bis sie ganz stehen blieb. Ihre Arme hingen steif zu beiden Seiten ihres Körpers herab, ihre Hände öffneten und schlossen sich.
Panik, so wusste sie nun, war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist der Moment, indem du anfängst, dich zu fürchten. Bis ins Mark zu erschauern. Dieser Sekundenbruchteil der kristallklaren Gewissheit, dass nichts mehr jemals sein wird wie zuvor.
Ohne zu blinzeln, ja, sogar ohne zu atmen, starrte Ina den hellen Punkt an. Kein rettender oder beruhigender Gedanke durchzuckte ihr Hirn. Vielleicht etwas wie ›Sie hat den Schuh beim Spielen ausgezogen und dann vergessen‹. Nein, nichts dergleichen.
Ina trat vor, bückte sich und zog den weißen Segeltuchschuh aus der sattgrünen Finsternis des Gebüschs. Als müsste sie sich vergewissern, dass er Jenny gehörte, drehte sie die Sohle nach oben. Größe 31, die Nummer halb verdeckt von einem einst blassrosa Kaugummi, der nun als gräuliche Masse an der Gummisohle klebte. Er gehörte eindeutig ihrer Tochter.
Inas Starren auf den Schuh in ihrer merkwürdig ruhigen Hand wurde von einem krächzenden Laut unterbrochen, gefolgt vom Knacken eines Astes. Die Stille des Waldes wurde vom Schimpfen und dem klatschenden Flügelschlag einer Krähe durchbrochen. Ina starrte in die gleißenden Löcher zwischen den Ästen und sah das große, schwarze Tier davonflattern, immer noch lauthals zeternd.
Jemand ist hier.
Den Schuh fest umklammernd hastete Ina wieder los. Blind, kopflos, über Wurzeln stolpernd, Äste abbrechend, über umgestürzte, verrottete Baumstämme springend. Taub, außer dem stampfenden Rhythmus ihres Blutes in den Ohren, und vollkommen entkräftet brach sie schließlich durch ein letztes, dorniges Ilex-Gebüsch unvermittelt auf eine Lichtung, fiel auf die Knie, konnte sich gerade noch mit der freien Hand abstützen, um nicht mit dem Gesicht im Dreck zu landen. Der kleine Turnschuh flog ihr aus den Fingern und landete, fast geräuschlos, in den hohen Gräsern der sonnenbeschienenen Lichtung. Ina hob den Kopf und sog keuchend die Luft ein. Ihr Mund öffnete sich:
„Gott sei Dank ...“, hauchte sie. „Jenny ...“
Der blonde Haarschopf ihrer Tochter leuchtete golden zwischen wildem Klatschmohn, keine zehn Meter von ihr entfernt. Nur ihr Kopf und ihre von einem blassgelben T-Shirt bedeckten Schultern ragten aus den Gräsern. Offenbar kniete die Kleine mitten in der Lichtung und war vollkommen in ein Spiel vertieft.
Mühsam stemmte Ina sich auf die Füße, blieb leicht schwankend stehen.
„Jennifer Müller! Was machst du da?“
Ina mühte sich um einen autoritären Tonfall, der möglichst ihre ausgestandene Todesangst um ihre Tochter verbergen sollte. Doch der Satz kam wie das Piepsen einer verängstigen Feldmaus über ihre Lippen und verhallte ungehört. Sie schluckte, Speichel sammelte sich in ihrem Mund.
Sei leise. Schaff sie hier weg. Jemand ist hier.
Als hätte ihr Herz seit Minuten nicht geschlagen, setzte es nun wieder in einem ratternden Galopp seine Tätigkeit fort.
Jemand ist hier. Bring dein Kind weg.
Ohne ihre Tochter erneut anzusprechen, machte Ina einen Schritt nach vorne. Kein Geräusch war zu hören, kein Grillenzirpen, kein Vogelgesang. Nicht mal das ferne Dröhnen eines Flugzeuges. Nichts. Stille. Totenstille.
›Sie muss mich doch hören ...‹, schoss es Ina durch den Kopf.
Aber sie wagte es nicht, Jennys Namen erneut zu nennen.
Noch drei Schritte.
Jenny hatte sich keinen Millimeter bewegt. Starr sah sie gerade aus, auf etwas in der Ferne, dass nur sie sehen konnte. Aus ihrem geflochtenen Zopf hatten sich einzelne Strähnen gelöst, die locker über ihre Schultern fielen. Das rote Haargummi, das den Zopf zusammengehalten hatte, fehlte. Kein Lüftchen regte sich. Die dicken orangen Dolden einer Pflanze, deren Namen Ina nicht kannte, standen unbewegt wie Zinnsoldaten neben Jennys Kopf.
Noch zwei Schritte.
Nun war Ina ihrer Tochter so nah, dass sie sie an der Schulter berühren konnte. Sie sah, dass ihr T-Shirt (ihr Lieblingsshirt, mit einem frech grinsenden Garfield vorne drauf), am Rücken zerfetzt war und an der rechten Schulter einen bräunlichen Fleck aufwies. Durch das Loch am Rücken sah Ina die zart gebräunte, makellose Haut ihrer Tochter, ein kleiner schwarze Käfer kroch darauf herum.
„Jenny?“, flüsterte sie. „Mäuschen?“
Keine Reaktion. Jenny schien nicht mal zu atmen. Ina streckte die Hand aus, stockte aber, zwei Zentimeter über der Schulter ihrer Tochter. Eine durch und durch irrationale Angst, ihr Kind zu berühren, ließ Ina erstarren.
Der Käfer krabbelte weiter, verschwand nun unter dem fadenscheinigen Stoff des tausend mal gewaschenen und sehr geliebten T-Shirts. Ina erinnerte sich genau, was Jenny für einen Aufstand in der kleinen Kinder-Boutique gemacht hatte, weil sie unbedingt dieses T-Shirt haben wollte. Bevor das Ganze in einem von Jennys berüchtigten Tobsuchtanfällen endete, hatte Ina nachgegeben und das Shirt gekauft, obwohl sie es viel zu teuer und dazu noch potthässlich fand. Aber kleine Mädchen haben nun mal einen anderen Geschmack als deren Mütter.
Ina erschauderte erneut, ihre Hand schwebte zitternd in der stehenden Luft. Ihr Blick fiel, ohne es zu wollen, auf ihre von ihrer wilden Jagd durch den Wald völlig lädierten Fingernägel. Der Nagel des Daumens war so tief eingerissen, dass sie vor Ekel aufkeuchte. Schmerz fühlte sie keinen. Sie zwang ihre Augen wieder nach oben, auf den Hinterkopf ihrer Tochter.
›Sie atmet nicht, sie ...‹
In diesem Moment schnellte Jennys Kopf nach hinten. Ihr dünner Hals gab das Geräusch einer reißenden Sehne von sich und wurde so brutal in den Nacken geschleudert, dass ihr Genick brechen musste. Reflexhaft, zu Tode erschrocken, sprang Ina einen Satz rückwärts und landete unsanft auf ihrem Hinterteil.
Jenny brüllte.
Nein, sie brüllte nicht. Sie bellte, schrie und blökte gleichzeitig wie eine Tier, dass in eine Bärenfalle geraten war. Oder ein Tier, dessen Haut man bei lebendigem Leibe abzog. Ein so urtümlicher, wie auch vollkommen irrer, niemals von einem menschlichen Ohr zuvor gehörter Laut. Inas Trommelfell drohte zu platzen, voller Entsetzen riss sie die Hände vor die Ohren und fing, ohne es zu merken, ihrerseits zu Schreien an.
Sie war im Sprung ein Stück rechts von Jenny gelandet und sah nun ihr Profil. Oder das, was von ihrem Profil übrig war. Ihr Kiefer hing seltsam schief, dick geschwollen und blutverschmiert herab. Den Mund so weit aufgerissen, wie es keinem gesunden Schädelknochen möglich wäre, spie sie ihren bestialischen Schrei in den Sommertag.
›Das Blut, oh Gott, das Blut, das viele Blut ...‹, hämmerte es durch Inas Gedanken.
Jennys gelbes Shirt war an der Brust regelrecht getränkt. Blut, dass bereits trocknete und eine dunkelbraune Schattierung angenommen hatte. Es triefte weiterhin aus Jennys Mund, hier noch frisch und rot, tropfte und spritzte von ihren Lippen.
Ina schrie weiter und war zu nichts anderem in der Lage, als ihre brüllende, schwer verletzte Tochter, anzustarren.
›Wo sind ihre Zähne, oh bitte, bitte ... nein ...‹, stammelte Ina in Gedanken. Jennys weit zurückgezogene Lippen entblößten einen völlig zahnlosen Kiefer, bleich und gleichzeitig blutverschmiert.
Das Kind röhrte ein letztes Mal auf, dann fiel es mit geschlossenem Mund, Blutblasen blubbernd, seitlich in die Wiese.
Stille senkte sich über die Lichtung, nach ein paar Sekunden setzte zaghaft das Konzert der Waldvögel ein.
Kapitel 1
Tapetenwechsel
Gegenwart
Ein feuchtes Gurgeln, gefolgt von einer widerlichen Hustensalve penetriert schmerzhaft mein Ohr. Gezwungenermaßen wende ich mich der Quelle des Geräusches zu und sehe den feisten Mittfünfziger mit Glatze und aufgeworfenen Lippen, zwischen denen eine Kippe klemmt. Der Rauch dringt ihm ins linke Auge, welches er zukneift. Obwohl er zu weit entfernt ist, und bis jetzt noch nicht näher an mich heran kam weiß ich, dass er nach altem Schweiß riecht.
„Arbeitsteilung nennt man das, Junge!“, witzelt er mit für seine fette Gestalt zu hoher Stimme, „Die einen machen Dreck, die anderen räumen es auf!“ und wedelt mit einem kurzen Zeigefinger vor der Nase seines bedauernswerten Gesprächspartners herum.
Es ist einer der sechs Umzugshelfer, ein dürrer Junge mit slawischen Gesichtszügen. Dem Dicken mit der speckigen Wampe unter dem fleckigen T-Shirt ist einer unserer Kartons runter gekracht und eine Flut von Büchern hat sich über den Gehweg ergossen. Immerhin besser als eine Scherbenflut meines guten Geschirrs. Offenbar will der feiste Kerl, dass das Jungchen die Bücher wieder aufhebt. Wahrscheinlich kann er sich aufgrund seines Schmerbauches schlecht bücken.
Das Jungchen fängt mit einem Seufzen an, meine Bücher aufzuklauben, der Fette bückt sich immerhin ebenfalls und entblößt ein kalkweisses, dafür aber schwarz behaartes Maurer-Dekolletee. Ich wende mich ab, ich habe mehr gesehen, als ich wollte.
Mein Ehemann Max wandelt in Zeitlupe an mir vorbei, in der einen Hand sein Smartphone, in der anderen einen winzigen Plastik-Hocker, den auch eine Zweijährige tragen könnte. Er blickt konzentriert auf sein Handy und tippt mit dem Daumen darauf herum.
Immerhin trägt er irgendwas in unser neues Haus, während ich versuche, nicht im Weg zu stehen und die Kollegen des Umzugsunternehmens ihr Werk vollenden zu lassen.
Trotzdem bin ich schweissgebadet, denn Ernies Zündschnur ist nach drei Stunden Autofahrt und dem Verdacht, dass fremde Männer sein Körbchen geklaut haben, kurz. Der junge Bulldoggen-Rüde hat sich auf’s Dreifache aufgeplustert und versucht gerade in Richtung der Wand aus Umzugskartons zu stürmen, die vom LKW abgeladen worden sind und nun nach und nach ins Haus geschafft werden. Er liebt es, Papier aller Art zu Schreddern.
Um ihn abzulenken und seiner Dreißig-Kilo-Muskelpower etwas entgegen zu setzen, wühle ich in meiner Handtasche nach seinem Gummistock. Das schrille Quietschen des Hundespielzeugs lässt seinen breiten Kopf augenblicklich zu mir herumrucken und seinen Schwanz aufgeregt im Kreis wedeln. Auf dem Stock kauend legt er sich auf dem Gehsteig auf den Bauch - wenigstens einer ist jetzt zufriedengestellt.
Mit einem wehmütigen Gefühl im Herzen denke ich an Bully, meinen verstorbenen Hund. Ihn hätte der ganze Zinnober hier gar nicht interessiert. Bevor ich losheulen kann, rollt Ernie mit weit aufgerissen Augen auf den Rücken, schmeißt den Gummistock in die Höhe und fängt ihn geschickt mit Pfoten und Maul wieder auf. Bei dem drolligen Anblick verfliegen meinen trüben Gedanken sofort. So lange hier ein solches Chaos herrscht und ich keinen sicheren Rückzugsort für den Hund im Haus habe, muss ich mit ihm an der Leine vor der Tür warten. Ausserdem kann ich so die Umzugshelfer ein bisschen deligieren.
„Wo soll das hin?“, bringt mich da auch schon eine Stimme schräg hinter mir in die Gegenwart zurück. Jungchen will wissen, wohin er einen blauen Müllsack bringen soll, den er mir - fast anklagend - entgegen hält. So weit ich mich erinnere, enthält er unsere Bettdecken und Kopfkissen. Könnte aber auch was völlig anderes sein. Im schlimmsten Fall Unrat, den ich eigentlich wegwerfen wollte, aber den Beutel verwechselt habe.
„Schlafzimmer“, antworte ich achselzuckend und versuche, ein furchtbares Scheppern und ein mühsam unterdrücktes „Scheissdreck!“ aus den Untiefen des neuen Hauses zu überhören. Klang verdächtig nach Max.
Ein braunes UPS-Fahrzeug dröhnt auf der alten Kopfsteinpflasterstraße unter ehrwürdigen Linden heran und umkurvt in Millimeterarbeit unseren LKW, nicht ohne dabei kräftig die Hupe zu betätigen und den Mittelfinger in unsere Richtung zu recken. Ernie dreht die Ohren nach hinten und lässt ein schnaubendes „Wuufffzz!“ ertönen, widmet sich dann aber lieber wieder seinem Stock. An solche Szenen werden wir uns gewöhnen müssen, denn mit der lahmen Dorfidylle im norddeutschen Flachland ist es nun vorbei. Jetzt leben wir - zwar immer noch recht ländlich und in unmittelbarer Nähe von Wäldern und Seen - am Rande einer Millionenstadt.
„20 Minuten mit der S-Bahn und du stehst im prallen Leben!“, hatte Max frohlockt, als er das Haus im Internet entdeckt hatte. „Und trotzdem ruhig und grün.“
Nun, beim Attribut ruhig hatte der Makler wohl vergessen, uns darüber aufzuklären, dass wir uns in unmittelbarer Nähe des Flughafens befinden. Allerdings hätte uns bei der Beschreibung des Hauses das besondere Hervorheben des Attributs Schallschutzfenster stutzig machen können. Wie um das noch einmal zu unterstreichen höre ich einen Jumbojet Richtung Süden donnern. Nun, bevor ich mich darüber aufrege, ist es mir lieber gleich egal. Irgendwas ist ja immer und wir werden uns schon daran gewöhnen. Oder mit Ohropax im Garten chillen.
Ein junges Mädchen in einem grellpinken Hoodie mit der Aufschrift ›Ich bin nicht schüchtern. Ich bin unfreundlich‹ und iPod-Hörern im Ohr flaniert an uns vorbei, wobei sie uns - ganz großstadtlike - geflissentlich ignoriert und geschickt um die Wand aus Umzugskartons manövriert. Hier grüßt man also nicht Hinz und Kunz auf der Straße. Muss ich mir merken, das könnte sonst furchtbar peinlich werden.
Leichte Melancholie überfällt mich. Ein völlig anderes Leben ... ein Neuanfang. Doch nach den Ereignissen des letzten Jahres, die die teuflischen Machenschaften unseres Nachbarn Bodo und seiner Frau Birgit ans Licht zerrten*, habe ich mich dort nicht mehr wohl gefühlt. Niemand konnte wissen, welche Nachbarn oder vielleicht sogar Freunde in die Geschehnisse involviert waren und ungestraft davon kamen. Nein, dort konnte ich nicht bleiben, mein Vertrauen in die Menschen in meiner Umgebung war dahin.
Bei Max rannte ich offene Türen ein, er war nie ein Freund des Dorflebens gewesen und stimmte einem Umzug sofort zu. Unsere Jobs erlauben es uns glücklicherweise dort zu arbeiten, wo wir möchten. Max ist selbstständig in der Medienbranche und ich bin Grafikerin. Außer einer schnellen Internetleitung brauchen wir eigentlich nichts und können dem digitialen Nomadendasein frönen.
Jungchen hat jetzt entdeckt, dass der blaue Müllsack im hinteren Teil des Lasters viele Brüder hat. Ratlos an seinem Hintern kratzend deutet er auf den Berg und berät sich in einer Sprache, die aus viele gutturalen Lauten besteht, mit zwei anderen Helfern. In diesem Fall weiß ich, was sich darin befindet: meine gesamte Kleidung. Denn schlau, wie ich nun mal bin, habe ich mir vor unserem Ortswechsel ungefähr 200 Youtube-Videos mit Umzugs-Hacks angesehen. Diesen habe ich direkt umgesetzt: Anstatt die Kleidungsstücke von den Bügeln abzuhängen und ordentlich gefaltet in Kartons zu verstauen, nur um sie hinterher wieder zu entfalten und mühsam wieder aufzuhängen (und am Ende noch bügeln zu müssen, Gott bewahre!), nimmt man sich einen Handvoll Bügel, streift umgekehrt einen großen Müllsack darüber, reisst ein Loch in den Boden des Sacks und zieht die Haken hindurch. Nun den Müllsack unten zugezogen und voilá: Kleidung geschützt und einfach an den herausstehenden Haken zu transportieren. Kleiner Nachteil: Es sind ungefähr 60 Säcke. Und dass, obwohl ich - für eine Frau - nicht übermäßig viel Klamotten besitze. Max hat Minimum nochmal die gleiche Anzahl beigesteuert. Deshalb sieht der hintere Teil unseres Lasters aus wie eine Müllhalde. Immerhin eine geruchsneutrale.
„Ins Schlafzimmer!“, blöke ich ungefragt in das Beratungsgespräch der zupackenden Herren. ›Mein Gott, jetzt ladet den Krempel endlich ab und verschwindet, ich will Kaffee und meine Ruhe‹, denke ich.
Als wären meine Gebete erhört worden, röhrt aus dem geöffneten Küchenfenster das Mahlwerk unserer Kaffeemaschine. Der gute Max hat das wichtigste erledigt: Die Kaffeemaschine finden und in Betrieb zu nehmen.
Die drei Herren schwingen sich nun jeweils zehn Säcke über die Schultern und verschwinden im Haus. Buckeln können die, alle Achtung. Man macht sich kein Bild, was Kleidung wiegt.
Flott leert sich nun der LKW und keine fünf Minuten später, die ich mit einer Kippe überbrücke und Ernie davon abhalte, eine arglos des Weges summende Wespe zu vertilgen, erscheinen die Männer wieder auf dem Gehsteig, gefolgt von Max. Er verabschiedet den Chef der Truppe mit Handschlag, ich winke ein „Tschüss und vielen Dank!“ von meiner Position.
Weg sind sie, eine Abgaswolke in mein Gesicht blasend. „Erstmal Kaffee!“, sagen Max und ich gleichzeitig und grinsen uns an.
*Siehe ›Dornröschens kaltes Grab‹, Isas Requiem IV.
...
Die Hitze flirrt über den Asphalt als ich in einen kleinen Sandweg einbiege, der zu einem Kinderspielplatz führt. So verkündet es zumindest ein Schild mit kleinen bunten Patschehändchen drauf und einem Piktogramm mit durchgestrichenem Hund. Der ideale Ort also, um Ernie sein großes Geschäft verrichten zu lassen. Spaß beiseite, hinter dem Spielplatz scheint sich das nahe Waldgebiet anzuschließen, das ist unser Ziel. Natürlich bin ich mit einer Rolle Kacktüten bewaffnet, denn so lange ich mich in der Gegend nicht auskenne, kann es mit Ernie schnell zu peinlichen Situationen kommen. Da sollte man eine Tüte zur Hand haben, wenn der Bub meint, direkt vor einer fremden Gartentür eine Bombe deponieren zu müssen.
Keine fünfzig Meter weiter, für die wir allerdings zehn Minuten brauchen weil Ernie jeden Grashalm so intensiv beschnüffelt, als wollte er eine Doktorarbeit darüber schreiben, stehen wir vor einem dunkelgrünen Zaun, der den Spielplatz eingrenzt. Dahinter das übliche Bild: eine große Sandfläche, eine Rutsche und eines dieser runden Drehdinger, auf die man sich setzt und per Hand das Rad in der Mitte antreibt. Darauf musste ich schon als Kind kotzen.
Im Hintergrund spielen friedlich zwei ungefähr Fünfjährige, sie graben fasziniert und irgendwie weggetreten mit bloßen Händen im Sand. Ernie buddelt auch gerne - vielleicht sollte ich das auch mal probieren, scheint eine fast meditative Übung zu sein.
Rechts, auf einer rot gestrichenen Holzbank, sitzt eine junge Mutter. Einen Kinderwagen vor sich, ein Kleinkind zu ihren Füßen. Es quengelt unüberhörbar laut und deutet hektisch auf sein Schienbein. Die blaue Hose mit den weissen Sternchen drauf hat der kleine Junge hochgezogen.
„Aber es tut aua!“, greint er, gelblicher Rotz tropft auf seine Oberlippe.
„Janosch, das ist nur ein Punkt. Ein rotes Pünktchen. Das ist nichts schlimmes ...“, versucht ihn seine Mutter zu beschwichtigen. Ihre Wangen sind leicht gerötet, ob von der Hitze oder weil der Junge sie nervt, kann ich nicht beurteilen. Ist mir auch völlig egal, ich will mit Ernie endlich in den kühlen Wald, seine Zunge hängt schon am Boden. Während der Junge, keineswegs durch die Worte seiner Mutter besänftigt, weiter jammert, fängt auch noch das Kind im Kinderwagen leise an zu heulen.
„Mama, kann ich davon sterben?!“, ist nun Janoschs nächste Frage, begleitet von einem blubbernden Rotzgeräusch. Seine Unterlippe zittert. Seine Mutter antwortet:
„Aber nein, wie kommst du denn auf sowas - das ist nur ein Mückenstich. Davon stirbt man nicht!“
Kurz überlege ich, mich in das Mutter-Sohn-Gepräch einzuschalten mit den Worten:
›Junger Mann! Deine Zweifel sind absolut berechtigt. Es könnte sich, anstatt eines harmlosen Mückenstichs, um den Laserzielpunkt einer Waffe handeln. Genau, eines tödlichen Heckenschützen, der gerade auf dein Bein zielt! Es könnte sich jeden Moment in einem Schwall aus Blut und pulverisiertem Knochen auflösen!‹ Gott sein Dank habe ich keine Kinder.
Grinsend zupfe ich an Ernies Leine, aber der hat nun einen grellbunten Ball entdeckt, der unbeachtet im Sand liegt. Gleichzeitig lauscht er aufmerksam auf das sich zu einem schrillen Kreischen steigernden Weinen des Babys. Während die Mutter weiter auf ihren Janosch einsäuselt, greift sie mit der anderen Hand an den Kinderwagen und schaukelt ihn sachte.
„Weiter, Ernie!“, versuche ich, die Bulldogge von dem Ball abzulenken. Wie immer, wenn er weiß, dass er etwas nicht bekommen wird, aber in seinem Sturkopf Nachgeben keinesfalls eine Option ist, lässt er sich auf seinen Hintern plumpsen und pumpt die Lefzen auf. Sein Blick fixiert weiterhin den Ball. Na prima. Das kann jetzt dauern. Wenn sich 30 Kilo Muskelmasse setzen und es sich bequem machen, hat man mit 45 Kilo Lebendgewicht am anderen Ende der Leine wenig Handhabe. Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass er für ein Leckerchen den Ball schnell vergessen wird. Mein Hand wandert in die Tasche meiner Jeans und sucht nach einem Hundekeks.
Ein furchtbarer Schrei lässt mich zusammenfahren, Ernie springt vor Schreck einen Meter in die Höhe und fängt wild zu bellen an. Ich lasse den hervorgekramten Keks auf den staubigen Boden fallen, wo es sofort von Ernie eingesaugt und ungekaut runtergeschluckt wird und schaue nach dem Ursprung des Schreies.
Es war die Mutter. Sie hat den Säugling jetzt auf dem Schoss in Bauchlage und starrt mit offenem Mund auf seinen Po oder Rücken. Jetzt dreht und wendet sie das Baby hektisch, ungefähr so wie ich im Supermarkt Verpackungen nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum untersuche.
So weit ich erkennen kann, fehlt dem Zwerg nichts, nur der hellblaue Strampler sieht auf Höhe der Windel schmuddelig aus. Aber warum hat sie dann so erschrocken geschrien? Hin und hergerissen zwischen ›Mir doch egal‹ und ›Sei kein Arschloch, biete Hilfe an‹, stehe ich dumm glotzend einfach da.
Mit fahrigen Bewegungen zieht die Mutter dem Baby nun den Strampler aus und begutachtet jeden Zentimeter frei gelegter Haut. Janosch, nun ruhig, weil abgelenkt, sieht ihr dabei zu. ›Wahrscheinlich ist das Baby von `ner Wespe gestochen worden‹, folgere ich, ›Das kann gefährlich sein, wenn das Kind allergisch reagiert ...‹
„Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?“, höre ich mich selbst rufen. Ich Ritter ohne Furcht und Tadel, ich edler Helfer meiner Mitmenschen. Der Kopf der Mutter ruckt hoch, als sie meine Stimme wahrnimmt. Ich reiße den Arm in die Höhe und winke, weil sie mich irgendwie nicht zu sehen scheint. Ernie starrt schon wieder den Ball an und hat das Bellen eingestellt. Nun sieht die Mutter mich und ruft:
„Ich weiss nicht, mein Baby, es ... Blut ...?!“
›Ach du Kacke. Blut?‹, schießt es mir durch den Kopf. Ich werde hingehen müssen. Kann mich wohl jetzt kaum mit den Worten abseilen ›Blut? Ach, wird schon nicht so schlimm sein, alles Gute, Wiedersehen‹, sondern werde nachsehen müssen.
Um die Hände frei zu haben, binde ich Ernie kurzerhand an dem stabilen Metallzaun an und bedeute ihm mittels ausgestreckter Handfläche, auf mich zu warten. Das geht hier in Ordnung, ich kann ihn von der Bank aus ja sehen und außer uns ist hier niemand. Die beiden kleinen Kinder, die im Sand gegraben haben, sind verschwunden.
Das Gatter zum Spielplatz gibt ein abscheuliches Quietschen von sich, als ich es aufstoße und in Richtung Mutter, Baby und Janosch marschiere. Die beiden letzteren sind ruhig, Janosch kuckt mir mit großen Augen entgegen und das Baby gluckst vor sich hin. Die Mutter atmet stoßweise und fummelt immer noch an dem Säugling herum.
„Blut?“, frage ich bei meiner Ankunft. „Wo denn?“
„Ich ... Ich weiss nicht. Der Strampler ist voller Blut, hinten am Rücken. Aber an Matthias kann ich nichts finden ...“, sagt sie zögerlich.
Matthias. Immerhin. Aus der Nähe betrachtet hätte ich der Dame auch zugetraut, dass sie das Kind ›Tigerente‹ getauft hätte. Sie trägt ein kurzärmeliges Oberteil in Braun und Gelbtönen. Könnte ein Batikmuster oder Babykotze sein. Ein weiter, unvorteilhaft langer Rock verhüllt ihre Beine, die Füße stecken in Birkenstocks. Allerdings in der hippen Version, mit Gänseblümchen dran. Ihre Zehennägel sind türkis lackiert. Das könnte sommerlich frisch aussehen, aber an ihren kalkweissen Füßen hat es einen uncharmanten Wasserleichen-Effekt.
Ratlos schaue ich mir das Baby an, die Frau deutet auf den Strampler, der zerknüllt am Boden vor der Bank liegt. Mit spitzen Fingern hebe ich ihn auf. Igitt. Aber was soll ich sonst machen?
„Was ist mit Matthias, Mama?“, erhebt sich nun wieder Janoschs Stimmchen. Immerhin hat er den Laserpunkt an seinem Bein vergessen. „Muss Matthias sterben, Mama?“, fragt er, nicht ohne ein gewisses Frohlocken in der Stimme. Verständlich, kleine Brüder sind furchtbar. Trotzdem: ein sehr morbides Bürschchen. Die Mutter ist nun halbwegs beruhigt, sie scheint keine Verletzung an Baby Matthias gefunden zu haben. Sie wendet sich mir zu, lächelt zaghaft mit einem Seitenblick auf Janosch und erklärt mir:
„Janoschs Kaninchen ist heute morgen in den Kaninchenhimmel gekommen“, dann schaut sie Janosch an und sagt: „Was aber nicht bedeutet, dass heute noch jemand sterben muss. Weder du noch dein Bruder.“ Janosch scheint fast enttäuscht. Seine blauen Augen richten sich nun auf Ernie:
„Mama, Mama, darf ich mit dem Hund spielen?“
Alarmiert schüttele ich den Kopf. Das fehlte mir gerade noch, Ernie und ein Vierjähriger - tolle Mischung. Zum Glück gehört Ernie optisch nicht zu den Hunden, die Eltern dazu animieren, ihre Sprösslinge zum ›Ei Ei machen‹ hinzuschicken. Im Gegenteil, in der Regel werden Kinder schnell auf die andere Seite geschoben, wenn wir des Weges kommen. Völlig zu unrecht, aber in Ordnung. Die Mutter sieht das genauso und sagt diplomatisch zu ihrem Sohn:
„Nein, aber du kannst mal schauen, ob noch ein Stück Schokolade im Kinderwagen ist.“ Das lässt sich der Junge nicht zwei Mal sagen und fängt sofort an, wie ein Besessener in der Tasche unterhalb des Griffs zu wühlen. Bonbonpapier fliegt heraus, ein benutztes Taschentuch, ein grüner Schnuller ...
Ich wende mich dem Strampler zu und halte ihn, nun entfaltet, in Augenhöhe. Was ich darauf sehe, versetzt mir einen dumpfen Schlag in den Magen. In meinem Ohr summt es wie bei einem Tinnitus, dann piepst es. Schluckend versuche ich meine Ohren frei zu bekommen und sehe nochmal genauer hin. Das ist wirklich seltsam und irgendwie ... gruselig.
Der Strampler wird durch dunkelrote Flecken verunziert. Sie sind so angeordnet, als stammten sie von einer Hand. Ein blutiger Handabdruck, die Handballen direkt am Hintern, die Fingerspitzen reichen bis zu den Schultern. Eine große Hand.
Die Mutter fängt meinen Blick auf.
„Das sieht aus wie ein Handabdruck, oder?“, fragt sie. In ihren Augen sehe ich die Hoffnung, dass ich eine plausible Erklärung dafür aus dem Hut zaubere oder aber beschwichtige indem ich vorgebe, keinen Handabdruck zu sehen. Eher einer zerquetschte Erdbeere oder so. Doch den Gefallen tue ich ihr nicht:
„Ein Handabdruck, ja. Sieht für mich auch so aus.“
Bevor ich realisiere, was ich tue, halte ich mir das Stück Stoff an die Nase. Ja bin ich denn bekloppt, da hat gerade noch der Säugling reingefurzt oder schlimmeres und ich ... Bäh. Egal, schon passiert. Ich habe dran gerochen. Roch nicht nach Kacke. Sondern tatsächlich leicht nach Eisen. Das scheint wirklich Blut zu sein. Es glänzt stellenweise feucht und ist noch nicht vollständig getrocknet.
„Sagen Sie, haben Sie sich in die Hand geschnitten? Und dann das Baby angefasst?“
Entrüstet schüttelt die Mutter den Kopf:
„Nein, keinesfalls. Der Strampler war sauber, als wir zum Spielplatz los gegangen sind. Plötzlich fing Matthias an zu weinen, ich habe ihn aus dem Wagen genommen und dann war dieser ... Fleck einfach da.“
Höchst mysteriös. Obwohl mir der Kleidungsstil der Mutter nicht gefällt, kann ich doch nicht behaupten, dass sie auf mich den Eindruck einer Lügnerin oder gar einer Kindesmisshandlerin macht. Ganz im Gegenteil. Ich glaube ihr. Und schaue kurz in den Kinderwagen. Das Polster ist gelb mit bunten Sternchen. Keine Blutflecken.
„Hmmm, okay, aber wie kann denn das passiert sein? War jemand anderer außer Ihnen an dem Kinderwagen?“
„Gott behüte, natürlich nicht!“, antwortet sie, eine Falte erscheint über ihrer Nasenwurzel. Solche Fragen scheinen ihr nicht zu schmecken. Sie klopft Matthias sanft auf den Rücken, was ihm ein leises Rülpsen entlockt. Dann blubbert er zufrieden weiter, ein Speichelfaden versickert im Rock der Dame.
Ich lege den Strampler auf die Bank, argwöhnisch beobachtet von Janosch, der die Backen voller Schokolade hat. Um ihn herum verstreut im Sand liegen Kinderschokoladen-Papierchen. Eher pro forma lege ich den Kopf in den Nacken und schaue in den Himmel. Vielleicht haben ja doch irgendwelche Bäume rote Beeren in den Kinderwagen plumpsen lassen. Das ist natürlich totaler Blödsinn, in Reichweite steht kein Baum und am Rande des Spielplatzes gibt es nur Tannen und Eichen. Kurzfristig macht ein direkt über unsere Köpfen hinweg donnerndes Flugzeug jegliche Konversation unmöglich. Das gibt mir Zeit, zu überlegen: Sollte ich den Vorschlag machen, den Vorfall der Polizei zu melden? Das würde die Frau sicher als Angriff auf ihre Person werten. Und was sollte man auch sagen? Vielleicht: ›Guten Tag, liebe Ordnungshüter, wir haben es hier mit einem dreckigen Strampler zu tun. Riecht komisch, könnte Blut sein. Sieht außerdem aus wie der Handabdruck eines Riesen oder eine Monsterklaue. Nein, sonst sind alle wohlauf und auch bei geistiger Gesundheit, danke der Nachfrage.‹ Lieber nicht.
Nun habe ich leider keine Ahnung mehr, was ich hier noch soll und was ich zu diesem Thema noch konstruktives beitragen könnte. Weil ich höflich bis zur Grenze zum Servilen bin frage ich erneut, ob ich noch irgendwie helfen kann. Die Mutter verneint und schaukelt den Säugling weiterhin auf ihrem Schoss.
„Nein, sehr nett von Ihnen, ich wüsste nicht wie. Ich bringe die Jungs jetzt nach Hause, Matthias sollte nicht nackt in der Sonne sein und das Ding will ich ihm nicht wieder anziehen.“ Sie macht eine nickende Kopfbewegung zu dem besudelten Strampler hin.
Nach ein paar höflichen Verabschiedungsfloskeln trennen sich unsere Wege, ich binde Ernie vom Zaun los. Da höre ich ein mir unbekanntes Geräusch. Ein klapperndes Scheppern, durchsetzt von kruden hohen Tönen, wie von einem Wahnsinnigen auf einer Triangel gehämmert. Es kommt aus meiner Hosentasche.
Mein Smartphone, es klingelt. Ich habe Empfang! Das ist eine völlig neue Erfahrung. In unserem alten Wohnort konnte ich nicht mal eine SMS verschicken, wenn ich nicht im Badezimmer, eingekeilt zwischen Toilette und Fensterbrett, das Telefon gen Himmel reckte. Telefonieren war unmöglich und so habe ich seit Urzeiten mein Telefon nicht mehr klingeln hören. Wer - zur Hölle - hat diesen Klingelton eingestellt? Ich glotze auf das Display, mein Wurstfinger versucht den Anruf anzunehmen und drückt ihn natürlich weg. Seufzend rufe ich zurück.
„Max? Hast du mich eben angerufen?“
Die Mutter flaniert nun mit Kind und Kegel an Ernie und mir vorbei, ich winke ihr mit dem kleinen Finger der Hand zu, die das Smartphone an meine Ohr presst. Die andere brauche ich, um Ernie festzuhalten. Er riecht Schokolade und Kekse.
„Isa?! Wo steckst du denn?! Komm sofort nach Hause, wir haben ein mächtiges Problem!“
Kapitel 2
Kopf ab
„Hast du auf der Couch geschlafen?“
Ludger muss Dita nicht ansehen um zu wissen, dass er richtig liegt. Ihre Bettseite war unbenutzt als sein Wecker vor einer halben Stunde geklingelt hatte. Mal wieder.
Eine Wolke teuren Rasierwassers umweht ihn, als er auf die überdachte Terrasse tritt, in der Hand eine Tasse Cappuccino. Dita sitzt in einem der schweren Korbsessel und sieht nun zu ihm auf.
„Ja, im Schlafzimmer war es mir zu warm.“ Demonstrativ senkt sie den Kopf wieder und heftet den Blick auf eine Zeitschrift vor ihr auf dem Tisch.
Eine Lüge. Beide wissen es, aber keiner möchte daran rütteln. Keiner der beiden hat Lust, das Thema weiter zu vertiefen. Als sie es vor ein paar Wochen taten, hatte dieses Gespräch ihre Ehe beinah in eine Krise gestürzt.
›Wenn wir das noch einmal durchkauen, übersteht unsere Beziehung das nicht, er hält mich für verrückt‹, hatte Dita damals gedacht und sich geschworen, das Thema nicht mehr anzurühren. Nur leider stand sie jetzt mit dem Problem hilflos und allein da. Und geändert hatte sich nichts. Im Gegenteil: Es wurde schlimmer.
Ein Scharren und ein Knarren, Ludger hat sich neben sie an den Tisch gesetzt. Dita sieht nicht mehr auf, sie gibt vor, interessiert zu lesen. Ihre Hand greift zu ihrer eigenen Kaffeetasse, sie nimmt einen Schluck.
„Was hast du heute vor, Liebes?“, fragt Ludger und zückt sein silbernes Zigaretten-Etui.
›Aha. Themenwechsel.‹
„Nichts besonderes ...“, antwortet sie ausweichend und sieht ihren Ehemann dabei immer noch nicht an.
Ludger scheint sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben, zündet sich eine Zigarette an und lässt das Etui wieder in der Tasche seiner schwarzen Anzughose verschwinden. Automatisch rückt Dita den Aschenbecher in seine Richtung. Ihre Gedanken wandern zu dem Tag zurück, als es begann. Ohne es zu wollen, sie merkt es nicht mal, schweift ihr Blick hoch zu dem Fenster des Nachbarhauses, das sich keine fünf Meter entfernt vom Fenster ihres Schlafzimmers befindet. Die dunkelblaue Jalousie ist gegen die Sommerhitze herunter gelassen. Nichts rührt sich dort, wie immer. Ludger bläst den Rauch durch die Nase aus und beobachtet sie. Dita ignoriert ihn.
Es war vor mehr als acht Wochen gewesen, ein ruhiger Nachmittag, Dita stand im Schlafzimmer und bügelte Ludgers Hemden. Ein seichter Frühlingswind kühlte ihr erhitztes Gesicht durch das geöffnete Fenster und blähte die transparenten Vorhänge.
›Was hat er denn da wieder gemacht?‹, dachte Dita unwirsch und hielt eines der weißen Hemden an den Schultern hoch. Die Knopfleiste war in Brusthöhe verschmutzt, trotz Bleiche. Mit gerunzelter Stirn rieb sie über den Fleck. ›Bestimmt Tomatensoße‹ Verdammt. So konnte Ludger keinesfalls zur Arbeit gehen. Ein selbstständiger Steuerberater sollte eine blütenreine Weste, beziehungsweise ein blütenweißes Hemd haben.
Erneut trug ein sanfter Windstoß den wunderbaren Duft von Frühlingsregen auf sonnenwarmem Rasen ins Schlafzimmer. Unwillkürlich atmete Dita tief ein, schloss die Augen und ließ das Hemd auf das Bügelbrett sinken.
Mit diesem Geruch assoziierte sie die schönen Tagen ihrer Kindheit, Ferien, laue Sommernächte ... Seufzend öffnete sie die Augen und griff zum Bügeleisen, als ihr Blick an dem mit einem goldenen Rahmen gefassten Spiegel über der Kommode an der Wand hängen blieb. Sie sah sich selbst bis zur Brust, die immer etwas wirren, rötlichen Haare, das Gesicht mit der sommersprossigen Nase und dem spitzen Kinn. Schräg hinter ihr das Fenster mit der wehende Gardine. Zunächst begriff sie überhaupt nicht, was sie dort sah. Der leichte Stoff spannte sich in einem merkwürdigen Winkel. Stirnrunzelnd betrachtete Dita das Spiegelbild.
›Was ist das ... So windig ist es doch nicht, dass ...?‹, mitten in ihrer Überlegung kam die Angst, blitzschnell und ohne Vorwarnung. Sie drehte sich herum und starrte auf die Gardine, unfähig zu verstehen, was sie dort sah, unfähig sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.
Der leichte Stoff bauschte sich um einen Körper. Größer als ein Mensch, aber eindeutig die Silhouette einer kräftigen Gestalt. Ditas Mund stand offen, ihre Augen saugten sich an der Erscheinung fest. In ihrem Gehirn herrschte Leere. Die Gardine formte zwar die Gestalt, doch zu Erkennen war sonst nichts. Hinter dem durchsichtigen Stoff sah sie eindeutig den braunen Holzrahmen des Fensters und die Glasscheibe - keine Kleidung, keine Haut, kein Gesicht. Nichts.
Der Kopf wirkte ungeschlacht und klobig, wie ein dicker Kürbis. Mittig stach eine Art Nase in knorpeliger Form hervor. Seitlich baumelnde Arme. Der rechte schien sich zu heben, die bodenlange Gardine schob sich nach oben und ...
Ein furchtbarer Schmerz in ihrem Fuß ließ Dita wieder zur Besinnung kommen. Mit einem grellen Kreischen sprang sie einen Meter rückwärts, stiess mit der Hüfte gegen die Kommode und brachte diese derart zum Schwanken, dass die blaue Glasvase mit den frischen Tulpen am Boden in tausend Scherben zersprang. Dita nahm vor Schmerzen nichts wahr, kauerte sich auf den Boden und starrte auf ihren Fuß: der nackte Spann wies eine knallrote Schwellung auf, deutlich als Spitze des Bügeleisens auszumachen. Offenbar war ihr das glühend heiße Eisen aus den Fingern gerutscht und auf ihrem Fuß gelandet. Jetzt stand es ungefähr fünfzig Zentimeter von ihrem Fuß entfernt auf den Holzdielen. Mit einem Fluch griff Dita danach. Zu spät: Ein hässlicher schwarzer Abdruck hatte sich in den teuren Holzboden gebrannt. Erst jetzt kam ihr die Erscheinung am Fenster wieder in den Sinn. Ihr Blick hob sich. Vollkommen unschuldig und unbewegt hing die Gardine vor dem Fenster. Keine Gestalt, kein Windhauch.
Mühsam mühte sich Dita auf die Beine, stellt das Bügeleisen auf das Bügelbrett und zog den Stecker. Argwöhnisch beobachtete sie dabei die Gardine. Ein beherzter Schritt nach vorne und ihre Hand berührte den zarten Stoff. Grübelnd ließ sie ihn durch die Finger gleiten.
Hatte sie wirklich etwas gesehen? Diese Frage musste sie bejahen. Aber was? Eine Gestalt hinter der Gardine? Wo sollte diese hergekommen sein? Nein, rational betrachtet hatte der Wind die Gardine aufgebläht. Der Rest war reine Fantasie. So, wie man plötzlich Tierformen in den Wolken ausmacht, wenn man lange genug hinauf sieht.
Mit einem leichten Kopfschütteln ließ Dita die Gardine fallen. Ihr Fuß pochte erbärmlich, sie musste ihn sich genauer ansehen, vielleicht zum Arzt gehen ... Vorsichtig humpelte sie um die Scherben herum ins Badezimmer.
„Tut das eigentlich noch weh?“, reißt sie Ludger in diesem Moment aus ihren Gedanken und zeigt auf ihren nackten Fuß. Konnte er Gedanken lesen? Er meinte die Stelle, auf der das Bügeleisen eine schmerzhafte Brandblase hinterlassen hatte. Einen Arzt hatte sie deswegen nicht konsultiert, konnte aber wochenlang nur Ballerinas tragen. Jetzt war die Blase zu einem hellrosa Fleck geworden, ein rein optischer Makel.
„Nein, ich merke es gar nicht mehr“, lautet ihre Antwort, aber im Stillen, für sich, fügt sie hinzu: ›Aber was da oben vor sich geht, davon merke ich einiges, aber davor verschließt du ja die Augen ...‹
„Dann ist es ja gut“, erwidert Ludger mit den Gedanken vollkommen woanders, erhebt sich und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Bis heute Abend.“
...
Versonnen blinzelt der alte Knabe, auf einen Krückstock gestützt, das kleine Mädchen vor sich an. Seine Lider hängen so schwer über den blassen Augen, dass er wahrscheinlich nur noch schemenhaft sieht. Der Herr hat mindestens 100 Jahre auf dem Buckel und verzieht den Mund nun zu einem zahnlosen Grinsen. Ich passiere mit Ernie an der Leine den kleinen Krämerladen inklusive Bäcker und will die Bulldogge gerade am Fahrradständer festbinden, um meine Brötchen zu kaufen. Der Opa und das kleine Mädchen stehen direkt vor der Tür. Im Inneren des Ladens fange ich den Blick der besorgten Mutter auf, die gerade über den Tresen nach ihrer Brötchentüte greift. ›Dürfen Kinder auch nicht in den Laden?‹, frage ich mich, als die Mutter zur Tür herauskommt. Ein Glöckchen über dem Rahmen bimmelt leise und melodisch. Darüber steht in verblassten, kaum noch lesbaren Buchstaben ›Konsum‹. Wohl aus ausschließlich nostalgischen Gründen.
„Na, meine Kleine, tanzt du schön?“, fragt der Alte das Mädchen, das die Augen seltsam aufgerissen hat und den Mund verzieht, als wolle es etwas ausspucken. Dabei wedelt es mit den Armen und stampft mit den Füßen, die in rosa Sandaletten stecken. Ein spastischer Steppschritt nach links, ein wackeliger Hopser nach rechts. Ein Grunzen dringt aus ihrem Mund, soll wohl ein Lied sein. Das Kind hat offensichtlich ein kleines Problem geistiger Natur. Und die nette Frage des Opas, ob die Kleine auch ›schön tanzt‹, bringt ihm ein wütendes Stirnrunzeln der Mutter ein. Die Bemerkung war ja auch völlig daneben, das Mädchen hat eher einen Anfall als die Absicht zu tanzen. Mein schlechter Charakter treibt ein Grinsen über diese absurde Szene auf meine Lippen.
Zackig nimmt die Mutter das Mädchen bei der Hand und macht sich unter dumpfen Protestlauten des Kindes vom Acker. Ich binde Ernie fest und betrete den Laden.
Am Tresen steht ein gebeugtes Großmütterchen, welches in einer Handtasche rumkramt, die fast so groß ist wie sie selbst und Ende des Zweiten Weltkrieges sicher der letzte Schrei gewesen ist. Dahinter ein breitschultriger Mann mit teuer aussehender Lederjacke - Bellstaff, vermutet mein geschultes Auge - und dunklen Haaren, der ungeduldig auf einem Fuss wippt. Die pausbäckige Angestellte hinter dem Tresen taxiert das Großmütterchen auf seiner Suche nach seinem Geldbeutel. Jetzt fischt sie ihn mit zitternder Hand aus der XXL-Tasche.
Schnell drehe ich mich zu Ernie rum, sein flacher Riesenschädel glotzt mit Polizeiblick durch das bodentiefe Fenster. Sonst ist draußen niemand zu sehen. Beruhigt drehe ich mich wieder in Richtung Tresen.
„Wie viel sollte das jetzt ... Oh ... ich befürchte .. ich ... Moment, bitte ...“
Großmütterchen gerät ins Stammeln, während sie einen kleinen Haufen Groschen in ihrer Hand abzählt. Die Bäckerin bleibt cool und wiederholt höflich den zu zahlenden Betrag:
„2,79 Euro.“
Großmütterchen lässt weiter zählenderweise ihr Kleingeld klimpern, untermalt von einem genervten Seufzer des Mannes in der Lederjacke. Mit einer unwirschen Kopfbewegung wirft er seinen dunklen Pony nach hinten. Er scheint es verdammt eilig zu haben.
Jetzt lässt die alte Dame in ihrem für die Jahreszeit viel zu warmen dunklen Mantel auch noch zwei Centstücke fallen. Der Fatzke vor mir macht keine Anstalten, der Oma zu helfen und so trete ich nach vorne und klaube das Kleingeld vom Boden. Eines der Centstücke ist mir sowieso direkt vor die Fußspitze gerollt. Mit einem freundlichen Lächeln trete ich an Fatzke vorbei, rieche den Lederduft seiner Jacke und ein exklusives Herrenparfum und lege der Oma ihr Geld in die ausgestreckte Handfläche.
„Sehr freundlich von Ihnen, junge Frau, ich danke Ihnen.“
Mit einem Nicken drehe ich mich um und reihe mich wieder hinter Fatzke ein, nicht ohne einen abschätzigen Blick in sein Gesicht zu werfen der ihm hoffentlich klar macht, dass das sein Part gewesen wäre. Mein nonverbaler Tadel prallt an ihm ab, er schaut mich nicht mal an an, sondern fingert ein iPhone aus seiner Jackentasche und beginnt darauf herum zu drücken.
„Es tut mir leid, ich habe habe nur 2,59 Euro, ich muss etwas zurücklegen ... was kostet das Croissant ...?“, Großmütterchen hat offenbar einen Überblick über ihre aktuelle Finanzlage gewonnen und dieser ist nicht positiv ausgefallen. Bevor die Bäckerin auf ihre Bitte eingehen kann, höre ich Fatzke halblaut blöken:
„Könnte sonst vielleicht die arbeitende Bevölkerung zuerst bedient werden?!“
Oh. Nett. Da fällt mir spontan der Fachausdruck für unsympathische und arrogante Menschen ein: Arschloch. Kopfschüttelnd mustere ich ihn im Profil. Gut sieht er aus, keine Frage. Dunkle Augen mit langen Wimpern, ein etwas zu energisches Kinn und einen schmalen Mund, allerdings mit missmutigen Falten an den Winkeln. Nun, jemand kann so gut aussehen, wie er nur will, wer sich so benimmt, ist schlicht hässlich.
Die Bäckerin geht gar nicht auf seinen Einspruch ein, sondern nimmt die Tüte der alten Dame zur Hand und öffnet sie raschelnd. Großmütterchen sieht ihr mit traurigem Blick zu, man spürt, wie peinlich ihr die Situation ist. In diesem Moment ertrage ich diese Szene nicht mehr und hole meinen Geldbeutel hervor.
„Hier, ich bezahle das!“, sage ich und lege drei Euro in die kleine Plastikschale auf dem Tresen. Die Bäckerin reicht mir die Tüte, die ich direkt an Großmütterchen weiter gebe. Fatzke rollt mit den Augen und wendet sich wieder seinem Smartphone zu. Gleich scheuere ich dem Arschloch eine. Eine Jacke für zweitausend Tacken am Leib, aber keine drei Euro für ‘ne arme Oma.
Der alten Dame stehen aufgrund meiner Geste die Tränen in den Augen hinter der dicken Brille, was mir ungeheuer peinlich ist.
„Das geht doch nicht, junge Frau, ich ... Nehmen Sie doch wenigstens mein Geld, ich ...“, stottert sie und streckt mir ihr Klimpermünzen hin. Ich schließe ihre Finger über dem Geld und drücke den Arm sanft zurück.
„Nehmen Sie nur, es ist schon in Ordnung“, sage ich. Sie bedankt sich noch ganze vier Mal und trollt sich dann - Gott sei Dank - langsam von dannen. Ich sehe ihr nach, da erhalte ich einen derben Stoss in die Seite.
„Einen Latte, groß und ohne Schnickschnack, ein Plunderhörnchen und eine Malzbrot.“
Stolpernd kann ich mich abfangen und sehe Fatzke, der mich zur Seite gedrängt hat und gerade seine Bestellung an den Mann, beziehungsweise an die Frau, bringt. Rotzigkeit ist man in dieser Stadt ja gewohnt und gehört quasi zum guten Ton, aber jetzt platzt mir der Kragen:
„Jetzt pass’ mal auf, Freundchen“, beginne ich. Das Herz klopft mir bis zum Hals, ich hasse Konfrontationen dieser Art. Aber ich weiss, dass ich mich noch tagelang ärgere, wenn ich dieses Benehmen unkommentiert durchgehen lasse.
Mein Tonfall zeigt Wirkung, das Gesicht des Mannes fliegt zu mir herum. Irgendwas in seinem Blick lässt mich kurz zurückzucken. Dann ist der Moment vorbei, er hebt eine Augenbraue und will offenbar zu Sprechen ansetzen. Ich fahre ihm kurzerhand über den Mund:
„Ihr Benehmen ist unter aller Sau. Wenn Sie schon keine drei Sekunden warten können, bis eine alte Dame ...“, setze ich an, komme aber nicht weiter. Denn die Bäckereifachverkäuferin reicht Fatzke in diesem Moment seine Tüte. Er grabscht wortlos danach, knallt einen fünf Euro Schein, den er schon in der Hand hatte, auf den Tresen und macht auf dem Absatz kehrt.
„Hey, ich rede ... mit Ihnen!“, rufe ich ihm hinterher, das ›mit Ihnen‹ geht im Zuknallen der Ladentür unter. Der Penner ist einfach gegangen.
Sprachlos glotze ich ihm hinterher und hoffe kurz, dass Ernie ihn in die Wade beisst. Aber der schnüffelt an der Schaufensterscheibe und fängt gerade an, an dieser zu Lecken. Seine dicke Zunge presst sich gegen das Glas und hinterlässt milchige Schlieren. Fatzke verschwindet aus meinem Sichtbereich.
„Ein angenehmer Zeitgenosse“, wende ich mich ironisch der Verkäuferin zu. Sie verzieht keine Miene. Offenbar nicht bereit sich einzumischen oder über ihre Kundschaft herzuziehen. „Was darf’s sein?“
Ich trage meine Wünsche vor und stehe eine Minute später wieder bei Ernie auf der Straße. Nachdem ich ihn für sein Warten mit einem Stück getrockneten Pansen aus meiner Jackentaschen belohnt habe (mein ganzer Anorak riecht danach), sehe ich aus dem Augenwinkel einen dunklen, bulligen SUV mit viel zu hoher Geschwindigkeit die Straße herunter brettern. Am Steuer sitzt Fatzke, wer auch sonst? Natürlich mit seinem Smartphone am Ohr. Kopfschüttelnd machen wir uns auf den Heimweg.
...
Ditas Atem geht schwer. Die Augen hinter den geschlossenen Lidern scheinen etwas zu verfolgen, sie hetzen hin und her. Sie zittert und zuckt, ihr Atem stockt. Nach wenigen Sekunden stösst sie zischend die Luft aus, eine Strähne ihres rostroten Haares, die quer über ihrer Nase und Stirn liegt, fliegt von ihrem Atem auf. Ihre Hände zunächst locker ausgestreckt auf ihrer Brust, nun krampfen sie sich zu Fäusten, die Rechte schnellt nach oben, als wollte sie etwas wegstoßen.
Sie stöhnt wie ein verwundetes Tier. Draußen neigt sich der Nachmittag dem Ende. Ein Sonnenstrahl, der den Weg durch die Wolken gefunden hat, lässt ihre Haare flammend aufleuchten. Dann liegt ihr Gesicht wieder im tiefen Schatten.
„Nein ...“
Das Wort kommt über ihre Lippen, während ihre Augen immer noch einen wilden Tanz vollführen. Das Nein gehaucht, fast unhörbar. Jetzt ein Wimmern. Warme, starke Armen schließen sich um Ditas Brustkorb. Es fühlt sich an wie früher, als Ludger und sie frisch verliebt waren und er sie immer von hinten beim Einschlafen umarmte. Ludgers Körper schmiegt sich an ihren Rücken, sein Griff wird fester. Dita stöhnt erneut und versucht, ein Stück von ihm weg zu rücken. Sie kann sich nicht bewegen, seine Arme halten ihre Brust wie Stahlklammern an Ort und Stelle. Sie öffnet die Augen und will sich aufsetzen. Ihr Körper gehorcht ihr nicht.
›Du träumst ...‹, hört sie sich in Gedanken sagen, im dämmrigen Zwielicht zwischen Wachen und Schlafen.
›Wach auf ...‹
Ditas Augen starren an die Decke mit den weißen Holzbalken. Das ist nicht ihr Schlafzimmer, sie liegt auf der Couch im Wohnzimmer. Die Arme sind immer noch da.
Jetzt ist Dita hellwach, sie will schreien, kann aber nicht mal die Lippen bewegen. Sie will aufstehen, sich losreißen, aber ihr Körper fühlt sich an, als wäre ihre Haut durch Blei ersetzt worden. Im Gefängnis ihres Körpers kann sie keinen Muskel rühren, sie zappelt innerlich wild, doch nichts bewegt sich. Sie hört ein stampfendes Geräusch und wird sich im selben Moment bewußt, dass das ihr Atem ist, der stoßweise wie ein Dampfhammer aus ihrer Nase strömt.
›Ich ersticke, ich ersticke, kann nicht atmen, ich ...‹.
Ditas Schädel dröhnt, verzweifelt verdreht sie die Augen zur rechten Seite, die einzige Bewegung, zu der sie fähig ist, während sie mit zusammengekniffenem Mund und diesen ... Armen um ihre Brust auf der Couch festgenagelt liegt. Ditas Augäpfel drohen aus den Höhlen zu springen, so sehr verdreht sie sie, die Schmerzen in ihrer Brust werden unerträglich.
Ein Schlüsselklappern an der Haustür.
„Hallo? Bin heute früher da!“
Ludger.
Jetzt löst sich der Schrei aus Ditas Kehle, mit einem Ruck schnellt Dita von der Wohnzimmercouch und knallt, mit der Stirn voran, auf die Holzdielen vor der Couch. Nur um einen Millimeter verfehlt ihr Kopf die spitze Glaskante des Beistelltisches. Schwer um Atem ringend bleibt sie liegen.
Ein Poltern, dann stürzt Ludger in den Raum. Seinen Aktenkoffer hat er fallen lassen, der graue Mantel weht hinter ihm her. Blankpolierte Budapester tauchen vor Ditas Nase auf.
„Schatz?! Um Gottes Willen, was ist denn?“
Ludgers Hand umfasst sanft ihre linke Schulter und dreht sie auf den Rücken. Ditas leichenblasses Gesicht sieht verwirrt zu ihm auf. Sie keucht, auf ihrer Stirn stehen Schweißperlen, ihre Oberlippe zittert.
„Dita! Alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt holen?!“
Er schüttelt sie leicht. Sein dringlicher Tonfall bringt Dita endgültig zurück ins Hier und Jetzt. Ihr Blick hetzt zur Couch. Ihre weiße Wolldecke zerknautscht auf Fußende. Keine Arme.
Ditas eiskalte, zitternde Hand fährt zu der anschwellenden Beule an ihrer Stirn. Jetzt sieht sie in Ludgers weit aufgerissene Augen und antwortet mit kaum hörbarer Stimme:
„Keine Arzt. Nur ein ... Albtraum.“
...
Als Ernie und ich die Haustür aufschließen (wozu ich drei Versuche brauche und fast den Schlüssel abbreche, das Mistding klemmt), setzt sich Max immer noch mit dem ›mächtigen Problem‹ auseinander, mit dem er mich am Spielplatz aufgeschreckt hatte. Gerade höre ich ihn am Telefon sagen:
„Aber es kann doch nicht sein, dass wir eine Glasfaser-Leitung bezahlen und dann überhaupt kein ...“
Ich muss lachen. Max’ mächtiges Problem besteht im Moment darin, dass wir kein Internet haben. Das ist für ihn so wichtig wie die Luft zum Atmen und lässt keinerlei Raum für anderes.
Er hatte mir kaum zugehört, als ich ihm am Handy von der jungen Mutter, dem Baby und dem roten Abdruck auf dem Strampler berichtet hatte. Seine Gedanken kreisten um das mächtige Problem, nicht um vollgeschissene Windeln - so kam die Story offenbar in seinem Kopf an.
Ich befreie Ernie von seinem Halsband und höre Max im ersten Stock wütend auf und ab stampfen. Die Bulldogge hüpft sofort in Richtung Küche und postiert sich strategisch günstig vor seinem Napf. Nach einem Spaziergang ist er immer hungrig und erwartet nun einen Lunch. Ich folge ihm mit der Brötchentüte in der Hand, lege sie auf den Küchentisch in der Mitte des Raums und drücke mir erst mal einen Kaffee an unserem Vollautomaten.
›Immerhin funktioniert die Kaffeemaschine - das wäre Super-Gau Nummero Duo für Max‹, schmunzele ich. Ernie stöhnt theatralisch, legt sich neben seinen Napf und schaut mich treuherzig an. Er verhungert, völlig klar. Als ich gerade eine Ladung Trockenfutter in seinen Napf kippe, erscheint Max am Türrahmen:
„Ich könnte eine Tüte Buchstaben-Suppe fressen und was Sinnvolleres kotzen als dieses Support-Gelaber ...“, legt er los und redet dann ohne Punkt und Komma über Splitter, Router und Speedtests. Ich verstehe nur Bahnhof und höre auch eigentlich nur mich selbst und Ernie kauen. Das Croissant des Konsum-Bäckers ist butterig und frisch, fast wie in Frankreich. Ich seufze zufrieden, Ernie verabschiedet sich mit einem lauten, sehr menschenähnlichen Rülpser aus der Küche und verzieht sich auf die Couch im Wohnzimmer.
„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragt Max mich stirnrunzelnd, während ich mit dem Finger die letzten Croissant-Krümel vom Teller aufpicke und in den Mund stecke.
„Klar, wir haben kein Internet.“
Max schaut mich eine Sekunde lang ungläubig an, dann verfallen wir beide in einen Lachkrampf, der von Ernies wildem Gebell und lautem Gerumpel unterbrochen wird. Es klingt, als würde ein Gletscher in der Antarktis ins Rutschen kommen. Max und ich springen auf und rennen ins Wohnzimmer. Ernie hingegen steht im Flur vor der Haustür und bellt als wäre ihm der Leibhaftige erschienen.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2708-8
Alle Rechte vorbehalten