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Prolog

 

Um drei Uhr in der Nacht ist der Mensch dem Tod am nächsten. Zu keiner anderen Stunde wird so viel gestorben.

Zu dieser Zeit sind die vitalen Funktionen des Körpers am schwächsten, Psyche und Physis instabil.

Wenn alle Kraft und Abwehr schwindet, sind wir am verwundbarsten.

Drei Uhr nachts: Die Stunde der Dämonen ist angebrochen.

 

 

21.November 1993

 

„Vielen Dank, dass Sie kommen konnten.“

Der Händedruck des Priesters fühlt sich warm und fest an. Beruhigend. Dennoch bleibt ein beklommenes Gefühl.

›Tun wir das Richtige? Ist das nicht alles Irrsinn ...?‹ Klaus nimmt sich einen Moment lang Zeit, den großgewachsenen Mann im schwarzen Talar zu mustern. Keine Spur von biederer Frömmigkeit. Seine hellen Augen blicken interessiert und aufmerksam. Er wertet die Situation nicht, er wirkt nur gespannt auf das, was ihn hier erwartet.

„Kein Problem. Helfen ist unser Business.“ Er lächelt warm und zwinkert Klaus und seiner Frau Yvonne zu. Yvonne, blass, verhärmt, mit unordentlichem Haar, steht mit vor der Brust gekreuzten Armen hinter Klaus. Die Schrecken der letzten Zeit haben sich tief in ihre Gesichtszüge eingegraben. Ihre Hände versteckt sie in den langen Ärmeln ihrer braunen Strickjacke.

„Treten Sie doch näher.“

Klaus weist den Priester in den großen Salon der alten Villa. Während die beiden Männer über das blank polierte Stäbchenparkett auf die Sitzgruppe zugehen, erinnert sich Yvonne ihrer Aufgabe als Hausherrin und Gastgeberin:

„Möchte jemand einen Kaffee? Oder etwas anderes?“

Klaus dreht sich zu ihr um, sie ist im Rahmen der zweiflügeligen Tür stehen geblieben. Er nickt ihr zu, der Priester antwortet mit: „Einen Kaffee, sehr gerne. Schwarz bitte.“ Yvonne dreht sich ohne ein weiteres Wort um und verschwindet lautlos den Flur hinab. Klaus und der Priester setzen sich.

„Nun, was erhoffen Sie sich von mir als Vertreter der katholischen Kirche?“

Eines muss man dem Mann jetzt schon lassen: Er redet nicht um den heißen Brei, sondern kommt direkt zur Sache. Klaus schluckt. Das ist eine gute Frage, auf die er keine Antwort hat. Das heißt, er weiß schon, was er will: Das es aufhört.

„Vielleicht könnten Sie ein paar Vaterunser beten und Weihwasser in den Räumen versprühen?“

Klaus ärgert sich im selben Moment, in dem er den Satz ausgesprochen hat, über sich selbst. Warum zieht er die Situation ins Lächerliche? Warum witzelt er über die Arbeit dieses Mannes, der hier ist, um ihnen zu helfen?

„Entschuldigen Sie, ich wollte nicht ... Ich ... Ich weiß einfach nicht mehr weiter.“ Er schlägt resigniert die Hände vor das Gesicht und atmet zittrig tief ein. Als er die Hände wieder von den Augen nimmt sieht er, dass der Priester seinen Ausrutscher nicht krumm genommen hat. Ein verständnisvolles Lächeln umspielt seine Lippen.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Sie stehen unter hohem emotionalem Druck. Erklären Sie mir bitte nochmal im Detail, was vorgefallen ist.“

Klaus lehnt sich zurück, um seine Gedanken zu sortieren. In diesem Moment kommt Yvonne in den Salon. Sie trägt ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und einer Thermoskanne vor sich her. Wortlos stellt sie das Tablett auf den niedrigen Tisch vor der Couch, schenkt den beiden Männern ein und setzt sich dann neben Klaus. Sofort zieht sie die Arme wieder vor die Brust. Eine Schutz - und Abwehrhaltung.

Klaus ist dankbar, dass er ein wenig Zeit gewonnen hat. Er weiß nicht, wo er anfangen soll. Zu seiner Überraschung ergreift Yvonne das Wort:

„Hier im Haus ist etwas“, ihre Stimme zittert leicht, „Jemand ist hier bei uns ...“

Der wohlwollende Gesichtsausdruck des Priesters lädt sie ein, fortzufahren. Nachdem sie sich vergewissert hat, dass er weder schmunzelt noch irgendeine andere ungläubige Regung zeigt, spricht sie weiter:

„Wir werden jede Nacht geweckt. Von merkwürdigen Geräuschen. Ein Klopfen, einmal haben wir auch Stimmen gehört. Letzte Woche war es ein lauter Knall. Als wir nachgesehen haben, standen alle Schränke und Schubladen im ganzen Haus offen ... Und ... und dann sind da die Schatten ...“ Yvonne verstummt. Ihre Augen sind riesig, ihre Hände zittern wie Espenlaub. Klaus legt einen Arm um sie. Sie ist nicht fähig weiter zu sprechen.

„Es stimmt. Über die Wände laufen Schatten. Es ist, als wären Leute hier im Haus. Tut mir leid, aber besser kann ich es nicht beschreiben ...“, fährt Klaus fort.

Der Priester bleibt zunächst stumm. Sein Blick gleitet an dem Paar vorbei auf das große Erkerfenster. Zu sehen ist außer Dunkelheit nichts. Er sieht auf seine Armbanduhr: 20.33 Uhr.

„Es passiert nur nachts?“, fragt er.

„Richtig. Meine Frau sagt aber, sie spürt auch am Tag etwas. Aber vorgefallen ist bis dato nichts ...“ Hilfesuchend blickt Klaus zu Yvonne, die von Minute zu Minute älter aussieht. Aus ihren achtundzwanzig Jahren sind mittlerweile fünfzig geworden, so tief sind die Schatten unter ihren Augen. Sie räuspert sich, strafft den Rücken und erklärt mit nun festerer Stimme:

„Es ist, als würde ich beobachtet werden. Manchmal fühle ich mich, als stünde jemand hinter mir. Doch wenn ich mich umdrehe, ist da niemand.“

Nach ihren Worten herrscht Schweigen, das von Klaus gebrochen wird. Ihm ist noch ein Detail eingefallen:

„Die Elektrik spielt verrückt. Nachts haben wir grundsätzlich keinen Strom, wenn wir aufwachen. Kein Licht funktioniert, aber komischerweise unser Radiowecker. Seine Ziffern leuchten immer. Wir haben uns schon Taschenlampen ans Bett gelegt ...“

Nachdenklich schaut der Priester zunächst auf seine großen, kräftigen Hände, dann zu Klaus und Yvonne.

„Gut, das nehme ich so zur Kenntnis. Warum ziehen Sie nicht einfach aus?“

„Wir können uns nichts anderes leisten“, erklärt Yvonne. „Mein Mann macht gerade sein Referendariat und wir erwarten ein Baby. Ersparnisse haben wir nicht. Die Miete für das Haus ist verschwindend gering. Wir müssen uns nur um die grobe Instandhaltung kümmern und um den Garten ...“, ihre Stimme bricht, „Es ist unmöglich, dass wir hier einfach ausziehen. Wir würden obdachlos ...“, haucht sie kaum noch hörbar.

„Wem gehört das Haus? Wissen Sie etwas über seine Geschichte?“

„Nicht viel. Es gehört wohl einer älteren Dame. Wir haben aber nur Kontakt zu einer Hausverwaltungsfirma, mit dieser haben wir auch den Mietvertrag. Wer die Frau ist oder wo sie lebt, wissen wir nicht. Wir haben damals nicht lange nachgefragt, wir hatten das Gefühl im Lotto gewonnen zu haben. So ein Haus für diese lächerliche Miete ...“

Klaus hebt die Arme zu einer raumgreifenden Geste. Der Priester muss ihm Recht geben: Die Villa ist wahrlich spektakulär und hervorragend in Schuss. Schon der große Salon misst sicher hundert Quadratmeter, die floralen Stuckverzierungen der Decke und der massige Lüster verleihen dem Raum etwas hochherrschaftliches.

„Wann wurde das Haus erbaut? Wie groß ist es - wissen Sie das?“, hakt der Priester nach.

„Genau nicht, aber über der Haustür ist die Jahreszahl 1904 in einen Balken geritzt. Das Haus hat knapp 1200 Quadratmeter auf drei Etagen, insgesamt dreiundzwanzig Zimmer und einige Wirtschaftsbereiche. Wir nutzen aber nur ein paar der Räumlichkeiten. Die restlichen sind voll gestellt mit alten Möbeln. Dort macht meine Frau nur ab zu sauber.“

Wieder nickt der Priester, holt ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein aus seiner Tasche und notiert etwas.

„Was glauben Sie, was hier los ist?“, fragt Klaus und starrt auf den dunklen Scheitel des schreibenden Mannes.

Der Priester verharrt zunächst mit dem Kugelschreiber über dem Papier schwebend und hebt dann den Kopf:

„Darüber kann ich jetzt noch nichts sinnvolles sagen. Ich muss mir selbst ein Bild der Ereignisse machen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne die Nacht hier verbringen. Ohne Sie.“

 

...

 

Yvonnes Nackenmuskeln knacken wie tote Äste. ›Oh mein Gott, nie wieder eine Nacht im Auto.‹ Sie hebt die Hände vor den Mund, formt einen Trichter und bläst hinein. Sie ist durchgefroren bis auf die Knochen. Jetzt regt sich Klaus neben ihr. Mit einem Laut des Unmuts reckt er die Schultern, sein noch verschlafener Blick trifft den ihren. Schlagartig fällt ihm alles wieder ein. Mit einem Ruck setzt er sich auf, stößt sich den Kopf am Himmel ihres Kleinwagens und wischt mit den Fingern ein Guckloch in die Windschutzscheibe.

„Das Haus steht noch“, verkündet er lakonisch. „Regt sich was?“

„Ich bin auch eben erst wach geworden.“ Yvonne schaut auf die Uhr unter dem Tacho. Halb neun. Sie haben trotz der ungemütlichen Situation fast zehn Stunden geschlafen. Das rächt sich jetzt mit steifen Gliedern.

„Wollen wir nachschauen?“ Klaus Stimme klingt noch belegt vom Schlaf. Kurz sehen sich die beiden in die Augen. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, steigen beide synchron aus dem Wagen.

Yvonne hat Mühe sich auf den Beinen zu halten, das Kopfsteinpflaster der Straße ist glatt. Ihr Blase droht zu platzen und sie hat unwiderstehliche Lust auf einen heißen Kakao. Sie wechseln kein Wort, als sie nebeneinander auf die alte Villa zugehen. Beide hängen ihren Gedanken nach: Wird der Priester etwas gehört oder gar gesehen haben?

Klaus Hand zittert leicht und lässt den Schlüsselbund klirren, als er die schwere Haustür aufschließt. Über dem dunklen Holz glänzt ein dekoratives Blätterwerk aus vergoldeter Bronze.

„Hallo?“

Klaus und Yvonne betreten den Eingangsbereich. Alles sieht aus wie immer, keine Spur von dem Priester.

„Hallo?“ ruft Klaus erneut, diesmal lauter und lässt den Schlüsselbund aus Gewohnheit schwungvoll in eine silberne Schale neben der Haustür fallen. Yvonne steht tatenlos neben ihm und stampft mit den Füßen. Sie sind taub vor Kälte. Mit einer Hand wischt sie sich die grüne Strickmütze von den blonden Locken und krampft ihre Hände darum.

Ratlos tauschen die beiden einen Blick. Sie kennen sich seit mehr als zehn Jahren, es bedarf keiner Worte, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Klaus wendet sich in Richtung des großen Salons, Yvonne folgt ihm auf dem Fuß.

An der deckenhohen Doppeltür angekommen, bleibt Klaus stehen:

„Keiner drin, wo ist der Mann blo ...?“ Er verstummt mitten im Satz. Beide sehen gleichzeitig, was Klaus’ Satz abgeschnitten hat:

Hinter der Couch ragt ein dunkler Herrenslipper hervor. Nach einer Schrecksekunde stürzen beide gleichzeitig zu der reglosen Person auf dem Fußboden. Yvonne muss einen Schrei unterdrücken. Der Priester liegt auf dem Bauch zwischen Couch und dem niedrigen Beistelltisch. Das Tablett mit dem Kaffeeservice steht noch darauf, die Tassen sind umgefallen und - wie auch die Unterteller - zerbrochen. Die Thermoskanne ist so brutal eingedellt, als hätte jemand damit Fußball gespielt.

Klaus kniet vor dem Mann nieder und drückt zwei Finger auf seine Halsschlagader.

„Er lebt! Hol’ einen Notarzt!“

Yvonne steht da wie gelähmt, sie ist zu keiner Regung fähig.

„Verdammt, worauf wartest du, geh in den Flur und ruf den ...!“

In diesem Moment bewegen sich die Beine des Priesters. Mit einem merkwürdig grunzenden Laut dreht der Mann sich auf den Rücken und reißt gleichzeitig die Hände vor die Augen. Yvonne und Klaus nehmen in selber Sekunde wahr, dass seine Fingernägel schwarz vor verkrustetem Blut sind. Die Hände sehen aus, als würde er braune, dünne Handschuhe tragen, die weißen Aufschläge seines Talars sind dunkelrot.

Nun fängt der Priester an zu Schreien. Er schreit wie ein Verrückter, der in der Hölle brät. Das Geräusch hat nichts menschliches an sich. Seine Füße zucken in wilden Spasmen, seine Absätze trommeln laut auf das Parkett. Er windet sich wie unter einem schweren epileptischen Anfall.

Klaus handelt ohne Nachzudenken: Er greift die Handgelenke des Priesters und reißt ihm die Hände aus dem Gesicht. Der Schock des Anblicks lähmt ihn und lässt ihn wie einen Sack auf den Hintern stürzen. Alle Energie weicht aus seinem Körper. In die entsetzlichen Schreie des Priesters mischen sich nun die Schreie seiner Frau und seine eigenen. Ihre Lungen reagieren, bevor ihr Gehirn versteht, was hier vorgefallen ist:

Der Priester hat sich selbst die Augen ausgekratzt.

 

 

Kapitel 1: Der letzte Wille

 

Gegenwart

 

›Alleinerbin meines gesamten Vermögens soll meine Großnichte Isabelle Zander, wohnhaft in ....‹

Ich lasse das handgeschriebene Dokument in meiner Hand sinken. Ungläubig starre ich über meinen chaotischen Schreibtisch hinweg aus dem Fenster auf unsere menschenleere Wohnstraße. Der Herbstwind hat die letzten Blätter von den Ästen gefegt und die Bäume als kahle Skelette am mausgrauen Himmel zurückgelassen. Steife Böen heulen im Erker unseres Hauses. ›Windig ist es im Norden erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben,‹ geht es mir durch den Kopf.

Ich blinzele einmal, um mich in die Realität zurück zu holen und wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Schriftstück zu, dass ich soeben mit der, in unserem Dorf stets sehr späten, Post erhalten habe.

›Ich, Helene Katharina Hartmann, geboren am 21.11.1922 in Pirmasens, wohnhaft im Seagrove Oceanside Home, 966 5th CT, Soutbeach FL 34833, Vereinige Staaten, widerrufe hiermit alle meine bisherigen letztwilligen Verfügungen‹.

Ein Testament.

Von einer Person, von der ich noch nie etwas gehört habe und die offensichtlich mich als Alleinerbin ihres ›Vermögens‹ einsetzt. Grundsätzlich bin ich, wie wohl jeder Mensch, natürlich nicht abgeneigt, wenn mir jemand etwas schenken möchte. Aber in Zeiten immer dreisterer Betrugsmaschen bin ich vorsichtig. Ich lese weiter, finde aber keinen Passus, wo ich erst einmal ein paar tausend Euro an eine Bank in Nigeria überweisen muss, bevor die große Kohle auf mein Konto rollt. Stattdessen liegt dem Testament das offiziell wirkende Schreiben eines Notars in Pirmasens bei, an den ich mich wenden soll.

Pirmasens. Die Stadt ist der einzige Anhaltspunkt, der mir etwas sagt: Der Geburtsort meines Vaters.

Ich greife zum Telefon und drücke die Schnellwahltaste zum Anschluss meiner Eltern. Meine Mutter hebt beim ersten Klingeln ab, als hätte sie neben dem Telefon gelauert. Nach dem üblichen Geplänkel über das Wetter und den Gesundheitszustand unserer Haustiere und Ehemänner komme ich zur Sache:

„Kennst du eine Helene Katharina Hartmann?“ Es folgt eine kurze Denkpause, in der ich meine Mutter leise atmen höre.

„Nee ... oder, warte mal ... Ich glaube das war eine Schwester deines Opas. Also von Papas Papa.“ Das muss ich geistig erst mal sortieren. Schon spricht meine Mutter weiter:

„Ich hab sie nie kennengelernt, aber ich erinnere mich, dass sie einen reichen Bankier geheiratet hatte und dann in die Nähe von Nürnberg gezogen ist ... Wie um Himmels Willen kommst du denn darauf?“

Ich umreiße kurz den Sachverhalt. Meine Mutter ist baff.

„Das ist ja Wahnsinn. Steht da, wie groß das Vermögen ist? Ich glaube, sie war richtig reich ...?“ Typisch meine Mutter, sie setzt stets Prioritäten.

„Nein, das steht nur etwas von einem Haus in ...“, ich suche die entsprechende Stelle auf dem Testament, „Windshofen.“

„Ah, das würde doch passen, siehst du, ich hatte Recht. Windshofen ist in der Nähe von Nürnberg. Da haben wir mal übernachtet, als Papa den jährlichen Triathlon in Roth anschauen wollte. Sehr schöne Gegend.“

Einen Bericht über diese Challenge im mittelfränkischen Roth habe ich mal im Fernsehen gesehen. Schwimmen, Radfahren, Marathon, gesponsert von einem großen IT-Konzern - das ist nicht meine Welt. Ich jogge zwar ein bisschen, aber eigentlich ist Couchsurfing meine Lieblingsdisziplin.

„Meinst du, Papa weiß mehr über diese Helene?“, hake ich nach.

„Das weiß ich nicht, Mäuschen. Ich werde ihn fragen und dann ...“, In diesem Moment unterbricht das Gespräch. Die Katze meiner Eltern setzt sich gerne auf die Station, wenn meine Mutter telefoniert. Fünf Sekunden später klingelt es bei mir:

„Das war Miezi“, verkündet meine Mutter. Schon klar. Aber wir haben ja alles geklärt und so verabschieden wir uns ordentlich von einander und verbleiben, dass mein Vater mich zurückrufen wird, sollte er Näheres wissen.

Gut, ich bin etwas schlauer geworden: Zumindest handelt es sich nicht um einen schlechten Scherz oder eine Abzocke. Uns, das heißt meinen Mann Max und mich, erwartet ein warmer Geldregen. Zeit, eine Flasche Schampus kalt zu stellen.

 

...

 

„Das ist bestimmt so eine alte Bude aus den Siebzigern mit Asbestdach und Schimmel in den Wänden“, unkt Max und grinst schief. „Vielleicht solltest du das Erbe ausschlagen.“ Jetzt grinst er noch breiter.

„Hast du überhaupt zugehört? Meine Mutter sagte, die Alte war steinreich! Eine Bankiersgattin. Und ich habe mal im Internet geguckt: Dieses Altenheim in Florida ist eine exklusive Adresse. Da musst du jeden Monat richtig Schotter blechen, um da deinen Lebensabend verbringen zu dürfen.“

Max spielt weiter den Advocatus Diaboli: „Sag’ ich es doch: Sie hat die ganze Kohle verbraten und wir bleiben auf diesem Kasten hängen. Und was sollen überhaupt diese komischen ›Auflagen‹, die wir erfüllen müssen, wenn wir das Erbe annehmen?“

Damit hat er nicht ganz Unrecht, diese Klauseln kommen mir auch sehr merkwürdig vor. Drei Verbote sind zu berücksichtigen, wenn wir das Erbe antreten wollen:

 

1. Keine Tiere im Haus

2. Die Bärensammlung darf nicht angerührt oder weggeräumt werden

3. Das Turmzimmer ist um drei Uhr nachts nicht zu betreten

 

Sehr skurril. Die gute Helene scheint ein wenig verschroben gewesen zu sein. So richtig weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll.

„Turmzimmer klingt nach Villa, was meinst du?“ Ich hebe mit gespielt gierigem Blick die Augenbrauen. „Oder ein Schloss? Wäre doch möglich?“ Max verdreht die Augen. Aber auch er ist total neugierig.

„Wieso keine Tiere im Haus? Sie lebt doch gar nicht mehr, da können ihr Dreck oder Schäden doch egal sein ...?“

Ich zucke die Schultern und werfe einen Seitenblick auf unsere unter dem Esstisch, auf den warmen Fliesen der Fußbodenheizung, selig schnarchende Bulldogge. Da wir sicher nicht vorhaben, das Haus zu beziehen, sondern es entweder vermieten oder verkaufen werden, ist mir diese Regelung völlig schnuppe. Max ist gedanklich wieder bei dem Turmzimmer:

„Das Turmzimmer darf also um drei Uhr nachts nicht betreten werden. Aha.“ Sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Er hält meine verstorbene Verwandte für total durchgeknallt. Was ich ihm nicht verdenken kann. „Was passiert denn sonst?“, sinniert er weiter, „Spontane Selbstentzündung? Die Apokalypse? Elvis’ Rückkehr?!“

Es hat keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken, ich entschließe mich zu handeln.

„Wurscht! Ich ruf jetzt diesen Notar an, dann sehen wir weiter.“

 

...

 

Zwei Wochen später

 

Als ich die Hand des alten Mannes schüttele habe ich Angst, dass sie in meiner zu Staub zerfällt. Der Notar sieht aus wie eine lebendige Mumie. Sein kahler Kopf wird von drei fusseligen Haarsträhnen gekrönt, die Lippen haben sich von seinen Zähnen zurückgezogen und verleihen ihm das Antlitz eines fröhlich lächelnden Totenschädels. Der gediegene graue Anzug sitzt tadellos und harmoniert mit seiner fahlen Gesichtsfarbe. Der einzige Farbklecks der Erscheinung ist die grellrote Krawatte mit fröhlich winkenden Weihnachtsmännern darauf. Ein bisschen früh für einen solchen Schlips.

Als unser Navi verkündete, dass wir die angegebene Adresse in Windshofen erreicht hatten, fiel der stahlgraue Bentley Continental mit Frankfurter Kennzeichen sofort ins Auge, der Notar allerdings verschwamm mit dem Lack. Er stand auf dem Kopfsteinpflaster der Straße direkt vor einem schmiedeeisernen Zaun mit gefährlich aussehenden Spitzen. Dahinter eine Reihe hoher Kiefern, die den Blick auf das Haus verwehrten. Max parkte hinter dem Bentley.

„Sie müssen Isabelle und Max Zander sein - und das ist das Haus.“ Der Notar, Herr Wolfgang von Hartenberg, dreht sich um und weist auf den Zaun.

„Ich denke, Sie wollen es sicher sofort ansehen - hier ist der Schlüssel.“ Er streckt sein dürres Ärmchen aus und lässt einen schweren Haustürschlüssel mit einer blauen Marke mit der Aufschrift ›Hartmann, Waldesruh 11‹ in meine Hand fallen. „Die restlichen Schlüssel und Unterlagen erhalten Sie, wenn wir die Formalitäten erledigt haben.“

Bevor ich mich in Richtung des Hauses in Bewegung setze, schaue ich aus Gewohnheit auf den Rücksitz unseres Coupés, wo sonst unsere Bulldogge thront. Da fällt mir ein, dass wir Bully zu meiner Freundin Lydia und ihrem kleinen Terrier Sir Harry gebracht haben. Die lange Fahrt wollten wir ihm nicht zumuten und bei der Abwicklung des Erbes würde ich mich nicht anständig um ihn kümmern können. Wir wissen ja nicht mal, wo wir heute Nacht schlafen. Außerdem war da noch der Passus des Testaments, der Tiere im Haus untersagte.

Max tritt gerade durch das Gartentor, das lautlos aufschwingt und nicht das leiseste Quietschen von sich gibt. Herr von Hartenberg folgt ihm, zuletzt stehe ich vor dem Gebäude. Mir bleibt die Luft weg.

„Jugendstil, Baujahr 1904“, informiert der Notar.

Ich schlucke trocken, meine Kehle klickt wie ein Gewehrschuss in meinen Ohren. Auch Max ist stumm wie ein Fisch und glotzt vollkommen überwältigt. Ich habe eine verdammte Villa geerbt. Was wird dieses gigantische Ding wert sein? Zwei Millionen? Drei?! Meine Knie werden weich, ich greife hinter mich und halte mich unauffällig an einer Strebe des Zauns fest.

„Wunderschön, oder? Das Haus spiegelt den leichten verspielten Stil der Epoche wie kein zweites wider. Eine wirklich wertvolle Rarität, besonders in diesem guten Zustand.“ Der Notar nickt bekräftigend und anerkennend mit dem Kopf, fast erwarte ich, dass sein dürrer Hals einfach abbricht und sein Schädel davonrollt.

Die Villa besteht aus gelbem Sandstein und einem dunklen Schieferdach. Ein großes Erkerfenster dominiert die Vorderseite, die linke Ecke wird tatsächlich durch einen Turm gekrönt, auf dessen Spitze eine schwarze Wetterfahne mit einem Hahn thront. Die bleigefassten Fenster des Erdgeschosses bestehen aus wunderschönem bunten Glas mit Wellen - und Blumenmotiven. Ich bin entzückt.

„Das ist ja riesig!“ entfährt es mir ungewollt.

„Nun, Sie werden nicht an Platzmangel leiden. Die Wohnfläche beträgt 1200 Quadratmeter, dazu kommen einige hundert Quadratmeter Nutzfläche. Das Anwesen ist voll unterkellert und der Dachboden ausbaufähig. Das Grundstück ist übrigens knapp 4000 Quadratmeter groß.“

Ich sage nichts und lasse diese Informationen sacken. Auch Max ist zu geplättet, um sich zu äußern. Der Notar ergreift erneut das Wort:

„Momentan ist das Haus als reines Wohngebäude für eine Familie konzipiert. Es gäbe natürlich die Möglichkeit, es in Wohnungen aufzuteilen oder auch gewerblich zu nutzen. Vielleicht als Arztpraxis oder Kanzlei. Sie sehen, die Optionen sind vielfältig.“

Über vielfältige Optionen kann ich mir im Moment keine Gedanken machen. Ich befinde mich von der reinen Tatsache dieses Anwesens in einer Art Schockzustand.

“... und Ihre Großtante ist 1992 in die USA ausgewandert, bis ins Jahr 93 war das Haus vermietet. Seitdem steht es leer, wurde aber von einer von uns beauftragten Firma regelmäßig gewartet und renoviert. Es sind keine größeren Sanierungen nötig“, höre ich Herrn von Hartenberg erklären.

„Besteht Denkmalschutz?“, fragt Max. Er hat seinen nüchternen Verstand und seine Stimme wieder gefunden.

Von Hartenberg verneint. Glück gehabt. Das bedeutet in der Regel nur Ärger.

„Wieso wurde das Haus nicht mehr vermietet? Wer lässt denn so etwas leer stehen?“

Der Notar zuckt mit keiner Wimper. Nicht, dass er welche hätte, genauso wenig wie Augenbrauen. „Den Grund kenne ich nicht. Es war von der Großtante Ihrer Gattin offenbar nicht gewünscht.“

„Hmm“, gibt sich Max mit einem schalen Blick mit dieser nebulösen Aussage zufrieden. Der Notar wedelt mit der Hand:

„Nun aber: Herzlichen Glückwunsch zu dieser außerordentlichen Immobilie und hereinspaziert!“

 

Kapitel 2: Süße Träume

 

11.April 1957

 

Liebes Tagebuch,

langsam leben wir uns ein. Der Kasten erschlägt mich nicht mehr, wie zu Anfang. Meine Güte, was bin ich durch die Zimmer geirrt und habe mich manchmal wirklich fast verlaufen! Alfons hat mich letzte Woche regelrecht ausgelacht, als er mich plötzlich rufen hörte, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich aus einem der Hauswirtschaftsräume wieder in den Salon finden sollte. Unsere dienstbaren Geister denken sicher auch, dass ich ein wenig überspannt bin. Aber da wir sowieso als frisch Zugezogene reichlich Anlass zu Klatsch und Tratsch im Dorf bieten, soll mich das nicht weiter tangieren.

Du solltest sehen, wie großartig die Eingangshalle restauriert wurde! Das dunkle Holz bot bei unserem Einzug einen so tristen Anblick, alt und zerschrammt. Doch nun kommen - Dank des begnadeten örtlichen Schreinermeisters - die wunderbaren Rankenschnitzereien und das kostbar gedrechselte Geländer wieder voll zur Geltung und das Holz hat seinen natürlichen, rötlichen Schimmer zurück erhalten. Ich erfreue mich jeden Tag daran. Wie sagte Alfons noch? „Das Entrée ist die Visitenkarte des Hauses.“ Wie recht er hatte.

Ich kann es kaum erwarten, meinen Pflichten als Gattin des Inhabers der größten Privatbank dieses Gegend wahrzunehmen, rauschende Bälle zu organisieren, unvergessliche Empfänge und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Wenn Alfons tagsüber in der Bank ist, wird mir die Zeit garantiert nicht lang werden.

Ach, und ich habe dir noch etwas zu berichten, das musst du aber noch für dich behalten: Alfons und ich wollen nun ganz schnell das Haus mit Leben füllen. Ja, das verstehst du richtig: Alfons wünscht sich seinen ersten Stammhalter und wir tun unser Bestes, um dieses Vorhaben möglichst schnell zu realisieren ... Es wird ja auch langsam Zeit, ich werde ja schon bald sechsunddreißig! Himmel, wo ist die Zeit nur geblieben!

Grüße und Küsse, deine Leni

 

PS: Wir scheinen einen kleinen Freund oder eine kleine Freundin zu haben. Heute morgen lag auf dem Treppenabsatz vor unserer Haustür eine Gänseblümchenkette. Wie niedlich!

 

...

 

 

Jeder Beziehungsratgeber rät davon ab, Schlafanzüge mit Tweety-Druck zu tragen. Bis jetzt hat dieser rosa Anzug mit Snoopys gelbem Kanarienvogelfreund unserem Eheleben aber keinen Schaden zugefügt, und so sitze ich am nächsten Morgen mit an die Brust gezogenen Beinen in der Küche der alten Villa. Meine Füße sind eiskalt trotz der dicken Socken. Eine Fußbodenheizung gibt es hier natürlich nicht und ich habe keine Puschen mitgebracht. Und so vermeide ich den Kontakt mit den schwarz-weißen Fliesen im Schachbrettmuster und wärme meine Hände an einer heißen Tasse Tüten-Cappuccino. Die Süße dieses Getränks zieht mir die Kiefermuskeln zusammen, aber die Wärme tut meinem Magen gut. Auf dem Tisch glimmt eine Zigarette im Ascher. Modelfrühstück, sehr gesund. Zudem ein Ausrutscher, denn eigentlich rauchen wir nicht in geschlossenen Räumen.

Max und ich waren mehr als erstaunt zu sehen, dass das Haus voll ausgestattet ist. Zwar sind alle Möbel gegen Staub abgedeckt, aber ansonsten könnte man direkt einziehen, wenn man das wollen würde. Herr von Hartenberg hatte sogar den Kühlschrank in Betrieb nehmen lassen und einen ordentlichen Vorrat an Lebensmitteln in der Speisekammer untergebracht. Diese ist übrigens größer als unsere gesamte Küche zuhause.

„Ich habe mir erlaubt anzunehmen, dass Sie eventuell hier übernachten möchten. Deshalb habe ich für Ihr leibliches Wohl sorgen lassen. Beheizt wird das Haus sowieso immer“, hatte der Notar erklärt. Und wieder hatte ich mich im Stillen gefragt, warum man eine solche Immobilie leer stehen lässt aber so umsorgt, als würde dort jemand wohnen. Seltsam. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen ist zwecklos, ich bin dankbar, dass uns keine verrottete Ruine erwartet hatte, die nur Kosten und Ärger verursacht hätte.

Von oben kommt ein Rumpeln. Max duscht, die alten Kupferrohre rumoren. Das Bedürfnis hatte ich allerdings auch gehabt, nachdem wir in dem antiken Himmelbett aus schwarzem Holz übernachtet hatten. Nicht, dass es schmuddelig gewesen wäre, ganz im Gegenteil: Die Matratzen nagelneu, die Decken und Kissen frisch mit weiß gestärkter Wäsche überzogen. Aber nach dem anstrengenden gestrigen Tag waren wir beide ohne uns zu waschen einfach ins Bett gefallen.

Diese Immobilie musste man als normaler Mensch erst mal verdauen: Dutzende Zimmerfluchten, eine Bibliothek, ein Teesalon, eine Hausbar, Waschküche, diverse Bäder, Schlafzimmer und Kammern. Den Keller hatten wir gar nicht erst betreten - zu viel Input für einen Tag.

Ich greife auf dem drei Meter langen Eichentisch, der das Herzstück der Küche bildet, nach meinem Smartphone und erkundige mich bei meiner Freundin Lydia, was unser Bully macht. ›Fressen, schnarchen, furzen!‹, ist ihre Antwort und ein grinsender Smiley. Das beruhigt mich weil es klingt, als würde Bully sich sehr wohl fühlen.

In diesem Moment kündigt ein aromatischer Dufthauch von Bulgari Aqua Max’ Ankunft in der Küche an. Im Gegensatz zu mir ist er stilsicher in Jeans und weißem Hemd gekleidet. Seine dunklen Haaren sind akkurat gestylt, während meine blonden in einem schlampigen Knoten zusammengefasst sind und an den Schläfen fusselige Antennenhaare abstehen.

„Guten Morgen!“, begrüßt er mich und gibt mir einen Kuss auf den Kopf. In der Hand hält er meine graue dicke Strickjacke. „Da, bitte. Du frierst hier doch garantiert!“ Damit liegt er richtig, ich friere immer und überall. Dankbar wickele ich mich in die Jacke.

„Es ist aber auch kühl hier, oder? Meinst du, wir können die Heizung höher drehen?“, frage ich ihn.

„Klar, ich gucke nachher mal, wo sie ist. Bestimmt im Keller. So große Räume zu heizen ist schwierig“, antwortet er und wendet sich der Küchenzeile zu, um sich ebenfalls einen Cappuccino zuzubereiten.

Während der Wasserkocher ein leises Brodeln von sich gibt, checke ich aus Gewohnheit meine Schlaf-App. Diese verrät mir, wie tief, wie lange und damit wie gut ich geschlafen habe. Zusätzlich schaltet sich bei Geräuschen das Mikrofon ein, so kann man herausfinden, ob man schnarcht oder gar unter Atemaussetzern leidet. Vor ein paar Wochen hatte ich mir die App installiert, weil ich mich morgens immer besonders müde gefühlt hatte und die Qualität meines Schlafes prüfen wollte. Viel interessantes kam dabei nicht heraus, dafür habe ich mich mehrmals auf mein Smartphone gewälzt und bin davon aufgewacht. Man muss es nämlich zu sich auf die Matratze legen, damit die App ihren Dienst tun kann. Wenn meine Mutter wüsste, dass ich mit meinen Smartphone im Bett schlafe, würde sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und mir einen Vortrag über bösartige Strahlung halten. Wahrscheinlich hat sich Recht. Sollte mein Gehirn bis dato schon gebraten sein, habe ich allerdings nichts davon mitbekommen.

Die App klärt mich darüber auf, dass ich 21,9% meines Schlafes in der tiefen Rapid-Eye-Movement-Phase, kurz REM, verbracht habe. Ein völlig normaler Wert. In diesen Phasen des Schlafes erhöhen sich Herzschlag, Blutdruck und Atemfrequenz, die Augen wandern unruhig unter den Lidern hin und her. In dieser Schlafzeit träumt man am intensivsten. Ich kann mich an die Träume der letzten Nacht nicht erinnern, was ungewöhnlich für mich ist. Aber zumindest hatte ich keinen Albtraum aufgrund der ungewohnten Schlafsituation in diesem alten Haus.

Jetzt kippt Max das heiße Wasser in seine Tasse, begleitet von leisen „Aua, verdammt“-Ausrufen, weil er zu schnell schüttet und kochende Wassertröpfchen seinen Handrücken sprenkeln. Mit einem garstigen Quietschen, bei dem sich mir die Fußnägel hoch rollen, schiebt er einen der sechs Stühle am Tisch zurück und setzt sich mir gegenüber.

Gerade will ich das Smartphone wieder auf den Tisch legen und Max’ fragen, wie er geschlafen hat, als ich sehe, dass die App über Nacht etwas akustisch aufgezeichnet hat. ›Habe ich etwa geschnarcht?‹ frage ich mich. Kann ich mir nicht vorstellen, ich schnarche eigentlich nur, wenn ich besoffen ins Bett kippe.

Max will gerade etwas sagen, aber ich stoppe ihn mit einem „Hör mal!“ und lasse die Aufnahme ablaufen. Die Zeit ist mit 3.02 Uhr angegeben. Max schaut mich interessiert an und sagt:

„Was soll ich hören? Ist das wieder deine Schnarch-Kontrolle?“

„Pssscht!“, zische ich und sperre die Ohren auf. Zunächst hört man nur gleichmäßiges Atmen. Das bin wohl ich. Dann fahren Max und ich beide zusammen: Man hört ein lautes Klopfen. So, als würde jemand einen Raum betreten wollen und vorher an die Tür klopfen. Poch, poch, zwei Mal, in schneller Abfolge. Max Augenbrauen heben sich fragend. Dann wieder Stille, nur mein Atmen ist zu hören, die Frequenz hat sich nicht geändert. Mir rieselt ein eiskalter Schauer über den Rücken, denn jetzt ist das Niederdrücken einer Türklinke und das leise Knarren der Schlafzimmertür zu hören. Aus Reflex pausiere ich die Aufnahme.

„Bist du nachts aufgestanden?“, frage ich Max und bete, dass er bejaht und auf der Toilette war. Max braune Augen sind so groß wie Spiegeleier. Er schüttelt nur den Kopf.

„Lass es uns weiter anhören, vielleicht kommt noch was!“, fordert er mich auf. Ich kann nicht sagen warum, aber am liebsten würde ich die Aufnahme einfach löschen, ohne sie vollständig anzuhören. Ich will auf keinen Fall den Gedanken zulassen, der sich aufdrängt:

Dass jemand heute Nacht bei uns im Schlafzimmer war.

Unschlüssig schwebt mein Finger über dem kleinen Mülleimer-Symbol auf meinem Smartphone. Doch nach einem Blick in Max’ Gesicht drücke ich erneut den Play-Button. Gespannt bis in die Haarspitzen starren wir beide auf das Handy in meiner Hand. Zunächst nichts. Dann etwas, dass sich anhört wie ein zaghafter, trippelnder Schritt. Das Geräusch wiederholt sich noch drei Mal.

Ich spreche es nicht laut aus, aber ich sehe, dass Max das selbe denkt:

Wenn da jemand war, dann stand er jetzt direkt an unserem Bett und ... schaute uns an.

Ich schlucke schwer. Die Aufnahme endet, keine weiteren Geräusche.

Wir hören uns das Ganze noch insgesamt drei Mal an. Max findet schnell eine Erklärung:

„Ratten.“

Obwohl ich ein wirklich beklommenes Gefühl in der Magengrube habe, muss ich lachen:

„Das wären die ersten Ratten, die anklopfen.“ Dass dieses Haus weiß Gott nicht wirkt, als gäbe es hier Ungeziefer, muss ich Max nicht sagen, das weiß er selbst.

Er sieht mich an, er hat sich schon wieder gefangen. Mit einem beruhigenden Lächeln verkündet er:

„Isa, das Haus ist uralt. Alle Häuser machen Geräusche. Denk doch mal, wie unser Dach knacken kann, wenn die Sonne darauf scheint. Das hat uns zu Anfang auch erschreckt.“ Das stimmt allerdings: Das Wohnzimmer unseres Hauses ist bis zur Decke offen. Das große Turmdach dieses Bereichs ruht auf einer Holzbalken-Konstruktion, die knallende Geräusche wie Gewehrschüsse von sich gibt, wenn sie größeren Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Dennoch befriedigt mich diese Erklärung nicht wirklich.

„Ok, ich gebe zu: Das Klopfen könnte ein Lufteinschluss in den Rohren sein, oder so was ähnliches ... Aber das andere ist doch eindeutig das Geräusch der sich öffnenden Tür? Wie soll man denn das erklären?“ Max denkt kurz nach und drückt seine Nasenwurzel mit einem Seufzen zwischen Daumen und Zeigefinger:

„Vielleicht war sie nicht richtig geschlossen und ein Windzug hat sie aufgedrückt. Es war gestern Abend noch recht stürmisch ....“

An der Art, wie Max mich ansieht sehe ich, dass ihm das Thema langsam müßig wird. Er sieht die Welt nüchterner als ich und ist überhaupt nicht anfällig für paranormale Aktivitäten. Ganz im Gegensatz zu mir. Und deshalb behalte ich auch für mich, dass seine Theorie die trippelnden Schritte außer Acht lässt.

Max langt auf den Stuhl neben sich und zieht seine cognacfarbene Ledertasche auf seinen Schoss, holt sein Notebook hervor und stellt es auf den Tisch.

„Ich checke mal meine Mails“, lässt er mich wissen. Ich kippe mir den kalt gewordenen Rest des Cappuccinos in den Rachen und unterdrücke einen Kotzreflex, als ich ein unaufgelöstes Klümpchen des Pulvers meine Kehle herunter gleiten spüre.

Zeit, sich die Zähne putzen zu gehen.

 

...

 

Nachdem ich meine Morgentoilette im an das Schlafzimmer grenzende Masterbad erledigt habe und gerade die Treppe in den großen, mit dunklem Holz getäfelten Eingangsbereich herunter steige, ertönt ein tiefer, hallender Gongschlag, der meinen ganzen Körper vibrieren lässt. Ich bleibe wie vom Donner gerührt mitten auf der mit einem roten Läufer belegten Treppe stehen und versuche zu verstehen, was das gewesen ist. Max erscheint in der Tür zur Küche und sieht mich an:

„Wieso machst du nicht auf?“

„Was, auf?“, frage ich dümmlich.

Max sieht mich an, als wäre ich ein Lama in Frack und Zylinder.

„Ähm, die Haustür?“

Meine Güte, das war die Klingel?! Worauf war der Konstrukteur dieser aus? Auf den sofortigen Herztod der Hausbewohner? Zumindest löst diese Information meine Starre und ich stampfe in meinen Lederboots den Rest der Treppe hinab. Auf Socken kann ich hier nicht herum laufen, obwohl ich Straßenschuhe im Haus hasse.

Max ist schon an der doppelflügeligen Haustür.

„Herzlich willkommen in der Nachbarschaft!“, höre ich eine hohe Frauenstimme trällern. Wie es Max’ Art ist, sagt er erst einmal gar nichts, sondern lässt die Dame weiter reden, was sie auch tut - ohne Punkt und Komma.

„Wir haben gesehen, dass hier endlich Leute sind! Sie sind gestern eingezogen, richtig? Wunderbar, ganz wunderbar, dass hier wieder Leben eingekehrt. Seit wir hier wohnen, steht das Haus leer und ... Ach, entschuldigen Sie, wo habe ich nur meine Manieren: Ich bin Annegret Nagel, wir wohnen rechts neben Ihnen. Hier bitteschön, als kleinen Willkommensgruß.“

Ich höre ein Rascheln und ein gemurmeltes „Danke“ von Max. Der Stimme nach schätze ich die Frau auf um die fünfzig Jahre alt, dem Tonfall nach ist sie eine Nervensäge. Zum Glück wohnen wir nicht wirklich hier. Da Max es stets anderen überlässt, ein Gespräch fortzuführen, dass nicht er angefangen hat, sagt er auch jetzt nichts. Er hasst aufgezwungene Unterhaltungen, besonders mit neugierigen Leuten. Davon lässt sich Frau Nagel nicht beeindrucken, sie schwafelt einfach weiter:

„Haben Sie das Haus gekauft oder gemietet? Wir haben ja nie herausgefunden, wem das Anwesen gehört. Hier sind immer nur Handwerker und Gärtner, die wussten auch von nichts.“

Diese Person scheint tatsächlich irgendwelche Handwerker befragt zu haben. Wie langweilig kann einem denn sein?! Und es ist ihr nicht mal peinlich, das zuzugeben.

„Woher kommen Sie denn, Herr, ääähhh ...?“

„Zander. Max Zander“, sagt Max nun und nennt unseren Wohnort im Norden der Republik. Ich beschließe, ihn zu retten. Zwar hat er das nicht nötig, denn er ist durchaus in der Lage, diese Dame abzuschütteln, wenn er die Lust an ihrem Gefasel verliert, aber mir ist die Situation selbst körperlich unangenehm.

„Max?! Kommst du bitte? Dein Handy klingelt!“, rufe ich laut, zeige mich aber nicht an der Tür. Sonst habe ich gleich die Alte am Hals.

„Entschuldigen Sie, ich muss wieder rein. Danke für die Blumen.“ Ohne einen eventuellen Einwand oder - noch schlimmer! - eine Aufforderung zu einem erneuten Zusammentreffen abzuwarten, schließt Max die Tür. Ein gigantischer Strauß oranger und gelber Lilien schiebt sich in mein Blickfeld, darunter laufen Max Beine.

„Cool. Ich habe mich mit einem Strauß Tulpen unterhalten.“

„Das sind Lilien, du Botanik-Niete!“, lache ich ihn aus und nehme ihm den Strauß ab. Er ist ungefähr so groß wie ich. Da er mir zu schwer ist, lasse ich ihn auf den Teppich plumpsen, hebe ihn aber direkt wieder auf, weil die Stängel auf den roten Teppich über dem Stäbchenparkett nässen. Jetzt tropft es auf meine Schuhe. Ich hasse Schnittblumen. Mit weit ausgestreckten Armen trage ich den Strauß in die Küche und lege ihn in der Spüle ab. Max folgt mir.

„Was war das denn für eine?“ frage ich ihn und öffne dabei wahllos Schranktüren auf der Suche nach etwas, das ich als Vase benutzen kann.

„Offensichtlich eine Nachbarin. Annegret Nagel. Nervtötend.“

„Wie sah sie aus?“

„Oh, das willst du gar nicht wissen: So hoch wie breit, und so eine unmögliche, hinten nach oben toupierte Kurzhaarfrisur. Sah aus, als hätte sie einen roten Bienenkorb auf der Birne.“

Ich kann es mir lebhaft vorstellen, das passt zum Gerede der Frau. Ich finde einen roten Plastik-Putzeimer, fülle ihn mit Wasser, stelle den Strauß hinein und knalle das Ganze auf den Esstisch. Ich habe einfach ein Händchen für Dekoration. Als ich die Schranktür wieder schließen will, entdecke ich ein 500 Gramm-Glas Nutella. Oh nein, Herr von Hartenberg kennt offensichtlich meine geheimsten Gelüste. Mit einem Griff in die Besteckschublade schnappe ich mir einen Löffel, wobei ich stolz bin, die Suppenkelle zu ignorieren, und fange an, mit genüsslichem Schmatzen das Glas zu leeren.

Max nimmt diese Aktion gar nicht zur Kenntnis, sondern macht sich noch einen Kaffee. Diesmal aus einer Filtermaschine, die er irgendwo in den Tiefen der Küche entdeckt und neben den Herd gestellt hat. Während er Kaffeepulver in den Filter löffelt, fragt er mich:

„Hast du dir schon überlegt, was wir mit dem Haus machen wollen? Verkaufen, vermieten?“

„Ich will mir nachher nochmal gründlich die Unterlagen, die uns der Notar gegeben hat, ansehen. Und vorher will ich die Bude natürlich von oben bis unten durchstöbern. Hier gibt’s bestimmt einiges zu entdecken“, antworte ich.

„Ok, belassen wir es also dabei, dass wir ein paar Tage bleiben, oder? Dann sag ich den Kollegen Bescheid, dass ich nur via Handy und online erreichbar bin. Zum Glück haben wir hier WLAN.“ Freien Zugriff auf das Internet braucht Max wie die Luft zum Atmen. Ansonsten erlaubt es ihm seine selbstständige Arbeit in der Medienbranche, auch mal ein paar Tage oder Wochen außerhalb seines Büros zu arbeiten. Auch ich kann den Ort meines Schaffens frei wählen, als Grafikerin brauche ich im Notfall auch nur mein Notebook. Und da ich im Moment keine dringenden Aufträge zu erledigen habe, kann ich auch mal ein paar Tage faul sein.

„Perfekt! Ich schau mich jetzt mal um!“, erkläre ich Max und überlasse ihn in der Küche seinem Kaffee und seinem Notebook.

„Mach’ das. Aber schau vorher mal in einen Spiegel. Du hast Nutella von einem Ohr bis zum anderen.“

 

Kapitel 3: Gute Nachbarschaft

 

 

 

Zimmer, abgedeckte Möbel, Zimmer, abgedeckte Möbel, Zimmer mit Erker, leer, Bibliothek mit deckenhohen Regalen, vollgestopft mit Büchern. Ein Bücherwurm wie ich kann kaum widerstehen. Ich nehme mir vor, mich später in die dunkelgrünen Chesterfield-Möbel sinken zu lassen und nach Herzenslust zu lesen. Noch mehr Zimmer, Kammern mit alten Bettgestellen aus Messing, wahrscheinlich für die Dienstboten früher.

Als ich eine steile Wendeltreppe hoch schnaufe wird mir plötzlich klar, wo ich bin: Eindeutig auf den Weg in das sagenumwobene Turmzimmer. Ich werfe vorsichtshalber einen Blick auf die Uhr an meinem Smartphone, obwohl ich mir natürlich sicher bin, dass es nicht drei Uhr in der Nacht ist. Kurz muss ich über mich lachen, dass ich überhaupt über so etwas nachdenke. Doch mein Lachen klingt irgendwie unecht und meine Hände werden feucht bei dem Gedanken, dass meine Großtante dieses Verbot für so wichtig gehalten hat, dass sie es explizit in ihrem Testament erwähnt hat. Wie gerne würde ich sie nach den Gründen fragen. Was hat sie befürchtet? Was hat sie dazu veranlasst? Mein Gefühl sagt mir, dass das keine Geschichte mit Happy End wäre ...

Am Absatz der Treppe angekommen finde ich eine geschlossene Tür aus schwarzem Holz vor. Die Türklinke ist vergoldet, ich drücke sie zaghaft nieder. Abgeschlossen. Ich verharre mit der Hand auf der Klinke und kämpfe mit meinem unguten Bauchgefühl. Doch letztendlich siegt die Neugierde und ich fummele aus der Tasche meiner Strickjacke den schweren Schlüsselbund hervor, den mir der Notar übereignet hat. Er enthält alle Schlüssel für den Innenbereich des Hauses. Nach gefühlt zehn unpassenden Schlüsseln und ungeschicktem Gestocher im Schlüsselloch, gibt die Tür nach und schwingt nach innen.

Entgegen meiner Erwartungen empfängt mich ein freundlicher, kreisrunder Raum, der rundherum verglast ist. Der Boden besteht aus neuen, hellen Dielen, die gemütlich unter meinen Stiefeln knarren. Sonnenlicht strahlt durch die Fenster und wärmt mein Gesicht. Der Raum ist leer, die weiß gekalkten Wände kahl. Ich trete ans Fenster und bewundere den malerischen Ausblick auf das kleine Dorf mit den angrenzenden, bewaldeten Hügeln. Wow, langsam bekomme ich fast Lust, das Haus selbst zu beziehen. Was für ein grandioses Arbeitszimmer das wäre - hier könnte ich extrem kreativ sein ... Mitten in diesem Gedankengang schiebt sich eine Wolke vor die Sonne und verdüstert die Szene.

Mit dem Licht schwindet das wohlige Gefühl und eine eiskalte Hand scheint nach meinem Herzen zu greifen. Plötzlich ist mir eng in der Brust, das Luftholen fällt schwer. Meine Beine sind tonnenschwer und wollen sich nicht bewegen lassen. Unsagbare Melancholie und tiefe Traurigkeit überkommen mich. Tränen quellen aus meinen geschlossenen Lidern, ich spüre ihre warme Nässe auf meinen Wangen, bin aber unfähig, sie abzuwischen. Das Gefühl eines großen Verlustes, einer unendlichen Leere überzieht meinen gesamten Körper mit einer Gänsehaut. Gerade als ich glaube, in Ohnmacht zu fallen, spüre ich plötzlich wieder die Sonne in meinem Gesicht. Hinter meinen Lidern wird es gleißend hell, die Traurigkeit und das Unwohlsein verschwinden im selben Moment.

Ich öffne die Augen. Benommen schüttele ich leicht den Kopf, um wieder ganz zu mir zu kommen. Was war das denn? Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber der Raum, der nun wieder lieblich und vollkommen friedlich wirkt, hat seinen Charme verloren. Ich will nur noch weg und nie, nie wieder hierherkommen. Diesen Vorsatz mache ich ohne zu Zögern wahr, kehre auf dem Absatz um, schließe die Tür hinter mir und schließe sorgfältig wieder ab.

Meine Beine fühlen sich immer noch an wie Götterspeise und ich muss mich am Geländer festhalten, als ich die Wendeltreppe wieder herunter stakse.

Jetzt steht mir der Sinn nach einer Zigarette. Ich öffne die nächstbeste Tür, um mich an eines der Fenster zu stellen und mir einen Sargnagel ins Gesicht zu stecken. Es ist wieder eine recht kleine, leere Kammer, doch das Fenster geht zum Garten heraus. Als ich es öffne, weht mir ein frischer Wind meinen blonden Pferdeschwanz ins Gesicht. Einige Strähnen geraten in meinen Mund und bleiben an meinem Lipgloss kleben, ich schüttele den Kopf und spucke prustend, dabei drehe ich mich reflexartig vom Fenster weg. Als ich meine Frisur wieder unter Kontrolle habe, sehe ich hinter der Tür ein großes Holzregal. Fünf Bretter, jeweils ungefähr zwei Meter breit und dreißig Zentimeter tief. Unzählige schwarze Augenpaare starren mich an.

Nun habe ich auch sie gefunden: Die im Testament erwähnte Bärensammlung.

Nicht anrühren, nicht wegräumen. Nach dem unerquicklichen Erlebnis im Turmzimmer werde ich mich hüten, mich über diese Regelung hinweg zu setzen. Und ich habe bestimmt keine Lust, unter den bösartigen Knopfaugen dieser Plüschviecher meiner Kippe zu rauchen. Im Rausgehen kann ich aber nicht verhindern, dass ich kurz, in weitem Abstand, vor dem Regal stehen bleibe und mir die Teddybären etwas genauer anschaue.

Ich überschlage schnell im Kopf und komme auf eine Anzahl von ungefähr vierzig Exemplaren. Es sind kleine und große Bären aller Art. Die meisten nackt, wie Bären eben so daher kommen, andere als Figuren verkleidet. Ein Bärenpostbote, ein kleiner schwarzer Bär mit einer Geige, ein großes Exemplar in einem Doktorkittel mit weißem Häubchen, ein Bär in Rock und mit Baskenmütze in Schottenkaro und besonders grimmigem Blick. Unter dem toten Blick der Teddys fühle ich mich unwohl.

Es sind leblose Kinderspielzeuge, weiter nichts. Das weiß mein Verstand, aber mein Magen spricht schon wieder eine andere Sprache und rät mir, das Weite zu suchen. Zudem dringt jetzt noch ein Sachverhalt in meinen Kopf vor, den ich zunächst nicht werten konnte: Das Bärenregal ist das einzige in diesem Haus, das wirklich schmuddelig ist. Eine dicke graue Staubschicht bedeckt die flauschigen Körper und macht die Knopfaugen matt, die Ecken des Regals sind mit Spinnweben verhangen. Nicht anrühren. Daran haben sich zumindest die Putzkräfte hier gehalten. Aber da, auf dem untersten Regalbrett, nehme ich eine Unregelmäßigkeit wahr. Ich knie mich nieder und recke den Hals, um besser sehen zu können. Jemand hat zwei Buchstaben in den Staub geschrieben: M+B.

Ich beschließe, das nicht gesehen zu haben, meine flatternden Nerven zu beruhigen, indem ich die Villa verlasse und mich zunächst weiter im Garten umsehe.

 

...

 

„Ach, wie nett! Sie müssen Frau Zander sein!“

Ohne mich umdrehen zu müssen weiß ich, wessen leicht schrille Stimme ich da höre. Ich habe mir die große Kapuze meiner Strickjacke gegen den kalten Wind über den Kopf geschlagen, in meiner Hand glimmt eine Zigarette. Mir ist klar, dass ich mich nicht taub stellen kann und deshalb drehe ich mich gleich um. Es nützt ja nichts. Da ich unter dem Syndrom zwanghafter Höflichkeit leide, und die Dame mir ja nun auch wirklich nichts getan hat, höre ich mich selbst in überfreundlichem Tonfall flöten:

„Ja, genau! Und Sie Frau Nagel, mein Mann hat mir von Ihrem Antrittsbesuch bei uns berichtet. Übrigens Danke für den wunderbaren Strauß!“ Der achtlos in einem Putzeimer in der Küche gammelt oder inzwischen von Max entsorgt wurde, weil er den Tisch blockiert. Das sage ich aber lieber nicht.

Max hat nicht zu viel versprochen, was das Äußere der redseligen Frau Nagel angeht: Sie ist deutlich kleiner als ich und ich gehöre mit meinem geschönten 160 Zentimetern schon in die Kategorie ›Abgebrochener Zwerg‹. Allerdings gewinnt sie durch ihre toupierte, feuerrote Frisur ein paar Zentimeter. Ungefähr dreißig Zentimeter, um ehrlich zu sein. Ihr birnenförmiger Körper steckt in einer engen Jeans in unvorteilhafter Karottenform, der obere Teil wird von einer Art Poncho abgedeckt. Oder einer, nun ja, Pferdedecke. Keine Ahnung, als Anti-Fashionista habe ich keine Ahnung von Kleidungsstücken. Das Oberteil sieht zumindest unmöglich aus, der beige Ton verleiht ihrer blassen Gesichtsfarbe einen unguten Gelbstich. Das könnte allerdings auch an dem reichlich aufgetragenen Make-Up liegen. Ihre Foundation ist viel zu dunkel und bildet einen Rand zwischen Kieferknochen und Hals. Ihr Gesicht ist fingerdick zu gespachtelt, keine Pore oder gar Unebenheit ist zu sehen. Die dunklen Lidstriche oberhalb und unterhalb ihrer Augen lassen diese kleiner wirken, als sie sind. Als Frau, die ebenfalls mit Schlupflidern und schmalen Augen geschlagen ist, weiß ich eines: Male dir nie einen schwarzen Balken unter die Augen - dann hast du gar keine Augen mehr.

Passend, oder vielmehr genauso unpassend wie alles andere, hat sie einen viel zu dunklen Lippenstift gewählt, der ihre Lippen strichdünn wirken lässt und die Zähne grau. Eine Wolke eines intensiven, blumigen Parfums raubt mir den Atem - und das, obwohl sie bestimmt fünf Meter entfernt hinter dem Gartenzaun steht.

Da sie weder einen Hund , eine Harke oder eben auch eine Kippe bei sich hat, muss ich mich wundern, was sie bei diesem kalten Wind in ihrem Garten treibt. Mich beschleicht der Gedanke, dass sie mich gesehen hat und hinaus gestürzt ist. Ein Blick auf ihr Schuhwerk bestätigt diesen Verdacht: Sie trägt rosa Hausschuhe mit einem pinken Plüschbommel am Spann. So etwas abartiges wird oft auf Homeshopping-Kanälen im Fernsehen angeboten.

„Aber gerne, das ist doch selbstverständlich! Wir freuen uns so, endlich Nachbarn zu haben“, winkt Frau Nagel ab und mustert mich neugierig von oben bis unten. Solche Blicke finde ich immer total unverschämt und hoffe, dass ich nicht selbst unbewusst andere Leute so unverhohlen angaffe. Ich halte es für das Beste, ihr gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihr reinen Wein einzuschenken. Es ist ja auch kein Geheimnis, dass wir hier nicht einziehen werden:

„Leider wird es aus der Nachbarschaft nichts. Ich habe das Haus von meiner Großtante geerbt und weiß noch nicht, was ich mit der Immobilie anfangen werde.“

Diese Information gefällt Frau Nagel gar nicht. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass wir das Haus zu etwas zweckentfremden, was sie stören könnte: Eine Kindertagesstätte vielleicht oder kleine Studentenbuden mit vielen lauten jungen Leuten. Den Gedankengang kann ich nachvollziehen, niemand wünscht eine Veränderung in dieser Richtung. Gerade will ich meinen Mund öffnen und sie beruhigen, als hinter ihr eine leicht brüchige Stimme ertönt:

„Annegret? Annegret ...? Wo bist du denn?“

Frau Nagel dreht sich um und sagt:

„Ach, Mutter, geh’ doch wieder rein, es ist viel zu kalt hier draußen!“

Ein paar Meter hinter ihr steht eine gepflegte ältere Dame, die sich auf einen Stock stützt. Sie ist gerade aus der offen stehenden Terrassentür getreten. Mit der freien Hand hält sie eine fliederfarbene Mohair-Strickjacke vor der Brust geschlossen. Der Wind zerrt an ihrem weißen Pagenschnitt und lässt die Hosenbeine um ihre dünnen Knie schlottern. Sie tritt mühsam näher. Ihr Blick ist merkwürdig trüb und nicht fokussiert.

„Das ist meine Mutter, Hildegard Nagel. Mutter, das ist Frau Zander, sie hat das Haus geerbt.“

Die Worte ›das Haus‹ betont sie so, als handele es sich dabei um einen Eigennamen. Oder einen Spitznamen, irgendwie mit einem gruseligen Beigeschmack. Meine Kippe wird vom Wind erfasst und sprüht Funken auf meine Jacke. Entnervt wische ich mit der Hand darüber, bevor ich mich selbst in Brand setze. Ich will möglichst schnell wieder rein.

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sage ich höflich.

Mutter Nagel hat den Kopf in meine Richtung gewandt. Sie sagt nichts, ihre Augen bewegen sich nicht. Die Flügel ihrer für eine alte Frau kleinen und zarten Nase blähen sich, als würde sie versuchen, in meine Richtung zu wittern. Das Schweigen wird mir unangenehm und ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.03.2017
ISBN: 978-3-7438-0495-1

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