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Cover

Vorwort zur Neuveröffentlichung (März 2021) und Anmerkungen zu dieser Neuausgabe (revised, März 2024):

 

Vorwort zur Neuveröffentlichung (März 2021):

 

Eine frühere Version von Replikantenherz war seit Februar 2012 online. Die nun vorliegende Fassung mit neuem Cover unterscheidet sich von der bis August 2016 erhältlichen Veröffentlichung nicht nur durch die Bearbeitung einiger Szenen und Dialoge. Sie enthält zahlreiche Detailänderungen, Erweiterungen, Umformulierungen, Auftritte neuer Personen und Fehlerkorrekturen auch inhaltlicher Art. Ungenauigkeiten wurden korrigiert.

Jades Vergangenheit, die bisher unbeantwortete Fragen aufwarf, wird durch Einfügung eines zusätzlichen und Ergänzung eines vorhandenen Kapitels ausführlicher oder erstmals beleuchtet: Die Ereignisse in Washington D.C. vor 10 Jahren und wie sie zu ihrem Discoclub gekommen ist. Hier wurden weitere Personen eingearbeitet, nämlich die Ermittler und ihr Captain des Police Departments von Washington D.C. und Antoine, ein Schutzengel, dem Jade so viel zu verdanken hat.

Der zu Beginn vielleicht auffälligste Unterschied zu der alten Version: Die Handlung ereignet sich nicht mehr an nur vage erwähnten Plätzen im halbfiktiven Young City, sondern an realen, nachvollziehbaren Orten in New York City und auf dem Gebiet von New Jersey. Was noch vor Jahren nur eine Idee, ein kleiner Traum ohne für möglich gehaltene Umsetzung war, ist somit Realität geworden: Eine Anpassung der Geschichte von Cynthia und Jade an existierende Straßen und lokalisierbare Handlungsorte. Die Bewegungen der Protagonistinnen durch die Metropole bis in deren Randgebiete sowie auf die andere Seite des Hudsons nach New Jersey können nun nachvollzogen werden.

In das Geschehen eines Kapitels eingefügt wurde eine Sequenz mit einer in der Erstausgabe nur erwähnten Sängerin, die sich Lady Replica nennt und eine nicht unwichtige Nebenfigur in einem geplanten und zum Teil bereits geschriebenen Roman ist, dessen Handlung sich 10 Jahre zuvor ereignet und die Erlebnisse anderer Personen beschreibt. Das in der alten Version dem Beginn vorangestellte Schmetterlingsgedicht ist hier nun Bestandteil der Geschichte und wird von Replica während eines öffentlichen Auftritts vorgetragen.

Die Änderungen und Ergänzungen von Replikantenherz führten zu einem um über sechs Prozent gesteigerten Umfang. Replikanten in diesem Roman sind keine Androiden, sondern im Labor entstandene Menschen. Sie sind nicht künstlich, aber künstlich erschaffen, in der Regel, doch dies gilt nicht für Jade, mit einem biologischen Alter von 18 Jahren zu Beginn ihres Lebens.

Obwohl sich die Handlung im Jahr 2096 ereignet, wird der Science Fiction-Aspekt zugunsten anderer Inhalte diskret im Hintergrund gehalten. Wären Jade und ihre Freundin Sandra keine Replikantinnen, so könnte sich die Geschichte durch den Verzicht auf technologische Errungenschaften einer zukünftigen Zivilisation auch in der Gegenwart ereignen.

 

Vio Lou Lepelbet, im März 2021

 

 

Anmerkungen zur überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe (zweite Ausgabe bei Bookrix, revised, März 2024):

 

Der gesamte Roman in der Version der Neuveröffentlichung ab März 2021 wurde durchgesehen und an zahlreichen Stellen optimiert oder ergänzt. Dialoge erfuhren eine Veränderung oder Verlängerung. Wo es sinnvoll zu sein schien, wurde die Kapitelreihenfolge getauscht.

In Kapitel 18 (ehemals 19) habe ich den Eindruck, den Dakota Blush vermittelt oder vermitteln soll, ausführlicher beschrieben. Dadurch sind einige Absätze hinzugekommen. Das jetzige Kapitel 25 erhielt eine Textverschiebung, so dass durch die neu entstandene Unterbrechung einer Szene mehr Spannung erzeugt wird.

Manche Überschriften wurden geändert. Das Ende von Kapitel  31 (ehemals 30) wurde erweitert.

Mehrere Absätze und einige der längsten Kapitel sind nun getrennt. Aus einem wurden zwei, um die Längen zu harmonisieren und die Übersichtlichkeit zu erhöhen. Teilweise wurde dies aber durch eine hohe Handlungsdichte verhindert, die nicht vorteilhaft geteilt werden konnte.

Im übrigen wurden punktuelle Änderungen, Ausschmückungen oder Korrekturen vorgenommen, unter anderem im Kapitel mit Lady Replica.

Die Zufalls-Randfigur Lorraine tritt im jetzigen Kapitel 43 (zuvor 39) ein zweites Mal kurz in Erscheinung, und ihr Outfit wurde präzisiert. Sie hat zudem etwas mehr Dialog und Aktion. Dadurch wird auch ihre Meinung über Replikanten deutlich.

Ein zusätzlicher kurzer Rückblick in Jades Vergangenheit wurde als neues Kapitel (49) in den Roman aufgenommen. Dies inkludiert eine weitere Version von Jades Standard-Traum, den sie früher, mit bestimmten Abweichungen, immer wieder erlebte. Dieser Traum kommt auch in Kapitel 30 (ehemals 29) vor und wurde dort stark modifiziert.

Nach dem Ende des Romans, und zwar hinter dem virtuellen Buchrückentext und vor dem Impressum, folgt ein kurzer Überblick über Jades Träume sowie Hinweise auf Inhalte und Bedeutungen, die aus der jeweiligen Variante abgeleitet werden können.

Das Showdown-Kapitel (jetzt 57, ehemals 49) habe ich stark erweitert (+ ca. 100 %) und mit individuellen Perspektiven - jedoch weiterhin keine Ich-Erzählform - dreier Personen ergänzt. Auch der Ablauf des Geschehens wurde hier zwischen zwei Punkten sehr verändert. Der Abgang einer Person ist nun gänzlich anders und ausführlicher in Szene gesetzt.

Das ehemals vorletzte Kapitel (nun 58, + ca. 52,6 %) verlangte nach einer Auflockerung und ist durch eine neue, sich über mehrere Seiten erstreckende Situation ebenfalls umfangreicher. Zudem findet man hier eine weitere Ergänzung, die zu Beginn des folgenden Kapitels weitergeführt wird.

Das ehemals letzte Kapitel (nun aufgeteilt in 59 bis 62; zuvor nur 51) wurde zunächst stark erweitert (+ ca. 100 %) und anschließend in drei weitere unterteilt, so dass es nun vier umfasst. Dies war sinnvoll, weil die dort beschriebenen Ereignisse und Szenen nicht nur an unterschiedlichen Tagen, sondern verteilt über einen Zeitraum von mehreren Monaten stattfinden (Silvester, Neujahr, ein Tag im Februar und ein Tag im Mai).

Der eigentliche Schluss wird weiterhin durch den Epilog gebildet.

Es ist im Grunde derselbe Roman geblieben, aber mit dieser Neuausgabe liegt eine optimierte Fassung vor, deren Umfang gegenüber der unmittelbaren Vorgängerversion formal um ca. 11,6 Prozent gesteigert wurde, überwiegend aus textlichen Erweiterungen, im übrigen aus Kapitel- und Absatztrennungen resultierend. In diesem Wert nicht mitgerechnet ist diese Vorwortergänzung und ebensowenig die kurze Übersicht über die Traumsequenzen und deren Interpretation nach dem Ende des Romans, gedacht als Bonus und Deutungshilfe, für den Fall, dass diesbezüglich Unsicherheiten oder Fragen bestehen. Im Grunde jedoch, so hoffe ich, sind die Träume im Kontext mit den jeweiligen Geschehnissen und Lebensphasen in Jades Vergangenheit weitgehend selbsterklärend.

Eine spätere inhaltliche Aktualisierung dieser 2024er Neuausgabe - die für eBooks typische Möglichkeit der nachträglichen Änderung oder Ergänzung, vergleichbar mit weiteren Auflagen - wird übrigens nicht erfolgen. Allenfalls würde eine aus technischen Gründen erforderliche Überarbeitung in Betracht kommen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Geschichte an sich in dieser Neuausgabe mit keinem Wort und mit keinem Zeichen geändert wird. 

 

Vio Lou Lepelbet, im März 2024

 

Kapitel 1 - Mittwoch, 21. November 2096, gegen 20:00 Uhr: Eine unnötige Dienstfahrt

 

Eine dichte Wolkendecke verstärkte die Dunkelheit des abendlichen Novemberhimmels. Der zwei Stunden lang pausenlos gefallene Regen verlor an Intensität und ging in Schneeregen über. Cynthia konnte kaum erwarten, endlich aus Karas knallrotem Spielmobil auszusteigen, denn Kara war schlecht gelaunt, und wenn sie schlecht gelaunt war, fuhr sie aggressiv; sehr aggressiv ...

Während die blonde Agentin ihren Sportwagen mit illegalen und angesichts der nassen Fahrbahn riskanten 60 Meilen über die George Washington Bridge Richtung New York City steuerte, blickte Cynthia lustlos auf den sich in der Ferne fortsetzenden Hudson, den sie auf dem Rückweg zur Dienststelle überquerten. Sein träge und gleichmäßig fließendes Wasser war kaum zu erkennen. Es war, als spürte er die Nähe seiner Mündung in den Atlantik, der das Ziel seiner Reise war.

Ob sich der Fluss an die Zeiten vor den Anschlägen und Katastrophen erinnerte? Gedachte er manchmal der Männer, Frauen und Kinder, die hier vor Jahrzehnten gelebt hatten und gestorben waren? Die Menschen von New York City wollten die Zeit der Pandemien, Terrorakte und Bombenexplosionen hinter sich lassen; nicht vergessen, aber abschütteln. Die Viren hatten ihren Schrecken im Laufe der Jahre verloren. Die Feinde aus den eigenen Reihen waren hier und andernorts besiegt worden, und das Trauma der nur wenig später folgenden Meteoriteneinschläge blieb erfolgreich verdrängt. Die schrecklichen Ereignisse der 2060er und 70er Jahre, ob von Menschenhand gesteuert, vom Zufall, Schicksal oder von einer universellen Macht, sollten zwischen den Gedenkfeierlichkeiten verblassen, vor einem banalen Hintergrund aus Alltag, Normalität, Gewinnstreben und materieller Übervorteilung.

Doch viele Menschen waren misstrauisch, ängstlich und argwöhnisch geworden, und so hatten Regierung und Geheimdienste leichtes Spiel, in alte Kontroll- und Überwachungsgewohnheiten zurückzufallen. Obwohl sich das Böse nicht am Aussehen erkennen ließ, fürchtete man, was nur halbwegs anders war. Keine guten Bedingungen für Menschen, die sich von der Norm unterschieden, und extrem schlechte Voraussetzungen für solche, die man im Labor erschaffen hatte, unter Umgehung oder großzügiger Abwandlung natürlicher Gesetze für die Entstehung neuen Lebens.

»Ein falsch positiver Schnelltest! Diese elenden Anfänger! Das wäre Richardson nicht passiert! Den Weg hätten wir uns sparen können! So eine überflüssige Zeitverschwendung ...«, schimpfte die blonde Kara.

Cynthia fand es ebenfalls nicht sehr erbaulich, zu einem Tatort mit einem toten New Yorker hinzugerufen worden zu sein, der in Wirklichkeit gar kein Replikant gewesen war. Vielleicht hätte man den zweiten Test, den Kontrolltest, machen sollen, bevor man sie angefordert hatte, denn durch die unnötige Fahrt nach Fort Lee, eine von mehreren Städten am westlichen Ufer des Hudson Rivers auf dem Gebiet von New Jersey, verzögerte sich ihr wohlverdienter Feierabend erheblich. Dabei hatte sie sich bei diesem Wetter so sehr auf einen gemütlichen Abend auf dem Sofa gefreut, mit einer Tasse heißen Tee irgendeine der zahlreichen Krankenhaus-, Comedy- oder Krimiserien ansehend, oder einen Spielfilm. Belanglos, aber unterhaltsam, und genau richtig für den unangestrengten Ausklang eines anstrengenden Arbeitstages in einer Depressionen heraufbeschwörenden Jahreszeit.

»Schuld haben sowieso nur diese verdammten Bastarde«, fluchte Kara. So nannte sie die Replikanten. »Wenn die nicht wären, dann würde ich jetzt vielleicht in irgendeinem Club sein und eine nette Bekanntschaft machen.« Ärgerlich strich sie ihre meist schräg vors linke Auge fallenden Haarsträhnen zurück und dachte ergänzend: Oder ich würde mit dieser Bekanntschaft schon im Bett liegen und ordentlich Spaß haben, es richtig krachen lassen ...

Cynthia wusste, was Kara, die nicht der Typ für feste Beziehungen war, mit nette Bekanntschaft meinte. Ihre Antwort klang unmotiviert bis leicht genervt: »Wenn sie nicht wären, dann würdest du jetzt auch als Polizistin oder Agentin durch die Dunkelheit fahren, auf der Jagd nach Drogendealern, Waffenhändlern, Menschenhändlern, Mördern oder Vergewaltigern. Nur mit dem Unterschied, dass alle Täter und Opfer echte Menschen wären.«

Cynthia war sensibler als ihre Kollegin. Kara hingegen war sehr direkt und manchmal von einer geradezu abschreckenden Härte, die sie in ihrer Kindheit und Jugend auf der Straße erworben haben mochte. Cynthia konnte sich gut vorstellen, dass ihre Dienstpartnerin früher die Anführerin einer Mädchengang gewesen war. Zwar verstand sie sich mit Kara gut, aber ihr missfiel, wie rücksichtslos die blonde Agentin für gewöhnlich mit ihren Mitmenschen, besonders mit Replikanten und mutmaßlichen Replikanten, umging. »Außerdem sind Replikanten echte Menschen, genau wie wir«, ergänzte Cynthia, um ihren Fehler zu korrigieren.

Kara lachte auf und verdrehte die Augen. »Aber doch nicht wirklich! Das Thema hatten wir schon oft genug, oder nicht?« Sie sah ihre Beifahrerin auffordernd an und überholte mit hohem Tempo ein anderes Fahrzeug, ohne den Blinker zu setzen. Cynthia wurde stärker in den schwarzen Ledersportsitz gedrückt, und Kara redete weiter, da von Cynthia nichts kam: »Sie sind nicht wie wir, und ich kann ihnen nicht vertrauen. Wenn ich mir vorstelle, wie sie ... gemacht worden sind ... Und sag mir nicht wieder, dass du kein Problem damit hast! Das nehm ich dir nicht ab ...«

»Okay, etwas suspekt sind sie mir ja auch«, gab die dunkelhaarige Agentin nach Sekunden des Zögerns zu.

»Ach nein!«, sagte Kara triumphierend. »So ein Satz aus deinem Mund? Hat aber lange gedauert, von dir mal zu hören, wie du wirklich über Replikanten denkst ...«

Insgeheim schämte sich Cynthia für ihre Vorbehalte gegenüber Replikanten, wenn auch vielleicht nicht so sehr, wie sie es als Agentin der Replicant Unit eigentlich sollte.

Als könnte Kara Gedanken lesen, sagte sie: »Wahrscheinlich fühlst du dich für deine Empfindungen sogar schuldig, hab ich recht?«

»Quatsch ...« Cynthia schüttelte den Kopf und starrte gleichzeitig angespannt nach vorn, weil ihre Kollegin dicht auf einen anderen Wagen auffuhr und den Fahrer mehrfach mit der Lichthupe drangsalierte. Sie kannte Karas Fahrstil, konnte sich aber nicht an ihn gewöhnen.

Kara lächelte wissend. »Quatsch ...? Ich kenne dich besser, als du denkst ...«

Seufzend sagte Cynthia: »Komm schon, richtig ist das nicht! Sie sind lebende Wesen, Menschen wie wir. Sie denken, sie fühlen ...« Weiter kam sie nicht, denn plötzlich weiteten sich ihre Augen. Ihr Atem stockte und das Herz schien sich zu verkrampfen. Sie versuchte instinktiv, sich auf dem Sitz so klein wie möglich zu machen, als Kara, voller Ungeduld und des langsamen Hinterherfahrens müde, mit einem riskanten Manöver von der äußersten linken auf die äußerste rechte Spur wechselte und gleich mehrere Fahrzeuge überholte, bevor sie im letzten Moment einem rechts fahrenden Automobil auswich, indem sie wieder nach links zog und Vollgas gab, begleitet vom wilden Hupen mehrerer Überholter. Kara störte sich nicht daran und beschleunigte weiter.

Cynthias Herz schlug nun so schnell und heftig, dass sie es pochen hörte. In ihrem Kopf rauschte es, weil das Blut regelrecht durch die Adern schoss. Langsam atmete sie aus und starrte fassungslos nach vorn. Die auf der Frontscheibe mit rasender Geschwindigkeit zum Dach hochjagenden Schneeregenflocken und –tropfen nahm sie kaum wahr. Wir hätten tot sein können! Nur langsam entkrampften sich ihre Hände.

»Sag mal, spinnst du? Wenn du lebensmüde bist, dann sag mir das, bevor ich in deinen Wagen steige, okay? Du bist ja total irre, aber echt!«

Kara grinste und ergänzte ungerührt Cynthias vor dem Überholmanöver begonnenen Satz: »... und sie sind in Laboren entstanden. Darf ich dich daran erinnern, dass sie entwicklungsgeschichtlich gesehen die perfektionierten Nachfolger von Robotern, Androiden und Cyborgs sind? Was ist daran menschlich? Für mich sind es immer noch künstliche ...«

»Stimmt nicht, sie sind aus Fleisch und Blut«, unterbrach Cynthia genervt.

»... und widernatürliche Wesen«, fuhr Kara mit erhobener Stimme fort. »Die sind einfach unheimlich. Daran ändert auch diese alberne Gleichstellung nichts. Oder kannst du dir vorstellen, einen Freundeskreis aus Replikanten zu haben?«

Cynthia dachte nach und schüttelte nach einer Weile den Kopf. »Ich weiß nicht. Eigentlich nicht ...«, gab sie unter der Wirkung von Karas Worten widerwillig, aber wahrheitsgemäß zu. »Obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, einen Freundeskreis aus Geisteskranken zu haben, die sich und andere irgendwann zu Tode fahren ...«

»Eigentlich nicht? Warum denn nicht? Es sind lebende Wesen, Menschen wie wir. Sie denken, sie fühlen ...«, zitierte Kara ihre Dienstpartnerin.

Cynthia ignorierte die Frage, so dass die blonde Agentin selbst antwortete: »Ich werde dir sagen, warum du es dir nicht vorstellen kannst: Weil die im Grunde aus Einzelteilen bestehen. Wenn man sie wenigstens normal gezüchtet hätte ... Wenn sie wenigstens durch Zellwachstum und Zelldifferenzierung entstanden und am Stück herangewachsen wären, wie jeder normale Mensch. Aber nein, die bestehen aus einzeln gezüchteten Organen und Körperteilen, die man später irgendwie zusammengefügt hat. Das ist doch ekelhaft!« Kara nahm ihre Hände vom Steuer und fuchtelte vor ihrem Gesicht herum, um die Wirkung der Worte zu unterstützen.

Freihändig fahrend schossen sie durch die Dunkelheit, nur zwanzig Zentimeter von der Fahrbahnbegrenzung aus Beton entfernt. Cynthia fand dies nicht sehr erbaulich, denn wie üblich hatte Kara die meisten Funktionen des Fahrassistenten deaktiviert, um den sicherheitsorientierten, aber spaßbremsenden Bevormundungen des Bordcomputers zu entgehen, wie sie es gern formulierte.

»Außerdem muss dabei doch irgendein Schaden zurückbleiben. Deshalb weiß auch niemand, was in deren Köpfen wirklich vorgeht. Denk nur mal an den Amoklauf der eifersüchtigen Replikantin vor ein paar Tagen in L.A. Es war jetzt das dritte Mal innerhalb von fünf Monaten, dass ein Replikant total durchdreht und mehrere Menschen ermordet. Und wieviele menschliche Amokläufer hat es in diesem Zeitraum gegeben? Nicht einen einzigen!«

Gemessen am verschwindend geringen Bevölkerungsanteil war der statistische Anteil der Replikanten an Amokläufen überproportional hoch. Aber Cynthia bezweifelte die Glaubwürdigkeit der offiziellen Zahlen. Mitarbeiter eines Fernsehsenders waren in einigen Fällen auf Ungereimtheiten gestoßen. Die Nachforschungen hatten zu der These geführt, dass manche dieser Gewalttaten möglicherweise inszeniert worden waren, um die Replikanten und Befürworter ihrer Gleichstellung in Verruf zu bringen. Cynthia bezweifelte kaum, dass gewisse Menschen für dieses Ziel über Leichen gehen und Unschuldige opfern würden. Aber für die Theorie gab es keine Beweise, und die in der Bevölkerung weit verbreitete Skepsis gegenüber den künstlich erschaffenen Menschen verhinderte, dass Behauptungen und Annahmen dieser Art Glauben geschenkt wurde. Letztendlich wusste auch Cynthia nicht mit Sicherheit, was sie davon halten sollte.

Ebensowenig wusste sie, ob es richtig war, dass die Behörden in Fällen von Amokläufen Täter nach Mensch und Replikant unterschieden und die dafür notwendigen Untersuchungen durchführten. Vielleicht gab es gute Gründe, dies zu tun, aber nach ihrem Verständnis handelte es sich um eine Lücke im Gleichstellungsgesetz. Wenn Gleichstellung, dann bitte vollständig!

Kara steuerte den Wagen von der Brücke, um auf die südlich verlaufende Richtungsfahrbahn des Henry Hudson Parkways zu wechseln. Die von Anfang an zweispurige Ausfahrt beschrieb zwischen halbhohen Begrenzungen aus Beton zunächst eine Kurve von gut 135 Grad. Das Gefälle war stark, und noch während des Richtungswechsels konnte man durch leichtes Drehen des Kopfes rechts auf den Hudson und das jenseitige Ufer New Jerseys blicken. Viel zu erkennen gab es auf der anderen Seite jedoch nicht, denn die Anzahl der Hochhäuser und beleuchteten Fenster hielt sich dort im Vergleich zu Manhattan in Grenzen. 

Doch der Anblick war für Cynthia nicht nur wenig lohnenswert, sondern angesichts Karas nach wie vor aggressiver Fahrweise von zweitrangiger Bedeutung. Die blonde Agentin liebte das Autofahren am Limit unter allen Bedingungen, einschließlich nässe- und schneebedingter Glätte, und so brach das Heck des Fahrzeugs immer wieder aus und drängte nach außen in Richtung der Betonbarrieren.

Am Kurvenausgang mochten sich ängstliche Gemüter in düsterer Nacht von den geisterhaften Gerippen zweier Bäume bedroht fühlen, die aus einem Grünstreifen einige Meter tiefer zwischen zwei anderen Fahrbahnen wuchsen, und deren Äste und Zweige sich nach allem Lebendigen zu strecken schienen, dessen sie habhaft werden konnten.

Doch Cynthia fand den Anblick nicht halb so gruselig wie ihre Rolle als Beifahrerin an diesem Abend. Willkommen bei den Hell Drivers ..., dachte sie, während Kara ein letztes Mal gegenlenkte, um den Wagen für einen kaum mehr als fünfzig Meter messenden geraden Abschnitt gen Westen auszurichten.

Nach der folgenden 90-Grad-Linkskurve konnten Betrachter durch einen Blick zu eben dieser Seite eine Szenerie bestaunen, die nach Cynthias Meinung, zumindest an dunklen Winterabenden oder in Gewitternächten, einer der bemerkenswertesten Anblicke war, den das in die Jahre gekommene New York zu bieten hatte; eine Ansicht, die in der Dunkelheit noch beklemmender wirkte als Karas gruseliger Fahrstil: Nach einem Häuserblock mit trutzburgartigem Unterbau, der an eine uneinnehmbare Festung erinnerte, folgten bis zu 30 Stockwerke hohe Wohntürme; in das Schwarzgrau des Himmels ragende Zeitzeugen vergangener Jahrzehnte. Sie ruhten auf Konstruktionen, die ihrerseits die Höhe mehretagiger Gebäude hatten, und die an ihrem westlichen Ende nur durch alte, filigrane Stützpfeiler davor bewahrt wurden, gemeinsam mit den Betonriesen über ihnen einzustürzen und auf dem felsigen Untergrund zu zerschellen, auf dem sie erbaut waren.

Bei Tageslicht konnte man, zu den Bodenplatten hochblickend, Risse und Stellen erkennen, an denen das Material abgebröckelt war. Dort zu wohnen, musste ein täglicher Nervenkitzel sein. Zwei Reihen von Pfeilern waren erforderlich, um dem westlichen Rand der Gebäude den nötigen Halt zu geben und zu verhindern, dass das Abenteuer des Wohnens in einem Desaster endete.

Gitter verhinderten den Zutritt zu dem höhlenartigen Anfangsbereich unterhalb der Bauwerke, und metallene Treppensteige sollten die Zustandskontrolle der Grundkonstruktion und vielleicht auch des Felsensockels ermöglichen. Für kein Geld der Welt würde Cynthia auch nur einen Tag lang in diesen Übrigbleibseln der Vergangenheit ihr Leben riskieren. Sogar als Co-Pilotin ihrer nahe des Grenzbereichs fahrenden Kollegin fühlte sie sich sicherer.

Eine Rechts-Links-Kombination führte nun von den Architekturkuriositäten weg und näher zum Hudson, und die nach wie vor stark abschüssige Fahrbahn sorgte im Zusammenspiel mit der überhöhten Geschwindigkeit für ein flaues Gefühl in Cynthias Magengegend. Die Begrenzung auf 25 Meilen schien die weiterhin im Stil einer Rallye-Fahrerin agierende Kara nicht im Mindesten zu beeindrucken, und schon im Kurvenausgang beschleunigte sie die Corvette auf über 60 Meilen. Den folgenden, weitgehend in Geraden verlaufenden Abschnitt nutzte sie, um die Geschwindigkeit noch mehr zu erhöhen.

Kara fühlte sich seit dem Verlassen der Georg Washington Bridge trotz der widrigen Bedingungen unterfordert, und weil von Cynthia auf das Argument der Amoklaufhäufung keine Reaktion erfolgt war, hatte sie, gleichzeitig den ersten Drift zu Kurvenbeginn abfangend, weitergesprochen: »Meine Meinung steht fest: Die sind unberechenbar, einfach gestört. Wenn es nach mir ginge, dann würde man die alle wegsperren, statt ihnen die Möglichkeit zu geben, anonym mitten unter uns zu leben. Und außerdem finde ich die Vorstellung, intimen Kontakt mit diesen Kreaturen zu haben, echt widerlich.«

Cynthia fand Karas Argumentation unlogisch: »Wie kannst du das widerlich finden? Viele von ihnen sind schöner und ästhetischer als die meisten Menschen. Wenn du also kein Problem damit hast, dir nicht nur einen Vibrator reinzuschieben, sondern hin und wieder sogar etwas Echtes reinstecken zu lassen, dann sollten Replikanten eigentlich auch kein Problem sein, oder?«

»Doch, sie wären ein Problem. Und was die Ästhetik der Replikanten angeht: Die weiblichen Replikanten, ja, die sind extrem ästhetisch. Natürlich sind sie das, weil ihre ursprüngliche Bestimmung darin bestand, eine Sexsklavin für irgendeinen widerwärtigen, reichen Typen zu sein.«

Damit lag Kara falsch, und Cynthia nutzte umgehend die Gelegenheit, darauf hinzuweisen: »Du weißt genau, dass das erst hinterher kam, als sie ab 2081 für den freien Verkauf in größerer Zahl erschaffen wurden, bevor es gesetzliche Verbote gab. Ursprünglich wurden sie ausschließlich für medizinische und militärische Versuchszwecke erschaffen, und zwar heimlich. Pharmaunternehmen hatten ein besonderes Interesse an ihnen. Und dabei wäre es auch geblieben, wenn die Politik schneller reagiert hätte.«

»Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, die sind gefährlich und verschlagen. Denk nur mal an die vielen Replikantinnen, die für die private Nachfrage produziert wurden, bevor ihre Herstellung insgesamt gesetzlich verboten war ...«

»Man hat versucht, bestimmte Hirnareale punktuell dauerhaft zu schädigen, damit sie weitgehend willen- und antriebslos sind und keine Gefahr für ihre Besitzer darstellen«, erinnerte Cynthia.

»Richtig, zum Beispiel das limbische, oder wie ich es nenne linkische System. Nur hat das nicht immer geklappt. Wie hatte man das genannt? Unerwartete neuroregenerative Fähigkeiten oder so ähnlich? Und wo ist das aufgefallen? Etwa schon im Labor? Nein, die waren schlau genug, das Spiel mitzuspielen. Und kaum waren sie draußen, haben sie ihre Besitzer kalt gemacht und sind abgehauen. Die hätten auch einfach so verschwinden können ...«

»Hättest du auch nicht gemacht!«, hielt Cynthia entgegen.

»Ich bin aber keine im Labor entstandene Replikantin. Ich bin normal auf die Welt gekommen.«

»Was nicht dein Verdienst ist. Außerdem bin ich mir da manchmal nicht so sicher ...«

»Wie meinst du das?«, fragte Kara, die stets bereit war, in den Gegenangriffsmodus überzugehen, lauernd.

Cynthia bedachte ihre Kollegin von der Seite mit einem abschätzend-vielsagenden Blick und meinte: »Naja, etwas anders bist du ja schon, und das muss ja wohl einen Grund haben.«

»Ach, und welchen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht bist du ja aus einem Ei geschlüpft? Andererseits könntest du auch ein Alien sein. Beides ist möglich. Wenn ich es mir recht überlege, bist du wahrscheinlich ein aus einem Ei geschlüpfter Alien.«

Kara musste trotz ihrer schlechten Laune grinsen, und Cynthia fuhr fort: »Jedenfalls hatten die Replikanten nicht soviel Glück. Manche wurden schlimmer behandelt als Tiere. Ist doch klar, dass die ihre Besitzer gehasst haben. Und außerdem haben sie selbst keine Schuld daran, dass sie nicht geboren, sondern in Laboren erschaffen wurden.«

»Nein, da haben sie keine Schuld dran. Aber sie könnten wenigstens selber zur Lösung des Replikantenproblems beitragen.«

»Und wie?«

»Indem sie kollektiven Selbstmord begehen«, meinte Kara kühl. Da sie wusste, dass ihre Kollegin derart gefühllose Äußerungen nicht mochte, relativierte sie nach einigen Sekunden: »Jedenfalls hat mir die Zeit vor der Gleichstellung besser gefallen. In jeder Nation gibt es höchstens ein paar tausend bis maximal dreißigtausend Replikanten. Ich frage mich, wieso man deswegen so einen weltweiten Aufstand gemacht hat und immer noch macht. Man könnte eine Art Reservat bauen, die dort einpferchen, mit allem versorgen, was zum Leben nötig ist, und aufpassen, dass keiner mehr rauskommt. Replicant City. Nach ein paar Jahrzehnten wäre das Problem erledigt ...«

Cynthia legte den Kopf schief und sah ihre Kollegin vorwurfsvoll an. »Ein Reservat? So wie damals bei den Native Americans? Am besten noch von einem unter Hochspannung stehenden Zaun umgeben, oder was?«

»Klar, sonst könnten sie ja abhauen. Ich sage übrigens nicht, dass das bei den Native Americans richtig war!«, stellte Kara klar.

»Aha! Aber bei den Replikanten schon?«

»Logisch!«

»Du hast sie doch nicht alle!«, fand Cynthia.

Kara blieb unbeeindruckt: »Vielleicht gelingt es diesem Madlock ja, die Gleichstellung wenigstens hier in Amerika rückgängig zu machen, falls er gewählt wird. Zuzutrauen wär’s ihm.«

»Was? Die Gleichstellung rückgängig zu machen oder gewählt zu werden?«

»Beides.«

»Toll!«, meinte Cynthia sarkastisch. »Dann würde es vielleicht sogar auf deine Reservatslösung hinauslaufen, falls dieser Psychopath sie nicht einfach alle töten lässt ...«

Cynthia mochte Senator Gregor Roy Madlock nicht. Sie hielt ihn für einen massenmanipulativ wirkenden Mann, dessen Saat auf fruchtbaren Boden fiel. Und er war machtbesessen, was ihn gefährlich machte.

»Ich finde ihn ja auch nicht sympathisch, aber er spricht immerhin aus, was viele nur denken. Ich glaube, er hat bei der Präsidentschaftswahl gute Chancen, auch wenn er zur Zeit noch als Außenseiter gehandelt wird.«

Cynthia nickte, während ihr gleichzeitig auffiel, dass es nur noch regnete. »Ich bin mal gespannt, was dieser Spinner bei seiner Rede in drei Tagen zu sagen hat. Woher nimmt er nur seinen extremen Hass auf die Replikanten?«

Kara blickte erstaunt. »Weißt du das etwa nicht mehr? Sein Sohn Peter ist doch von einer Replikantin getötet worden!«

Cynthia lachte spöttisch auf und rollte mit den Augen. »Ja, das behauptet er. Beweise dafür gab es aber nicht. Die angeklagte angebliche Replikantin – wie hieß sie noch, Sarah Day? – wurde damals immerhin freigesprochen.«

»Sie wurde nur freigesprochen, weil eine Zeugin ihre Version der unbekannten Killerin bestätigt hat. Aber vielleicht hat die Zeugin gelogen? Vielleicht kannte sie Sarah und hat ihr nur einen Gefallen getan? Und warum haben beide ausgesagt, die Killerin nicht beschreiben zu können? Ist doch komisch, oder?«

»Keine Ahnung, vielleicht aus Angst? Und dass Sarah eine Replikantin ist, war letztendlich auch nur eine von Madlocks unbewiesenen Behauptungen.«

Kara blickte zweifelnd. »Schonmal was von falschen Identitäten gehört? Meinst du etwa auch, er hatte sich nur ausgedacht, dass Peter von dieser angeblichen Replikantin aus Eifersucht getötet wurde? Wieso hätte eine Killerin Peter erschießen sollen, und von wem wurde sie beauftragt? Es hieß, Peter Madlock sei ein Mann ohne Feinde gewesen. Außerdem befanden sich Schmauchspuren auf Sarahs Haut und Kleidung und ihre Fingerabdrücke auf der Tatwaffe ...«

»Klar, die Polizisten hatten sie ja mit der Waffe in der Hand aufgefunden. Aber laut Zeugin war das alles arrangiert. Die Killerin hatte der bewusstlosen Sarah die Waffe in die Hand gelegt und abgedrückt, was die Schmauchspuren erklärt. Haben die Geschworenen zum Glück ja auch so gesehen.«

»Schwachsinn, wenn du mich fragst.«

»Ich glaube jedenfalls an diese unbekannte Killerin. Aber Madlock hält bis heute an seiner Version fest, die ihm praktischerweise einen für viele gut nachvollziehbaren Vorwand für seine politischen Ansichten gibt.«

Karas Blick, der schon den ganzen Abend grimmig war, wurde noch grimmiger. »Ist mir auch völlig egal, wer Peter Madlock umgelegt hat. Tot ist tot, das macht für ihn keinen Unterschied mehr. Ich hab genug von Replikanten und diesem politischen Gesülze von Leuten, die um gesellschaftliche Korrektheit bemüht sind, nur um in der Öffentlichkeit gut dazustehen. Wer heutzutage zugibt, kein Freund dieser verdammten Gleichstellung zu sein, wird von den Medien doch sofort als Rassist dargestellt.«

»Ich habe noch nie erlebt, dass die Medien Madlock als Rassisten bezeichnet haben«, wandte Cynthia ein. »Obwohl das so falsch auch wieder nicht wäre ...«

»Das sagst ausgerechnet du?«

»Was soll das denn heißen?«

»Naja, seit heute ist ja wohl amtlich, dass du zumindest eine ambivalente Einstellung gegenüber Replikanten hast ...«

Cynthia musste sich eingestehen, dass Kara recht hatte: Ja, sie hielt die Gleichstellung für richtig und behandelte Replikanten dienstlich stets korrekt und unvoreingenommen. Aber privat konnte sie darauf verzichten, Umgang mit ihnen zu haben. Vielleicht war dies tatsächlich eine Art von Rassismus.

Als sie sich dem Exit 13 West 158th Street näherten, sahen sie bereits aus großer Entfernung die blinkenden Einsatzleuchten von Polizei und Rettungsdienst. Kara reduzierte die Geschwindigkeit. Gut 30 Meter hinter der Ausfahrt lag ein Sattelauflieger quer über der gesamten Richtungsfahrbahn des Henry Hudson Parkways, dessen südliche Fahrtrichtung dadurch vollständig blockiert war. Ein Polizist des NYPD winkte Kara mit beleuchteter Warnkelle Richtung Ausfahrt, während sein Kollege an der Unfallstelle stand und mit Fahrer und Rettungsdienst sprach.

Die Agentinnen hätten die Ausfahrt sowieso genommen. Da hinter ihnen weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen war, das sie hätten behindern können, aktivierte Kara für einen Moment Sirenengeheul und Einsatzleuchten, hielt neben dem Officer an und ließ die Seitenscheibe hinunter. »FBI. Brauchen Sie Unterstützung?«, fragte sie.

»Danke, Ma’am, alles im Griff. Reifenplatzer. Der Fahrer ist nur leicht verletzt. Verkehrspolizei und Räumdienst sind schon unterwegs.« Der Polizist war noch jung und sowohl von Kara als auch ihrer Corvette ziemlich beeindruckt. »Starker Wagen, Ma’am«, sagte er etwas kleinlaut und mit leicht errötendem Gesicht.

»Danke, Officer«, antwortete Kara freundlich. »Wenn Sie uns nicht brauchen, dann fahren wir jetzt weiter ...«

»Ist gut, Ma’am ... Gute Nacht, Ma’am ...«

Kara lächelte und ließ die Scheibe hochfahren. »Gute Nacht ...« Sie beschleunigte langsam, beobachtete den Polizisten im Rückspiegel und grinste. »Danke, Ma’am ... Starker Wagen, Ma’am ... Gute Nacht, Ma’am ...«, äffte sie ihn belustigt nach.

Cynthia musste ebenfalls grinsen, obwohl sie auch etwas Mitleid hatte. »Dem armen Jungen hast du wahrscheinlich ziemlich feuchte Träume beschert. Dabei ist er doch jetzt schon nass bis auf die Knochen ...«

Kara folgte der Wendung des Exits 13 und fuhr auf der West 158th Street, nur 30 Meter vom Fluss entfernt, entgegengesetzt zur bisherigen Richtung nordwärts.

Im tristen Winter, die Bäume ihres schmückenden Blätterkleides beraubt, machte diese Straße nicht viel Eindruck. Doch vom Frühjahr bis in den Herbst hinein war es ein Vergnügen, mit gemächlicher Geschwindigkeit in Sichtweite des Ufers entlangzufahren, eingerahmt von Grünflächen und unter Schatten spendenden Bäumen, die beiderseits des Asphaltbandes gepflanzt waren.

Nach gut 280 Metern Fahrt über die an diesem Winterabend trostlos wirkende Allee musste Kara ihre Corvette bei der Unterquerung des Henry Hudson Parkways präzise durch die Engstelle aus Leitplanken und gemauertem Stützpfeilersockel steuern.

»Arschlöcher ...!«, sagte sie, weil die zur Verfügung stehende Fahrbahnbreite ohne erkennbaren Grund so stark reduziert worden war, dass breiter gebaute Fahrzeuge nur knapp hindurchpassten.

Nach weiteren fast 280 Metern folgte Kara dem Verlauf der West 158th Street und nutzte die gemauerte Unterführung unterhalb des vierspurigen Riverside Drives. Nicht nur aufgrund des tunnelartigen Bauwerks zu Beginn hätte Cynthia diesen auf mehrere hundert Meter schnurgerade verlaufenden Straßenabschnitt zumindest bei Nacht und als Fußgängerin auf jeden Fall gemieden.

Zunächst schmal und zwischen hochaufragenden Häusern liegend, vergrößerte sich die Verkehrsfläche nach einigen Sekunden Fahrt mit innerstädtisch nicht legitimen 50 Meilen pro Stunde zu einem in der Dunkelheit noch weniger Sicherheitsgefühl vermittelnden weiträumigen Kreuzungsbereich, ehe nach weiterem geradem Streckenverlauf endlich der Broadway erreicht war, auf den Kara rechts abbog. Dort kam es zu einer Begegnung, die Cynthias und Karas Leben verändern sollte ...

 

Kapitel 2 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 20:55 Uhr: Central Park, Manhattan, New York City

 

Sie blickte in blaue Augen, die scheinbar unschärfer wurden, als sich ihre Lippen zu einem Kuss näherten. Während sie die Begegnung ihrer Zungen genoss, spürte sie zärtliche Hände auf ihrem Rücken. Dieselben liebevollen Berührungen ließ sie seinem Hals und Hinterkopf zukommen. Wäre es nicht um der Atmung willen gewesen, hätte sie stundenlang weitergemacht, statt zwei Minuten später von ihm zu lassen. Aber die Distanz zwischen ihren Gesichtern hatte auch etwas Gutes, konnte sie doch den dunkelblonden, fast schulterlangen Haaren zusehen, die sein gegen den Wind gerichtetes Gesicht so wunderbar umwehten, wie sonst nur seine Liebeserklärungen ihr Herz umschmeichelten.

»Ich liebe dich«, sagte sie. Er lächelte. Niemals zuvor hatte sie einen Menschen so warmherzig lächeln sehen. Es war ehrlich, ohne Hintergedanken. »Liebst du mich auch?«

»Ich liebe dich«, antwortete er.

Sie wusste, es gab nichts auf der Welt, das diese Worte an Wahrheit übertraf. »Wirklich?«, fragte sie trotzdem und blickte erwartungsvoll in Augen, die ihr so rein und klar vorkamen wie eine wolkenlose Sommernacht.

»Ich liebe dich«, wiederholte er. Ohne den ernsthaften Klang seiner Stimme zu verändern, ergänzte er auf die Art und Weise, die sie erhofft hatte: »Und würd’ der Todesengel mich bestrafen für mein Glück oder der Himmel mir verleih’n ein Leben für die Ewigkeit, niemals mehr wollt’ ich ohne dich zurück, in tristes Dasein ohne Herz und Fröhlichkeit.«

Sie sah ihn sekundenlang sprachlos an; nicht nur wegen seiner Worte; vielmehr wegen dem, was er für sie empfand, und sie dadurch zu fühlen imstande war: Dass sie geliebt und gebraucht wurde; dass sie nicht bedauern musste, sie selbst zu sein. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass es so war, und sie ihren Platz gefunden hatte. »Du meinst es wirklich so«, sagte sie. »Obwohl du weißt, wer ich bin; und was ich bin ...«

»Vielleicht, weil ich weiß, wer du bist ...«, antwortete er. »Was man euch angetan hat, Sarah, all die Qualen, Schmerzen und Demütigungen ...« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Ich schäme mich, ein Mensch zu sein!«

»Das musst du nicht, Peter«, sagte sie und streichelte liebevoll seine Wange.

Er nahm ihre Hände, führte sie zusammen und umschloss sie mit seinen eigenen. »Danke, dass du mir vertraut hast. Es war ein Risiko, aber du bist es eingegangen ... Die Erinnerung an jenen Abend, als du es mir gesagt hast, werde ich immer bewahren.«

»Es war kein Risiko«, widersprach sie. »Nicht bei dir. Ich wusste, dass du zu mir halten würdest, denn ich wusste, welche Art Mensch du bist. Nicht alle von euch sind schlecht, das weiß ich jetzt, aber ich glaube, nicht viele sind so wie du ...« Tatsächlich hatte sie den Eindruck, dass er noch liebevoller, zärtlicher und besorgter war, seit er die Wahrheit kannte. Endlich empfand sie ihre Vergangenheit nicht mehr als Last.

»Was würde dein Vater wohl tun, wenn er es wüsste?«

»Ich weiß es nicht, Sarah.« Die Erwähnung seines Vaters beunruhigte ihn.

»Er würde mich umbringen lassen, oder Schlimmeres ...«, sagte sie traurig und erkannte in seinen Augen, dass er ihre Befürchtungen teilte.

»Er darf es niemals erfahren«, entgegnete er. »Vielleicht sollten wir fortgehen und irgendwo neu anfangen ...«

Sie lächelte, denn es gab nichts, was sie lieber getan hätte. Wann und wohin auch immer: Sie wäre ihm gefolgt, bis ans Ende der Welt, denn sie liebte ihn und vertraute dem dreißigjährigen Doktor und Lehrstuhlinhaber der Philosophie und Literaturwissenschaften.

Als er es in ihren Augen erkannte, sagte er leise: »Und wär’ die Zukunft noch so arm an wundervollen, unermesslich teuren Dingen, nichts tät’ ich lieber als zu flieh’n mit dir von diesem finst’ren Ort, auf nur von wahrer Liebe sanft gelenkten Schwingen ...«

Er wusste, dass sie ihn gern so sprechen hörte, denn es waren die schönsten Liebeserklärungen, die sie sich vorstellen konnte; vielleicht, weil sie klangen, als lebten sie in einer besseren Welt. Doch obwohl er manchmal ein romantischer Träumer war, sprach er tatsächlich nur in ihrer Gegenwart und auf ihren Wunsch hin gelegentlich so, als wäre er ein edler Ritter und sie das von ihm umworbene Fräulein am königlichen Hofe.

Sie mochte alles, was anders war, als die von ihr in der Vergangenheit erfahrene Realität der Menschen. Und er, Peter, schenkte ihr diese schönen Momente, gab ihr Bewunderung, Anerkennung und Liebe, die sie mit ganzem Herzen erwiderte.

»Du sprichst mir aus der Seele«, flüsterte sie und bedankte sich mit einem zärtlichen Kuss für seine verbalen Liebesbeweise, die durch sein Interesse an Dichtkunst, Minnesang, Literatur und höfischer Kultur des europäischen Mittelalters beeinflusst waren. Doch trotz aller Hochschätzung traditioneller Werte und Eigenschaften war er ein moderner, aufgeschlossener Mensch, der das Zeitgeschehen aufmerksam verfolgte.

»Glaubst du, dass es zur Gleichstellung kommen wird?«, fragte sie, als sie weitergingen.

»Es sieht gut aus, meiner Meinung nach. Ich glaube fest daran. Die Stimmen der Vernunft werden zahlreicher, die Diskussionen nehmen einen anderen Verlauf als noch vor wenigen Monaten. Die Menschen beginnen, euch anders zu sehen. Sie erkennen, dass ihr ein Teil von uns seid, und wir uns eigentlich gar nicht unterscheiden. Malorys Pläne sind gut. Die Gleichstellung wird euch die Menschenrechte geben und die Möglichkeit, unerkannt mitten unter uns zu leben.«

»Ich wünsche es mir so«, gestand sie. »Auch ich würde mit dir von diesem finst’ren Ort fliehen, wenn es sein müsste; bis ans Ende der Welt, wenn du nur bei mir bist. Aber sich nicht mehr verstecken zu müssen, das wäre wie ein Traum ...«

»Ein Traum, den auch ich träume ...«, sagte er aufrichtig.

»Dann hätte ich endlich eine legale Identität, zwar fiktiv, wie jetzt auch, aber legal.«

»Mach dir keine Gedanken wegen der falschen Papiere. Niemand hat einen Nachteil dadurch, und die Menschen lassen dir, lassen euch, keine andere Wahl.«

Sie blickte ihn traurig an.

»Es werden bessere Zeiten kommen, schon bald ...«, versicherte er. »Malory und Lancaster haben es fast geschafft, die Bevölkerung mehrheitlich und parteiübergreifend zu überzeugen. Sie werden erfolgreich sein, und dann werden auch der Kongress und der Präsident einlenken. Mein Vater wird das nicht verhindern können. Er ist ein radikaler Außenseiter, hat kein politisches Konzept ...«

»Sein Konzept ist Hass. Er hasst Replikanten. Er hasst dich für deine Toleranz. Und ich glaube, er ahnt etwas. Bei unserer zufälligen Begegnung mit ihm ...« Sie schluckte, denn sie war besorgt. »... Ich glaube, er hat meine Unsicherheit gespürt ...«

»Sei unbesorgt, Sarah. Dir wird nichts geschehen. Und was deine Unsicherheit betrifft: Ich liebe sie, wie ich alles an dir liebe. Unsicherheit und Selbstzweifel sind etwas, das ein großer Teil der Menschheit schon lange verloren hat ...«

Seine Worte konnten sie etwas beruhigen. Ellen Malory und Steve Henryk Lancaster hatten eine beachtliche Anzahl an Gefolgsleuten aus allen gesellschaftlichen Bereichen um sich gruppieren können, darunter führende Rechtsgelehrte. In anderen Nationen, allen voran Japan, war die gesetzliche Gleichstellung der Replikanten bereits eingeführt. Im Land der aufgehenden Sonne konnten sie schon seit Anfang 2087, also seit zweieinhalb Jahren, unerkannt und mit fiktiven Identitäten und Lebensläufen ausgestattet, mitten unter ihren Schöpfern ein normales Leben führen. Dieses Beispiel und Peters liebevolle Umarmung gaben ihr Hoffnung und Zuversicht, als sie ihren Weg durch den Central Park fortsetzten.

Den milden Abend unter klarem Himmel genossen auch andere Menschen, allein oder zu zweit. Erst ab 22 Uhr war es besser, den Park zu meiden, wenn das Tageslicht allmählich durch die kleinen Lichtinseln der Parklaternen abgelöst wurde und Kriminelle das Areal mehr und mehr für sich beanspruchten, um ihre Geschäfte abzuwickeln oder auf Opfer zu lauern. Aber bis dahin hatten sie noch eine Stunde Zeit.

Als sie ihre gewohnte Abzweigung nahmen, die quer vom mittleren Bereich des Parks zum Ausgang auf der anderen Seite führte, fiel ihnen auf, dass der Weg für eine Absperrung mit Flatterband vorbereitet war. Offensichtlich sollte bald mit irgendwelchen Arbeiten begonnen werden. Aber noch war der Durchgang frei, also gingen sie Arm in Arm weiter und genossen den friedlichen Abend.

Der Weg schlängelte sich durch ein mit Büschen und Bäumen unregelmäßig dicht bewachsenes Areal, um nach etwa 250 Metern Luftlinie auf einen anderen Weg zu treffen. Von dort war es bis zum Ausgang nicht mehr weit. Als sie sich der Mitte dieser Distanz näherten, fiel Sarah auf, dass sie allein waren. Sie sah sich um, ohne andere Menschen zu sehen.

Sie genoss die romantischen Spaziergänge und die Abendstimmung, wenn es im Park noch nicht einsam, aber schon etwas menschenleerer war. Doch ganz allein mit Peter, ohne die schützende Anwesenheit anderer Spaziergänger und Lustwandler, fühlte sie sich angreifbar und wie auf einem Präsentierteller. Nicht, dass es an Peter gelegen hätte: Obwohl er kultiviert war und für einen Mann, ohne weich zu wirken, ein fein geschnittenes Gesicht und sanftes Wesen hatte, war er doch sportlich und trainiert genug, um sich in seiner Anwesenheit geborgen zu fühlen. Aber gegen bewaffnete Angreifer oder eine Überzahl würden sie selbst gemeinsam nichts ausrichten können.

Doch auch dies war nicht der wahre Grund für ihr Bedrohungsgefühl. Es lag vielmehr an Erfahrungen mit Dunkelheit und Einsamkeit; Erinnerungen, die sie wohl mit allen Replikanten teilte.

 

Kapitel 3 - Vergangenheit, Montag, 10. April 2073, 21:30 Uhr. Newark, New Jersey, 120 Meter unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Ein kalter Ort

 

Das warme Bett gab ihr ein Gefühl, für das sie kein Wort kannte. Die Menschen nannten es Geborgenheit, doch dafür war an diesem Ort, tief unter der Erdoberfläche, kein Raum. Zumindest hatte man keinen Platz dafür vorgesehen, denn es sollte in ihrem Leben keine Rolle spielen.

Die hellgrauen Wände fühlten sich kalt an, wenn sie sie berührte, so wie jetzt. Nach wenigen Sekunden zog Jade ihre schmale, zerbrechlich wirkende Hand unter den Schutz der wärmenden Bettdecke zurück. Sie winkelte ihre Beine an, um sich so klein wie möglich zu machen, und sehnte sich nach etwas Unbekanntem, von dem sie nur ahnte, dass es existierte; nicht körperlich, sondern als Gefühl, wie das Unbehagen, das sie in ihrer tristen Welt in jeder Sekunde ihres noch jungen Lebens empfand.

Sie wusste, dass es eine andere Welt gab, durch Bilder und Filme, die man ihr gezeigt hatte. Diese fremde Realität, viele Meter über ihr, fand sie verwirrend, wenn sie an das Leben in den Städten der Menschen dachte, und wunderschön, wenn sie sich den blauen Himmel, die Berge und grünen Wälder vorstellte, Flüsse und Seen, die Sonne, den Mond, Insekten und Tiere.

Einige Minuten lang träumte sie mit geschlossenen Augen von diesem schönen Teil der Welt und sehnte sich nach der Freiheit, ihn genießen zu dürfen und eins mit der friedlichen Harmonie zu werden, die es dort draußen zu geben schien. Ob sie jemals ein Teil davon sein würde? Könnte es ihr jemals gelingen, die Furcht vor der trostlosen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft aus ihrem Herzen zu vertreiben? Oder war es ihr Schicksal, für immer in diesem kalt und nüchtern wirkenden unterirdischen Komplex gefangen zu sein?

Sie und die anderen Kinder waren offenbar etwas Besonderes, und längst hatte sie verstanden, um was es ging: Tests, Messungen und Vergleiche mit bestimmten Daten, die die Männer und Frauen aus Tabellen ablasen. Meistens lagen die Ergebnisse über den Zahlen, die als Durchschnitt, Alterssoll oder entwicklungstypisch bezeichnet wurden, und ab und zu machten die weiß gekleideten Erwachsenen erstaunte Gesichter oder benutzten Worte wie unglaublich, fantastisch oder phänomenal.

Allmählich drang das leise Summen der auf ein Minimum reduzierten Nachtbeleuchtung und elektronischen Überwachungsgeräte wieder in ihr Bewusstsein. Die schönen Bilder ihrer Traumwelt verschwanden im Nirgendwo. Sie hoffte, sie wiederzufinden, sobald sie eingeschlafen war. Bis dahin wollte sie sich ganz still verhalten, denn ihr war klar, dass jede noch so kleine Bewegung und die leisesten Stimmen im Raum erfasst wurden, aber sie wusste nicht, ob selbst ihre Träume aufgezeichnet und analysiert wurden. Doch sie wusste, was auf sie wartete, sobald sie ihre Augen wieder öffnen würde ...

 

Kapitel 4 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 21:10 Uhr: Peter, Sarah und die Begegnung mit der Killerin

 

Peter fiel auf, dass seine Freundin beunruhigt war. Auch er hatte die ungewöhnliche Stille in diesem Bereich des Parks bemerkt. Immerhin war Sommer, und die Menschen genossen abends die Abkühlung bringende, ins Landesinnere wehende Meeresbrise. Erst allmählich würde sich der Park leeren. Doch seit sie sich auf dem Verbindungsweg befanden, waren sie allein, als hätten sie einen Bereich betreten, der von der Außenwelt abgeschnitten war.

Um Sarah zu beruhigen und das Gefühl von Sicherheit zu geben, verstärkte er den Druck der Umarmung und seiner Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. Gleichzeitig spürte er, dass sie ihn an der Taille noch näher zu sich heranzog. Sie hatten eine kleine, bewaldete Anhöhe in der Mitte des Weges fast erreicht, als sie entfernte Schritte hörten. Beide drehten sich um und erkannten eine zierliche Läuferin, die sich ihnen näherte.

Gott sei Dank, dachte Sarah und wunderte sich über ihre gedankliche Wortwahl. Sie war Replikantin, und doch hatte sie diese Ausdrucksweise der Gesellschaft, in der sie seit ihrer Flucht vor sechs Jahren lebte, übernommen. Aber war der Gott ihrer Erschaffer auch ihr Gott? Viele Menschen glaubten an den Schöpfer, waren mit Religionsunterricht, sonntäglichen Kirchengängen, Gebeten und Weihnachten aufgewachsen. So, wie Sarah es sah, waren 50 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger aktiv religiös, während die andere Hälfte ausschließlich an materielle Übervorteilung und Reichtum, der ein Gefühl von Macht und Überlegenheit verlieh, glaubte oder danach strebte.

Sie selbst glaubte an die Liebe zu Peter und seine Liebe zu ihr. Vielleicht würde Peter als praktizierender Christ sie eines Tages sogar zum Glauben an Gott führen. Aber derzeit war Religiösität für sie nicht greifbar. War es ein Gefühl, das man in sich hatte, eine Sehnsucht, Hoffnung oder Gewissheit? War es etwas, das dem Menschen als Kind anerzogen wurde?

Sie wusste, dass sie als Replikantin ein Kind der Wissenschaft war. Nicht Gott oder die Evolution, sondern Menschen hatten sie erschaffen, auf sehr unnatürliche Art und Weise, wie sie sich selbst eingestehen musste. Aber das war nicht ihre Schuld. Weder hatte sie sich freiwillig gemeldet noch war sie vorher gefragt worden. Dies war eine der Gemeinsamkeiten, die sie mit echten Menschen teilte. Menschen wurden geboren, Replikanten waren bis zum Verbot erschaffen worden. Die Probleme und Existenznöte kamen danach. So sehr unterschieden sie sich nicht voneinander. Sie alle wollten überleben und strebten, wenn möglich, nach irgendeiner Form des Glücks.

Trotzdem, wenn sie sich in die Lage eines geborenen Menschen versetzte, konnte sie das Misstrauen und die Abneigung manchmal beinahe verstehen. Äußere Unterschiede gab es nicht, aber die Herkunft, die Entstehung von Replikanten war gewöhnungsbedürftig, wenn nicht schlimmer. Manchmal glaubte sie selbst, dass sie gar nicht existieren durfte. Aber sie lebte, hatte Wünsche, Träume und Gefühle, empfand Zuneigung und Angst, Hunger, Durst und Schmerz. Sie hatte Rechte und einen Anspruch auf Gleichbehandlung, das war ihre feste Überzeugung. Es gab keine Rechtfertigung für das, was man Replikanten antat.

Sie drehte sich noch einmal zu der näher kommenden Joggerin um. Eine junge Chinesin, vielleicht 18 Jahre alt, in schwarzen, dreiviertellangen Sportleggings und neonpinkfarbenem Top. Sicher eine, die das Glück hatte, ein Mensch zu sein. Vermutlich entspannte sich die hübsche Asiatin nach der Arbeit oder dem Lernen und hielt sich in Form, indem sie lief. Wie würde sie reagieren, wenn sie wüsste, dass Sarah eine Replikantin war?

Sarah sah Peter an, und ihre Blicke begegneten sich. Peter lächelte. Siehst du, es ist alles okay ..., schien er mit Augen und Mimik sagen zu wollen. Er erreichte sein Ziel, denn tatsächlich empfand sie keine Angst mehr, sondern genoss den Moment an seiner Seite. Die Läuferin überholte sie, und Sarah sah ihr nach, bis sie hinter der nächsten Biegung von Bäumen verdeckt wurde.

Aus den Augenwinkeln erkannte Sarah, dass Peter keinerlei Interesse an der hübschen Joggerin hatte. Er sah niemals anderen Frauen hinterher. Er blickte verträumt oder nachdenklich zum Himmel, während er sie weiterhin zärtlich umarmte. An was er wohl dachte? Vielleicht sinnierte er darüber, wie sie ihre gemeinsame Zukunft gestalten würden? Sarah lächelte. Eine Zukunft an Peters Seite wäre schöner als alles, was sie sich je erträumt hatte.

Wenig später erreichten auch sie die Biegung. Hinter der Kurve, bereits im Schatten der Bäume, saß die Chinesin am Wegesrand auf einer Bank und sah ihnen entgegen. Sie wirkte nur leicht außer Atem. Vermutlich gönnte sie sich trotzdem eine kurze Pause, bevor sie weiterlief. Warum sie so feindselig zu ihnen sah, konnte Sarah sich nicht erklären. Vielleicht galt der Blick gar nicht ihnen?

Sarah drehte sich um, aber niemand war zu sehen. Dafür erkannte sie, dass der Weg nun mit dem Flatterband abgesperrt war. Jemand musste es in den letzten Minuten gespannt haben. Es verwirrte sie, da es keinen Sinn ergab. Nicht zu dieser Zeit. Als sie wieder nach vorn blickte, schenkte die Läuferin ihnen keine Beachtung mehr. Dafür hatte sie dünne, schwarze Sporthandschuhe angezogen und beschäftigte sich mit dem Inhalt einer Gürteltasche. Auf gleicher Höhe versuchte Sarah, einen Blick in die Tasche zu werfen. Sie erkannte ein braunes Fläschchen, ein weißes Tuch und ein schwarzes, etwa 11 Zentimeter langes Metallröhrchen.

Seltsamer Inhalt, dachte Sarah. Als sie bereits einige Meter entfernt waren, hörten sie eine scharfe Kommandostimme: »Stehenbleiben!«

Sarah erschrak und blieb, wie Peter, stehen. Sie lösten ihre Umarmungen, drehten sich um und sahen, dass die Chinesin aufgestanden war und eine Pistole mit Schalldämpfer auf sie, Sarah, richtete. Sarah spürte ihr Herz schneller schlagen. Während ihr Blick auf die Joggerin gerichtet war, suchte sie mit ihrer Rechten Peters Hand. Sie fand sie und spürte, dass Peter sie ganz fest hielt.

Die Läuferin ging einige Schritte zurück und entfernte sich von der Bank. »Kommt her!«, befahl sie. »Sonst stirbt sie!«, ergänzte sie, als Sarah und Peter zögerten. »Geht bis zur Bank!«

»Wer hat dich geschickt?«, fragte Peter. »Mein Vater?«

»Ich sag es nicht nochmal: Geht bis zur Bank!« Drohend und gezielter als zuvor, richtete die Läuferin ihre Waffe auf Sarahs Brust. Gehorchen war die vernünftigere Wahl, also gingen sie langsam vorwärts und blieben vor der hölzernen Bank stehen.

»Und jetzt?«, fragte Peter ruhig. Sein Blick war ernst, aber wenn er Angst hatte, so gelang es ihm, dies zu verbergen.

Sarah hatte Angst, denn ihre Knie fühlten sich weich wie Brei an. Ihre Herzfrequenz erhöhte sich deutlich, doch mit dem Verstand war sie nicht in der Lage, schrittzuhalten. Obwohl sie bereits zuvor eine abstrakte Bedrohung empfunden hatte, kam ihr die konkrete Gefahr unwirklich vor. Furcht und Sorge bemächtigten sich ihres Körpers, aber sie empfand sie noch nicht in ihrem Kopf. Eigenartig.

»Du siehst ein Tuch und eine Flasche mit einem Hypnotikum. Betäube sie, dann passiert ihr nichts. Tust du es nicht, wird sie sterben. Ihr beide werdet dann sterben. Entscheide dich! Ich gebe dir 10 Sekunden.« Die Ansage wirkte stakkatohaft. Offensichtlich wollte die junge Frau keine Zeit durch längere Diskussionen verlieren. Ihre Art zu reden und Anweisungen zu erteilen, bewies, dass sie gut vorbereitet war, genau wusste, was sie wollte, und zu keinerlei Zugeständnissen bereit war. Sie begann, zu zählen, und zielte auf Sarahs Kopf: »Zehn, neun, acht ...«

Peter handelte entschlossen. Er ging zur Bank, nahm Fläschchen und Tuch und stand vor Sarah, bevor die Chinesin bis sechs gezählt hatte. »Ich liebe dich«, sagte er schnell. »Sie wird dir nichts tun, sonst müsste ich dich nicht betäuben. Dir wird nichts geschehen.«

»Und dir?« Es überraschte sie. Alles ging viel zu schnell. Sie wusste, dass sie große Angst um Peter hatte, obwohl ihr Verstand immer noch klar und ihr Denken rational war. Man ließ ihr nicht die Zeit für Panik und Verzweiflung, hatte sie zu überraschend aus ihrem gewohnten Tagesablauf gerissen, aus ihren Träumen und dem perfekten Moment an Peters Seite. Erst wenige Sekunden waren seitdem vergangen.

»Mir passiert nichts. Mach dir keine Sorgen, Sarah. Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch!« Die Antwort kam wie programmiert, war aber ehrlich gemeint wie sonst nichts auf der Welt und begleitet von der Gewissheit, dass sich ab diesen Momenten alles und für immer verändern würde.

Peter küsste sie bei drei. Gleichzeitig schraubte er das braune Gefäß auf und ließ den Deckel zu Boden fallen. Er löste sich von Sarah, legte das Tuch auf den Flaschenhals und tränkte es mit dem Narkosemittel, indem er die Flasche umdrehte. Dann nahm er das Tuch und drückte es gegen Sarahs Mund und Nase, genau in dem Augenblick, als die Chinesin bis null heruntergezählt hatte. Die Flasche ließ er fallen, um seine Freundin mit der linken Hand an Hals und Hinterkopf abzustützen.

»Ich liebe dich, Sarah«, war das Letzte, was sie hörte, und beginnende Verzweiflung war das Letzte, was sie empfand, bevor sie das Bewusstsein verlor und von Peter langsam und vorsichtig auf den Boden gelegt wurde. Er strich ihr zärtlich über die Wange und küsste sanft ihre Stirn. »Pass gut auf dich auf ...«, flüsterte er und betrachtete ihr Gesicht noch einige Sekunden lang.

Dann stand er auf und drehte sich zu der jungen Chinesin um. Während der Bewegung sah er einen Moment lang eine Frau, die mit vor den Mund gehaltener Hand und weit geöffneten Augen nur wenige Meter entfernt hinter Sträuchern und Büschen Deckung gefunden hatte. Er glaubte, die Frau trotzdem erkannt zu haben. Wann immer er im Central Park war, sah er sie mit ihrem kleinen Hund spazierengehen. An diesem Abend hatte er sie wenige Minuten zuvor abseits der Wege auf einer Wiese gesehen, ohne Hund und sich suchend umblickend. Vermutlich war ihr der graue Pudel entwischt, und die Suche nach dem Tier hatte sie querfeldein hergeführt. Unmöglich würde sie ihm beistehen können, aber wenn sie Glück hatte, würde die Chinesin sie nicht entdecken. Deshalb beschloss Peter Madlock, ihre Anwesenheit zu ignorieren und den Dingen ihren Lauf zu lassen ...

 

Kapitel 5 - Mittwoch, 21. November 2096, kurz nach 20:00 Uhr: Replikantenjäger!

 

Sie befuhren den Broadway in südwestliche Richtung erst seit wenigen Sekunden. An der ersten Querstraße, der West 157th Street, glaubte Kara, ihren Augen nicht zu trauen, und erschrak, als plötzlich eine menschliche Gestalt auf die Straße lief. Die Agentin trat mit aller Kraft auf die Bremse, und obwohl das ABS im Gegensatz zu einigen anderen elektronischen Fahrassistentsystemen nicht deaktiviert war, hatte sie aufgrund der Nässe schwer damit zu kämpfen, den Wagen auf Kurs zu halten und das Schlingern zu kontrollieren.

Cynthia erkannte eine Frau in einem transparenten Plastikregenmantel. Die Kapuze musste beim Laufen vom Kopf nach hinten gerutscht sein. Die blonde Unbekannte kam hinter dem Eckhaus hervorgelaufen, überquerte den Gehweg und lief, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Fahrbahn. Als sie den roten Sportwagen bemerkte, machte sie den Fehler und blieb stehen. In ihrem von panischer Angst beherrschten Gesichtsausdruck zeigte sich Überraschung. Ihre Augen weiteten sich, und sie öffnete den Mund für einen spitz klingenden Schrei, als die Stoßstange des Fahrzeugs Kontakt mit ihren Schienbeinen bekam, so dass sie auf die niedrige Motorhaube der Corvette fiel.

Wäre sie nicht stehengeblieben, hätte sie es unbeschadet bis zur Mittelinsel, aufgrund des kaum vorhandenen Verkehrs sogar bis zur anderen Straßenseite geschafft. Doch der Aufprall war nicht sehr stark, denn Kara hatte schnell reagiert, und so hoffte Cynthia, dass die Fremde unverletzt war. Sie hatte außerdem den Eindruck, dass sich die etwas jüngere Frau geistesgegenwärtig nach vorn fallen ließ, um dem Aufprall einen Teil seiner Wucht zu nehmen und die Beine zu schützen.

»Verdammter Mist!«, fluchte Kara. Zeitgleich mit Cynthia öffnete Kara die Tür und stieg aus. »Hör mal, kannst du nicht aufpassen?«, herrschte sie die Unbekannte an, die am ganzen Körper zitternd versuchte, sich aus ihrer nahezu horizontalen Lage wieder zu erheben. Die vom Regen nasse Fronthaube erschwerte das Vorhaben der schnell und flach atmenden Blonden. Sie rutschte mit den Händen ab und schlug erneut unsanft mit Oberkörper und Kinn auf.

»Hee!«, rief Kara protestierend, da sie Beulen und Kratzer im Lack befürchtete. Sie ging zu der Unbekannten und zerrte sie grob von der Corvette weg.

Im gleichen Moment sah Cynthia drei entschlossen aussehende Männer herannahen. Die Agentin stufte sie auf Anhieb als gefährlich ein. Sie bremsten ihren schnellen Lauf ab und blieben wenige Meter entfernt stehen.

»Jetzt haben wir dich endlich, Replikantenschlampe!«, rief einer triumphierend und hob, sich überlegen fühlend, den Kopf an.

Kara blickte argwöhnisch zu der Unbekannten, konzentrierte sich aber sofort wieder auf die Verfolger. Die Männer trugen dunkelblaue Bomberjacken. Auf den Ärmeln in Höhe der Schultern befanden sich Embleme in Form eines sich auf eine imaginäre Beute stürzenden Adlers, der von den Wörtern Replicant und Hunter eingerahmt war.

»Das sind welche von diesen selbsternannten Replikantenjägern ...«, meinte Kara.

»Ganz recht, und wer seid ihr Schlampen?«, fragte der Anführer. Er sah die Agentinnen drohend an.

Kara ließ sich nicht einschüchtern: »Wir sind dein schlimmster Albtraum, du Pisser!«, lautete ihre kaltblütig gesprochene Antwort. Es war einer von Karas typischen Sprüchen in brenzligen Situationen. Angst kannte sie nicht; zumindest ließ sie es sich niemals anmerken. Auch diesmal blickte sie den fremden Männern furchtlos entgegen.

Der Anführer machte ein Gesicht, als könne er kaum glauben, was Kara gesagt hatte. Dann wurde sein Blick noch drohender. »Macht sie alle!«, schnauzte er seine beiden Kumpane an und untermalte den Befehl mit einer ungeduldigen Handbewegung. Seine Kumpel griffen unter ihre Jacken und hielten sodann Messer in den Händen. Es waren schmale, spitze Mordwerkzeuge, wie sie bei Straßenkämpfern beliebt waren. »Und danach mach ich die Replikantenschlampe fertig. Los jetzt!«

Seine Mitstreiter grinsten siegesgewiss. Sie schienen Cynthia und Kara nicht ernstzunehmen und schon gar nicht als gefährlich einzustufen. Einer fuchtelte mit dem Stilett, der zweite ließ seine Stichwaffe von einer Hand in die andere fliegen.

Derjenige, der es auf Kara abgesehen hatte, grinste und meinte: »Wird mir ein Vergnügen sein, dich abzustechen, Flittchen! Du erinnerst mich an meine Ex, die hatte auch so eine blonde Kurzhaarfrisur mit strähnig ins Gesicht fallenden Haaren. Sieht echt scheiße aus, wenn du mich fragst ...«

»Dich fragt aber keiner, Missgeburt!« Kara verengte die Augenlider und starrte ihren Gegner mit aufkommender Wut an. Wird dir noch leidtun, heute dein Rattenloch verlassen zu haben, Blödmann ... Diesen Tag überlebst du nämlich nicht!

Der Anführer verlor die Geduld: »Genug geredet, worauf wartet ihr?«, rief er aufgebracht. »Tötet sie!« Als hätten sie nur auf das Kommando gewartet, stürzten seine Gefolgsleute vor; einer brüllend auf Kara, der andere grinsend auf Cynthia.

Während der letzten Sekunden waren Cynthia und Kara einige Schritte zurückgewichen, um die Distanz zu den Angreifern zu vergrößern. Dies brachte ihnen genügend Zeit, unter ihre Jacken zu greifen und ihre Pistolen zu ziehen.

Überrascht blieben die Angreifer stehen. »Das sind Cops!«, meinte Karas Gegner.

»Wenn ich etwas mehr hasse als Replikanten, dann sind es Replikantenjäger!«, sagte Kara und schoss ihrem Angreifer ein Projektil in die Brust. Der Mann wurde durch den Aufprall nach hinten gestoßen und fiel rücklings zu Boden. Das Hemd unter der trotz der Kälte geöffneten Jacke färbte sich augenblicklich rot, und nach wenigen Zuckungen blieb der Angeschossene regungslos liegen.

Cynthias Gegner blickte fassungslos auf seinen toten Kameraden, wich langsam zurück und ließ das Messer fallen. »Ich bin unbewaffnet«, sagte er eingeschüchtert und blickte die Agentinnen abwechselnd an. »Ich bin unbewaffnet«, wiederholte er, die Arme seitlich ausgestreckt. Seine Hände begannen, zu zittern. Er sah nun in panischer Angst Kara an, die er als die Gefährlichere erkannt hatte.

»Stimmt, du bist unbewaffnet!«, bestätigte Kara. »Aber das bleibt unser Geheimnis ...«

»Kara, nicht!«, rief Cynthia, aber die blonde Agentin schoss dem Mann gnadenlos in die Stirn. Er fiel um, und der verbliebene Gegner blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die Toten. Sein Mund stand offen und er schien das Atmen vergessen zu haben. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich das Blatt gewendet. Plötzlich stand er allein da und sah sein Leben bedroht.

Kara richtete ihre Pistole auf ihn, und Cynthia ermahnte ihre Kollegin erneut: »Kara! Reiß dich zusammen!«

»Wieso?«, fragte Kara. »Der Typ hat mich mit seinem Messer doch angegriffen, oder? Ich musste mich verteidigen, oder hat hier jemand was anderes gesehen?« Sie hob den Arm mit der Pistole etwas an und zielte auf die Stirn des letzten Gegners. »Hast du vielleicht was anderes gesehen?«

Für einen Moment ging Cynthia durch den Kopf, dass beinahe das Guter Cop, böser Cop-Spiel ablief, allerdings in der Version Good agent, very bad agent. Nur, dass es kein Spiel war, sondern tödliche Realität. Sie nahm den Regen, der ihren Wintermantel spürbar durchnässt hatte, kaum wahr, sondern konzentierte sich auf Kara und den verbliebenen Verbrecher. Zwischen den Wassertropfen auf seiner Stirn glaubte sie, Schweißperlen zu erkennen. Er zitterte, und sein Gesicht war schreckensbleich. Er hatte große Angst, das war offensichtlich.

Kara lächelte spöttisch. »Ihr habt nicht das Niveau der echten Replikantenjäger«, stellte sie fest, als würde sie Bewunderung für die Mitglieder der früheren polizeilichen Jagdeinheiten empfinden und bedauern, dass die Zeiten des Tötens von Replikanten vorbei waren.

»Wer seid ihr? Ihr ... ihr habt sie ermordet! Ihr seid keine Cops, oder? So ... sowas dürftet ihr doch gar nicht!« Die Stimme des selbsternannten Replicant Hunters zitterte ebenso wie seine Hände. Mut und Überlegenheitsgefühl schienen sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Seit wann fragen Ratten wie du, was man darf und was nicht?«, fragte Kara. »Ihr schert euch doch einen Dreck um gesetzliche Verbote, gesellschaftliche Regeln und die Rechte anderer. Nenn mir nur einen einzigen Grund, warum ich dich nicht auch umlegen sollte, du mieses, stinkendes Arschloch ...«

Der Mann sah Verachtung und Wut in Karas Blick und zitterte heftiger, aber er antwortete nicht.

Cynthia hoffte sehr, dass Kara ihn nicht auch erschießen würde, aber sie war sicher, dass ihre Partnerin sich wieder unter Kontrolle hatte. »Wie wär’s mit Informationen?«, schlug sie vor, ging zum Wagen und kümmerte sich um die Gerettete.

Die junge Frau war leichenblass, starrte auf die Toten und bebte am ganzen Körper. Karas brutales Vorgehen, das unnötige Töten, schien sie ebenso zu ängstigen wie die Hetzjagd durch die Verbrecher. »Bist du in Ordnung?«, fragte Cynthia besorgt.

Unter dem Eindruck der schockierenden Ereignisse dauerte es einige Sekunden, ehe die Unbekannte die Frage verarbeitet hatte und zu Cynthia sah. »Ja, ich glaube schon ...«

»Versuch mal, zu laufen«, forderte die Agentin und streckte helfend ihre Hand aus. Die grazile Blonde ergriff sie und ging mit schmerzverzerrtem Gesicht einige Schritte. »Es scheint nichts gebrochen zu sein, das ist die Hauptsache«, meinte Cynthia. »Die Schmerzen hast du schon bald vergessen«, fügte sie aufmunternd hinzu, stützte die Frau ab und half ihr, sich auf den Beifahrersitz zu setzen.

Kara und der Replikantenjäger hatten dies beobachtet, und nun fragte die blonde Agentin: »Hast du es dir überlegt?«

Der Mann schien etwas Selbstsicherheit zurückgewonnen zu haben. Anscheinend vermutete er, dass Kara sich inzwischen unter Kontrolle hatte und nicht mehr auf einen Unbewaffneten schießen würde. »Ich habe keine Informationen. Was wollt ihr denn überhaupt wissen?«

Cynthia kam vom Wagen zurück und stellte sich neben Kara. Diese schnalzte fünf Mal mit der Zunge und schüttelte dabei den Kopf, um ihrem Gegner klarzumachen, dass sie ihm nicht glaubte. »Wir wollen Namen. Wer ist dein Chef? Wer ist bei euch Mitglied? Wie seid ihr organisiert? Wo ist euer Hauptquartier?«

Er presste die Lippen zusammen und schwieg. Kara verlor die Geduld und schoss dicht neben seinen Fuß. Der Verbrecher zuckte erschreckt zusammen, bewahrte aber Fassung. »Ich weiß nicht viel. Wir sind nur wenige. Wir erhalten unsere Aufträge anonym ...«

»Das glaubst du doch selber nicht! Im ganzen Land werden Replikanten getötet, weil irgendjemand, der Zugriff auf ihre geheimen Daten hat, sie an Typen wie euch weitergibt. Wo sitzt der Verräter? Im Heimatschutz? Was weißt du darüber? Rede endlich, oder willst du deinen Freunden Gesellschaft leisten?«

Der Mann blickte zu seinen am Boden liegenden Kumpanen; sah das Blut, das ihre Haut benetzt oder die Kleidung durchtränkt hatte. Er wirkte unsicher und verängstigt. »Ich weiß es nicht. Wir gehören nur zur ausführenden Sektion. Unsere Informationen erhalten wir über Mittelsmänner. Alles läuft anonym ab, damit wir niemanden verraten können, falls wir geschnappt werden ...«

Kara sah Cynthia fragend an. »Glaubst du ihm? Irgendwas muss er doch wissen, oder?«

Cynthia hob ratlos die Schultern und begegnete Karas Blick. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln, dass der Hunter sich bewegte.

»Vorsicht!«, rief gleichzeitig die junge Frau vom Auto aus, doch es war bereits zu spät, denn der Mann hatte eine Pistole in der Hand, zielte auf die überraschte Kara und schoss ...

 

Kapitel 6 - Vergangenheit, Dienstag, 12. Juli 2089, 21:45 Uhr: Sarahs Schmerz

 

Sie spürte, dass sie langsam erwachte. Jedenfalls glaubte sie dies. Sicher war sie nicht, da sie kaum etwas anderes empfand als Müdigkeit und bleierne Schwere. Für einen Traum jedoch fühlte sie sich zu schwerfällig, also beschloss sie, langsam in die Realität zurückzufinden, zumal sie rücklings auf einem unbequemen, harten Untergrund lag. Von unten piekste und drückte es überall, und an manchen Stellen des Rückens, besonders im Bereich von Wirbelsäule und Nieren, tat es weh. Kleine Steinchen! Der Weg im Central Park! Nur mit Mühe konnte sie die Erkenntnis gedanklich formulieren, aber die Erinnerungen durchdrangen allmählich den trüben Schleier aus Benommenheit, Kopfschmerz sowie subtilem Verlustgefühl.

Was hielt sie in ihrer Hand? Es fühlte sich wie ergonomisch geformter Kunststoff an. Noch ehe sie die Augen öffnen und sich in eine halbwegs aufrechte Position bringen konnte, um nachzusehen, fiel ihr die Situation unmittelbar vor ihrer Bewusstlosigkeit wieder ein. Peter! Wo bist du? War Peter in Gefahr? Wieso hatte man ihn gezwungen, sie zu betäuben, und was befand sich nun in ihrer Rechten? Sie hob die Hand, öffnete die Augen und erkannte ...

»Weg mit der Waffe!«, rief jemand hektisch und laut. »Polizei, NYPD! Lassen Sie die Waffe fallen, Miss! Weg mit der Waffe!«

Erschreckt ließ Sarah die Pistole fallen. Was ist hier los, wieso habe ich eine Waffe in der Hand? Die zwei Polizisten ließen ihr keine Chance, eine Erklärung zu finden, doch sie lieferten die Antwort gleich mit, während sie sie packten, umdrehten und die Hände hinter den Rücken fesselten: »Sarah Day? Wir verhaften Sie wegen der Ermordung von Peter Madlock! Sie haben das Recht, zu schweigen. Alles, was sie sagen, kann vor Gericht ...«

Den Rest der Belehrung nahm Sarah als bedeutungslosen, unverständlichen Kauderwelsch wahr, denn was sie sah, als sie auf dem Bauch lag und den Kopf nach rechts drehte, ließ alles um sie herum, sogar ihre eigene Situation, völlig unwichtig erscheinen: Dort lag Peter, mit zwei Blutflecken auf seinem Hemd und einem Punkt getrockneten Blutes auf seiner Stirn. Die Augen waren leblos Richtung Himmel gerichtet. Sein Gesicht schien keinen körperlichen Schmerz auszudrücken; weder waren die Augen weit aufgerissen noch war der Mund verzogen oder unnatürlich geöffnet. Es sah aus, als wäre er eingeschlafen, aber nicht zufrieden, sondern mit großer seelischer Last. Sarah glaubte, Trauer zu erkennen; die Trauer um eine verlorene Zukunft an ihrer Seite.

»Nein ...! Peter ...! Bitte nicht ...!«, stammelte Sarah, als sie denselben Seelenschmerz spürte, dasselbe Bedauern. Säulen, die ihre Welt bisher sicher getragen hatten, schienen einzustürzen, und tonnenschwere Steine ihr verzweifeltes, sich verkrampfendes Herz zu treffen. Der Sinn ihrer Existenz verschwand in einem gefräßigen schwarzen Loch, das sich plötzlich vor ihr aufgetan hatte und nur erschienen war, um ihr Leben zu zerstören.

Peter war tot, und niemand konnte ihn zurückbringen! Diese Erkenntnis traf Sarah mit der Wucht eines Dampfhammers. Die blonde Sechsundzwanzigjährige verstand es, und doch tat sie es nicht. Sie versuchte, die Wirklichkeit fortzuschreien, hoffte, aus einem unbarmherzigen Albtraum erwachen zu können: »NEEEIIIN!!!« Es gelang nicht, und die Replikantin glaubte, den Verstand zu verlieren. Doch bevor dies geschah, fiel sie erneut in eine schützende Bewusstlosigkeit. Zum Glück wussten die Polizisten nicht, dass sie in Wahrheit erst seit acht Jahren lebte ...

 

Kapitel 7 - Mittwoch, 21. November 2096, 20:10 Uhr: Ein unnötiger Schusswechsel

 

Woher der Mann plötzlich die Pistole hatte, die er auf Kara richtete, konnte Cynthia nicht sagen. Sie verfluchte die Tatsache, dass sie ihre Waffe im Vertrauen auf Kara bereits eingesteckt hatte. Noch im selben Moment schoss der Replikantenjäger auf die blonde Agentin, doch diese reagierte geistesgegenwärtig und ließ sich nach rechts auf den Boden fallen. Dennoch spürte sie, wie das Projektil dicht an ihrem linken Ohr vorbeisauste. Noch während sie fiel, schoss sie ihrem Gegner in die Brust. Zwei weitere Schüsse gab sie auf dem Boden liegend ab. Erneut traf sie den Oberkörper. Als endlich auch Cynthia ihre Pistole in der Hand hielt, lag der Mann schon sterbend am Boden.

Kara stand auf und versuchte, ihm noch Informationen zu entlocken. »Wer ist euer Anführer? Sag mir den verdammten Namen, du Arschloch!«, schrie sie, während sie ihn an seiner Jacke vom Boden hochzog und durchschüttelte.

Er atmete röchelnd, und Blut floss aus seinem Mund. »Leck mich, Schlampe!«, flüsterte er und fügte mit letzter Kraft hinzu: »Wir sehen uns in der Hölle, Miststück!« Dann wich jegliche Spannung aus seinem Körper, und sein Kopf fiel leblos nach hinten.

Kara lachte schrill auf. »Was anderes fällt dir nicht ein als dieser abgedroschene Höllenspruch? Ihr Verlierer seid nicht kreativ genug!« Dann stieß sie ihn mit Wucht auf den Boden zurück. »Von dem Wichser hier erfahren wir nichts mehr, verdammt!« Sie ärgerte sich und trat dem Toten unbeherrscht in die Seite. Wie hatte er es wagen können, sie töten zu wollen? Sie empfand kein Bedauern über das Ableben des ihr unbekannten Verbrechers, aber bedauerlich war der Verlust einer möglichen Informationsquelle. Wäre sie doch nur aufmerksamer gewesen!

Es war das erste Mal, dass sich Replikantenjäger stellen ließen. Es war sogar kaum vorgekommen, dass Angehörige dieser verbrecherischen, noch recht jungen Gruppierung von irgendjemandem, geschweige denn von Agenten oder Cops, auch nur gesehen worden waren. Umso ärgerlicher war, dass nun alle drei tot waren.

»Wir haben uns wie Anfänger verhalten!«, stellte Cynthia fest. Ihr Herz klopfte noch wie verrückt. »Das hätte auch schiefgehen können ...«

Kara stieß die Luft mit einem verächtlichen Geräusch aus. »Das kannst du laut sagen. Wie blutige Anfänger! Verdammt!« Sie trat dem Toten erneut unbeherrscht in die Seite und hörte das Knacken einer Rippe. »So ein Mist!«, schrie sie, enttäuscht, die Situation nicht besser ausgenutzt zu haben, und wütend auf sich selbst, so fahrlässig gewesen zu sein. Ihre Laune an diesem Abend war wirklich sehr schlecht. Sie ließ ihre Wut an dem Toten aus, dessen Körper sie nochmals mit ihrer Stiefelspitze attackierte, und dem sie anschließend mit dem Absatz kraftvoll in den Magen trat. Es sah grotesk aus, als durch den geöffneten Mund des Toten etwas Blut zentimeterweit in die Höhe schoss. Fluchend machte Kara einen Schritt zurück, um den Kontakt mit der roten Körperflüssigkeit zu vermeiden.

Während Kara tief durchatmete, um sich zu beruhigen, dachte Cynthia schon wieder praktisch: »Es ist nicht mehr zu ändern, und wenn du ihn noch so oft trittst ... Was machen wir jetzt mit unserem Schützling?«

Kara blickte zu der Frau, die mit pitschnassen Haaren auf dem Beifahrersitz saß und verunsichert hinübersah. »Meinst du, sie ist wirklich eine Replikantin?«, fragte sie lauernd.

Cynthia sah ihre Kollegin mahnend an. »Lass sie in Ruhe, okay? Sie hat dir nichts getan! Ich kümmere mich um sie. Fordere du lieber Spurensicherung und Leichenteam an, schließlich sind es ja wieder mal deine Toten!«

Sie ging zum Wagen zurück. Die jüngere Frau wirkte verstört und zitterte am ganzen Körper. Kein Wunder, war sie doch hautnah Zeugin einer Eskalation der Gewalt geworden. Auch Cynthia steckte der Schreck noch in den Knochen.

Die Blonde rieb mit den Händen ihre schmerzenden Schienbeine, aber sie schien ansonsten unversehrt zu sein.

»Bist du okay?«, fragte Cynthia trotzdem besorgt. Die Frau nickte zögernd.

»Kanntest du sie?«

»Nein. Sie ... waren plötzlich hinter mir her. Seid ihr Cops?« Die Art zu reden, der Blick, die Mimik – alles drückte Unsicherheit und Misstrauen aus. Vielleicht war es auch nur Angst, die noch immer vorhanden war.

»FBI, Replicant Unit. Ich heiße Cynthia Hansen.« Wieder ein misstrauischer Blick. »Was machst du eigentlich hier, so spät, bei diesem Wetter?«

»Meine Wohnung ist ganz in der Nähe. Ich habe ein Taxi gesucht und wollte zur Arbeit fahren.«

»Zur Arbeit?«, wiederholte Cynthia.

»Ja. Ich arbeite als Tänzerin in der Underworld.«

Die Underworld, einer der angesagtesten Treffpunkte der Stadt, war eine Kombination aus First-Class-Nachtclub und Edeldiscothek. Wer in New York City wohnte, etwas auf sich hielt und es sich leisten konnte, verkehrte dort, und unter jüngeren Touristen galt es als uncool, nicht wenigstens ein Mal in der Underworld gewesen zu sein.

»Wenn du das nächste Mal ein Taxi brauchst, dann lass es lieber zu deiner Wohnung kommen«, riet Cynthia.

»Das hab ich auch versucht, aber ich bin nicht durchgekommen. Dann dachte ich, dass ich hier bestimmt ein Taxi abfangen kann. Immerhin ist das der Broadway.« In der Tat waren Cynthia in den letzten Minuten einige vorbeifahrende Taxis aufgefallen. Die Unbekannte berichtete weiter: »Aber dann waren diese Männer da und haben mich verfolgt. Es ging alles so schnell. Vor einer Viertelstunde war ich noch in meiner Wohnung ...«

Sie unterbrachen das Gespräch, denn Kara kam zur Corvette, um sich Gummihandschuhe aus dem Handschuhfach zu holen. Dabei blickte sie die mutmaßliche Replikantin feindselig an.

Cynthia war inzwischen fast nass bis auf die Haut, da es immer noch regnete. »Wie heißt du denn?«, fragte sie, nachdem Kara sich wieder entfernt hatte und damit begann, die drei Leichen zu durchsuchen, um deren Identität festzustellen.

Schüchtern blickte die Jüngere sie an. »Sandra ...«

»Wo sollen wir dich hinbringen, Sandra?«

»Zur Underworld.«

Cynthia blickte skeptisch. Sie hielt es für keine gute Idee, würde Sandra sofort zur Tagesordnung übergehen. »Wirklich?«

Prompt meinte Sandra: »Ja. Ich glaube, dass Arbeit jetzt die beste Ablenkung ist.«

Die Agentin zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst. Aber wir können auch dafür sorgen, dass du psychologisch betreut wirst. So ein Erlebnis steckt man allein nicht so schnell weg.«

»Nein, danke. Es geht schon ...«

»Du kannst auch mit uns zur Dienststelle fahren, dich in unserem Büro aufwärmen und einen heißen Tee oder Kaffee trinken. Wir können reden, wenn du möchtest ...«

Sandra schüttelte den Kopf so heftig, dass sogar ihre zuvor am Schädel haftenden, nassen Haare patschend hin- und herflogen. Offenbar wollte sie das Angebot auf keinen Fall annehmen. »Nein, das ist wirklich nicht nötig. Meine Chefin wird sich schon um mich kümmern. Sie ist eigentlich wie eine große Schwester für mich. Wir stehen uns sehr nahe. Bei ihr würde ich mich jetzt am wohlsten fühlen.«

»Okay, Sandra, mach dir keine Sorgen. Wir fahren dich hin, kein Problem.«

»Danke, das ist wirklich sehr nett.«

Während Kara nach erfolgloser Durchsuchung der Toten aus einigen Metern Entfernung argwöhnisch und schlecht gelaunt zu der Blonden hinübersah, überlegte Cynthia, ob die Gerettete eine Replikantin war. Die glatten Haare rahmten ein überaus hübsches, zartes Gesicht ein. Der gerade geschnittene Pony reichte bis zu den feinen Augenbrauen. Man sagte Replikantinnen ein hohes Maß an ebenmäßiger Schönheit nach, und dies traf auf Sandra zu.

Im Laufe der Zeit hatte Cynthia ein verlässliches Gespür für die Einschätzung entwickelt, ob sie Replikanten vor sich hatte oder nicht, aber in diesem Fall war es ihr eigentlich egal. Sandra machte einen sympathischen und vernünftigen Eindruck. Cynthia stufte sie als freundlich, sensibel und unsicher ein. Wahrscheinlich war sie eine Replikantin, aber eine Gefahr würde von ihr ebensowenig ausgehen wie von fast allen anderen, mit denen Cynthia bisher dienstlich zu tun gehabt hatte. In der Regel waren die Replikanten gefährdet, und wenn sie nicht äußerst vorsichtig und misstrauisch waren, bestand die Möglichkeit, dass sie als New Yorker Leiche endeten.

Kurz darauf trafen Spurensicherung und Leichenteam ein, und Cynthia ging zu Kara, um sie bei der Übergabe der Toten an die Kollegen zu unterstützen.

»Welch’ Überraschung ...«, meinte der SpuSi-Teamleiter grinsend, als er Kara sah.

»Es war Notwehr, wie immer«, lautete ihre lapidare Antwort. Kara hatte die höchste ‚Abschussrate‘ der gesamten Dienststelle. Sie war nicht stolz darauf, aber es war ihr auch egal. Wie an diesem Abend kam es gelegentlich vor, dass sie brutale Verbrecher einfach niederschoss, wenn sie es nur ansatzweise rechtfertigen konnte. Es würde wie jedes Mal laufen: Die Dienstaufsicht würde den Fall überprüfen und nicht anders können, als zu bestätigen, dass die Agentinnen sich richtig verhalten hatten und Karas Schüsse in Notwehr erfolgt waren. Kara konnte ihre dienststelleninterne, unrühmliche Spitzenposition im tödlichen Schusswaffengebrauch ausbauen, und die Sache wäre erledigt.

Ihr eigenes, Kara schützendes Bestätigen der oftmals sehr zweifelhaften Notwehrsituationen verursachte Cynthia Unbehagen, und die halbherzigen Beteuerungen ihrer Dienstpartnerin, sich zu bessern, hatten sich leider stets als unzuverlässige Vorhersagen erwiesen. Cynthia fragte sich, wie es ihr an Karas Seite jemals gelingen könnte, aus dem Teufelskreis tödlicher Eskalationen auszubrechen. Auch an diesem Abend war bereits alles unter Kontrolle gewesen, und die Gegner hätten problemlos entwaffnet und festgenommen werden können.

Doch die blonde Agentin hatte auch ihre guten Seiten. Wenn sie nicht von ihrem hitzigen Gemüt fehlgeleitet wurde, war sie eine umgängliche Kollegin, auf die sich Cynthia mit geschlossenen Augen verlassen konnte.

Cynthia sah zu Sandra, die scheu, aber dankbar lächelte, da sie nahezu unverletzt und noch am Leben war. Nachdem die vor Ort zu führenden Gespräche und zu bewältigenden Formalitäten erledigt waren, überließen Cynthia und Kara die Toten dem Leichenteam und kamen zum Wagen zurück, um endlich weiterzufahren.

Die mutmaßliche Replikantin setzte sich auf die notdürftige Rückbank des flachen Sportwagens und musste sich zusammenkauern, um Platz zu finden und nicht mit dem Kopf gegen den Dachhimmel zu stoßen. Die Fahrt zur Underworld verlief schweigend. Kara beobachtete ihre neue Mitfahrerin immer wieder argwöhnisch im Rückspiegel. Es gefiel ihr nicht, dass sie gezwungen worden waren, auszusteigen, und nun zu dritt mit nassen Sachen auf den Ledersitzen saßen. Sie stellte für Gebläse und Heizung demonstrativ die höchste Stufe ein. Selbstverständlich aktivierte sie auch die Sitzheizungen, so dass es von unten schön warm wurde, wenngleich es Kara hauptsächlich um das Trocknen der Sitze ging.

Die Underworld lag auf der anderen Seite Manhattans, auf einem Grundstück zwischen East 119th und East 120th, vom Harlem River nur durch den Franklin D. Roosevelt East River Drive oder FDR Drive getrennt. Unter normalen Umständen hätte die Fahrt gut 30 Minuten gedauert, aber Kara schaltete die hektisch flackernden Einsatzleuchten und das Sirenengeheul ein und fuhr gewohnt zügig, so dass sie die Strecke quer durch Harlem über St. Nicolas Avenue, Frederick Douglass Boulevard, Dr. Martin Luther King jr. Boulevard und 2nd Avenue in weniger als 20 Minuten schafften.

Die Underworld hatte einen eigenen, großen Parkplatz, der an diesem verregneten Abend noch genügend freie Plätze bot. Der Discoclub befand sich in einem futuristisch anmutenden Gebäude, dessen rundliche Form manche Menschen vage an ein Ufo erinnerte. Blankes, silbernes Metall und Glas waren die vorherrschenden Elemente.

Alle Stellplätze in der Nähe des Eingangs waren belegt. Kara hätte Rücksicht nehmen und Cynthia und Sandra dort aussteigen lassen können. Sie ließ es aber bleiben und steuerte eine freie Parkbucht in der Mitte des Geländes an. Cynthia wusste nicht, ob Kara dies aus Rücksichtslosigkeit und Egoismus machte, oder aus Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit, vielleicht, weil sie in Verhältnissen aufgewachsen war, in denen Regen und schlechtes Wetter zu den geringeren Prüfungen gehörten. So mussten sie zu dritt quer über die Hälfte der großen Freifläche laufen und waren am Eingang zur Discothek endgültig pitschnass.

Ein Sicherheitsmitarbeiter, dem ein Bereich mit Vordach und Acrylglaswänden Schutz vor Regen und Wind bot, erkannte Sandra und ließ sie passieren. Die Automatiktüren öffneten sich. Ein Vorraum und ein breiter Gang, der vor einer weiteren Automatikschiebetür endete, führten in das Innere der Disco. Es entsprach dem, was man nach der äußeren Form und Gestaltung erwarten konnte. Auch hier herrschte avantgardistisch wirkendes, silbernes Metall vor, das im flackernden Licht der Beleuchtung funkelte und glänzte.

Das kuppelförmige Dach erhob sich weit über der kreisrunden Tanzfläche, auf der sich ein Publikum bewegte, das im Schnitt einige Jahre jünger als Cynthia und eher in Sandras Alter war. Aber auch junge Erwachsene von 18 bis 20 Jahren schienen Gefallen an der Underworld zu finden. Oben in der Wand befanden sich die Abluft- und Frischluftschächte. Die Discothek war nicht so gut besucht wie an Wochenenden, aber immerhin fast zur Hälfte gefüllt.

Laute Elektropopmusik, eine schwache Grundbeleuchtung und grelle Laserlichteffekte irritierten Cynthia. Sie blieb stehen, sah sich um und spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Cynthia blickte zur Seite und sah, dass Sandra etwas sagte und mit der anderen Hand in eine Richtung deutete. Sandra ging voraus, und die beiden Agentinnen folgten.

Eine mit der Aufschrift Privat gekennzeichnete Tür wurde entriegelt, als Sandra eine passende Zahlenkombination über ein Tastaturfeld eingab. Dahinter war die Musik nur noch leise wahrnehmbar.

Eine Treppe führte zum höher gelegenen Kontrollraum, in dem zwei Männer vor zahlreichen Monitoren saßen und das Geschehen in der Disco beobachteten. Zusätzlich zur Überwachung durch die von Kameras übertragenen Livebilder ermöglichte eine Scheibe, darauf zu achten, dass unten alles in Ordnung war.

Sandra grüßte und fragte, wo Jade sei. »Hinten, bei den Mädchen, in der Garderobe, nehme ich an.«

Sie bedankte sich und führte ihre beiden Retterinnen durch einen schwach beleuchteten Gang, auf dessen Seiten sich einige Türen befanden. Sie gingen auf das hell erleuchtete Ende des Flures zu. »Das ist ein Verbindungsgang zum Nachtclubbereich«, erklärte Sandra. »Jade ist die Besitzerin der Underworld. Sie ist eine tolle Frau, sie wird euch gefallen.« Ihre Stimme hatte etwas Schwärmerisches, als sie von ihrer Freundin und Chefin sprach.

Schließlich betraten sie einen Raum, dessen Tür offenstand. Zahlreiche Frauen, einige in Sandras Alter, andere jünger, bereiteten sich auf einen Auftritt vor. Sie schminkten sich, arbeiteten an ihren Frisuren oder zogen Bühnenoutfits an.

Von ihnen hob sich eine andere Frau ab, die etwas älter als die Tänzerinnen war. Cynthia schätzte sie aber auf höchstens 30 Jahre, vielleicht weniger. Dies musste Sandras Chefin sein, die tolle Frau, von der sie gesprochen hatte. Sie war groß und schlank, und ihre blasse, feine Haut verlieh ihr ein elfenhaftes Aussehen. Die schwarzen Haare waren hinten zu einem Pferdeschweif gebunden. Lediglich zwei Haarsträhnen fielen nach vorn und rahmten ihr hübsches, ebenmäßiges Gesicht ein. Die Frisur war schlicht, stand ihrer Trägerin aber gut. Cynthia stellte fest, dass die Schöne keine außergewöhnliche Frisur nötig hatte, um aufzufallen.

Die Schwarzhaarige trug ein langärmeliges Abendkleid aus glänzendem, silbernem Lack. Der farblich entsprechende Schmuck bestand aus sieben dünnen Armreifen je Handgelenk und großen Creolen. Im Haar trug sie eine weiße Blüte, die gut mit dem kühlen Erscheinungsbild harmonierte. Die Blässe der Blütenblätter fand ihre Entsprechung in der Haut ihrer Trägerin, im kristallfarbenen Lippenstift und in den ebenso lackierten Fingernägeln.

Cynthia dachte, dass ein oder zwei Farbakzente nicht schaden würden, um die Eintönigkeit aufzulockern. Zumindest hätte sie eine blassblaue Blüte der weißen vorgezogen. Doch diese Nichtigkeit verhinderte nicht, wie sehr sie von dem Erscheinungsbild der Clubbesitzerin beeindruckt war. Es erinnerte sie an die Königin eines Reiches, das nur aus Eis und Schnee bestand. Das Gesicht fand Cynthia außergewöhnlich schön, die gesamte Gestalt perfekt und noch mehr. Diese Jade musste der Abkömmling einer klassischen Hollywoodschönheit und einer außerirdischen Rasse sein, deren Aussehen das der Menschen in ästhetischer Hinsicht knapp, aber erkennbar übertraf – oder eine Replikantin.

Cynthia war fasziniert und fühlte sich – zu ihrer Überraschung – auf Anhieb zu der Eisprinzessin aus einer extraterrestrischen Traumfabrik hingezogen. Doch der Gedanke, Jade könne eine Replikantin sein, schreckte sie gleichzeitig ab, obwohl sie nichts gegen Replikanten hatte und ihnen die Gleichstellung gönnte. Trotzdem konnte sie nicht anders, als Bewunderung zu empfinden.

 

Kapitel 8 - Vergangenheit, Donnerstag, 4. Mai 2073, 19:59 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Dunkelheit

 

Ihr Blick fiel auf die grün leuchtenden Ziffernanzeigen an der tristen Wand. In wenigen Sekunden würde das Raumlicht ausgeschaltet werden. Dann bliebe, einem schwachen Hoffnungsschimmer gleich, nur die diffuse Notbeleuchtung übrig, die allein verhinderte, dass sie die Nacht in absoluter Finsternis verbringen mussten.

Was, wenn die Restbeleuchtung ausfallen würde? Das Licht der akkubetriebenen Uhr war in der Dunkelheit zwar gut erkennbar, doch der Schein reichte kaum zwei Meter weit. Zu wenig, um in dem großen Gemeinschaftsschlafraum die Angst und Panik zu vertreiben, die in ihrer unterirdischen Heimat in praktisch völliger Schwärze aufkommen würden. Auch so war ein Gefühl der Beklemmung bereits permanent vorhanden.

Jade drehte sich auf die Seite und begegnete dem traurigen Blick aus Rebeccas Augen. Das andere, wie sie selbst dunkelhaarige Mädchen litt oft unter Albträumen und unruhigem Schlaf. Manchmal kroch sie zu Rebecca ins Bett, um bei ihr zu sein und sie zu trösten, obwohl die Schlafstatt selbst für ihre beiden schlanken Körper fast zu schmal war. Einmal war sie im Schlaf auf den Boden gefallen und hatte schmerzhafte Prellungen davongetragen, weshalb man ihnen den nächtlichen Aufenthalt zu zweit in einem Bett verboten hatte.

Ursprünglich sollen sie zehn gewesen sein, aber daran hatte sie keine Erinnerungen mehr. Jetzt waren sie nur noch fünf. Sie, Rebecca, mit der sie sich am besten verstand, zwei weitere Mädchen und ein Junge.

Klack – das Licht erlosch, und sie sah Rebecca nur noch schemenhaft. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen angepasst hatten und sie die Furcht erkannte, die in Rebeccas Gesicht zurückgekehrt war: Furcht vor der Dunkelheit, Furcht vor dem nächsten Tag – und Furcht vor Doktor Morrison, der sie manchmal so eigenartig ansah.

Rebecca hatte ihre Ängste niemals beim Namen genannt, aber Jade spürte auch so, was ihre Freundin empfand und in ihr vorging. Sie gaben sich gegenseitig Halt, aber Jade war die etwas stärkere; diejenige, die Trost spendete, obwohl sie selbst jemanden gebraucht hätte, der ihr Kraft und Zuversicht gab. »Ich bin bei dir ...«, flüsterte sie und lächelte beruhigend.

Irgendwann fiel ihr auf, dass Rebecca die Augen geschlossen hatte und ruhig und entspannt atmete. Das Bild wirkte friedlich, aber vermutlich würde es auch in dieser Nacht ein anfänglicher Trugschluss sein.

Jade spürte, dass die Müdigkeit zu stark wurde, um weiterhin über ihre Freundin zu wachen. So kühl und nüchtern der unterirdische Komplex, der ihre Heimat darstellte, auch war: Unter dem Oberbett war es warm, denn man hatte ihnen zusätzlich zwei Wolldecken gegeben: Eine, auf der sie lagen, und eine, unter der sie sich einkuscheln konnten. Seitdem konnten sie alle viel besser ein- und durchschlafen – und träumen!

Oft waren es Albträume, aber manchmal träumte sie von dem Teil der realen Welt, der ihr so gut gefiel, da er fernab der menschlichen Städte lag. Hoffentlich würde sie auch in dieser Nacht in ihre schöne Traumwelt gelangen, denn die Reisen, auf die ihr Unterbewusstsein sie mitnahm, gaben ihr, wenn sie Glück hatte, für wenige Stunden Frieden und Hoffnung ...

 

Kapitel 9 - Mittwoch, 21. November 2096, 21:45 Uhr: Die Herrin der Underworld

 

Die Clubherrin blickte mit dezent betonten Augen auf und sah die Neuankömmlinge an. Ihr Blick wirkte auf Cynthia nicht unfreundlich, aber ernst und misstrauisch. Sie schien zu spüren, dass etwas geschehen war.

»Hallo, Sandra. Du kommst spät. Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und betrachtete ihre Freundin forschend.

»Es geht mir gut Jade, mach dir keine Sorgen!«

Cynthia hatte den Eindruck, dass Sandra gegen Tränen ankämpfte. Dies fiel natürlich auch Jade auf. Sie machte ihre Augen etwas schmaler, und eine feine Sorgenfalte entstand über ihrer Nase. Sie musterte Sandra aufmerksam von oben bis unten, um sich zu überzeugen, dass sie unversehrt war. Dabei fielen ihr leichte Verschmutzungen am Regenmantel auf sowie unscheinbare Abschürfungen am Kinn, die vom Kontakt mit der Motorhaube der Corvette zeugten. Sie legte eine Hand auf Sandras Schulter, übte sanften Druck aus und ging mit ihr Richtung Ende des Raumes, so dass sie sich schließlich einige Meter von den Tänzerinnen entfernt außer Hörweite befanden. »Sandra, was ist passiert?«, fragte sie mit leiser, angespannter Stimme.

»Diese beiden Agentinnen haben mir das Leben gerettet. Ohne sie wäre ich jetzt nicht hier.« Tränen schimmerten in den Augen der jüngeren Frau, und Jades Gesicht nahm einen mitfühlenden Ausdruck an.

»Drei Männer haben mich verfolgt und wollten mich töten. Es war furchtbar.« Die Emotionen überwältigten Sandra endgültig, und sie begann, zu weinen. Jade umarmte sie tröstend und strich ihr liebevoll über den Hinterkopf. Ihr war sofort anzusehen, dass sie mit Sandra litt.

»Sie haben mich als Replikantenschlampe beschimpft ...« Sandras Stimme war mehr Schluchzen als verständliche Sprache. Das Erlebte schien sie in diesen Momenten mehr zu belasten als unmittelbar danach.

»Ist ja gut, tapfere Sandra«, sagte Jade beruhigend und drückte ihre Freundin ganz eng an sich. »Schon gut, ich bin ja bei dir. Hier kann dir nichts mehr geschehen.«

Während sie Sandra weiterhin umarmte und streichelte, blickte sie Kara und Cynthia dankbar an. Als sich die Tänzerin unter Jades verständnisvollem, fürsorglichem Einfluss nach einer Weile wieder beruhigte, sagte die Clubbesitzerin mit sanfter Stimme: »Komm, Sandra, zieh erstmal die nassen Sachen aus und leg dich ein wenig hin und ruhe dich aus. Ich mach dir einen heißen Tee. Du wirst sehen, danach geht es dir wieder besser. Und dann reden wir über alles. Du kannst die nächste Zeit bei mir wohnen, wenn du möchtest, und dann sehen wir weiter, okay?«

Sandra nickte, und Jade fasste sie sanft am Arm und ging mit ihr langsam Richtung Tür. Sie bat Cynthia und Kara, zu warten, bis sie zurück sei. Da beide pitschnasse Haare hatten, bot sie die Benutzung der in der Garderobe vorhandenen Haartrockner an. Ein Gerät nahm sie mit, um Sandras Haare zu fönen. Cynthia gefiel, dass Jade sich selbst kümmerte und nicht eines der Mädchen beauftragte.

Nach 15 Minuten kam Jade zurück. Karas Kopf war immer noch pitschnass, aber Cynthia hatte ihre Haare getrocknet.

Die Clubbesitzerin machte auf Cynthia einen angespannten Eindruck. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und ihre Augen blickten ernst. Offensichtlich war sie besorgt. Cynthia vermutete, dass ihr sehr naheging, was Sandra widerfahren war.

Dennoch wirkte das Lächeln freundlich und echt, als sie sich bei den Agentinnen bedankte: »Bitte entschuldigen Sie die Wartezeit, aber Sandra ging es sehr schlecht. Ich hielt es für besser, zuerst etwas bei ihr zu bleiben und mich um sie zu kümmern. Sandra hat mir alles erzählt. Sie haben ihr das Leben gerettet. Ich soll Ihnen ein herzliches Danke ausrichten. Auch ich danke Ihnen dafür. Sandra ist meine beste Freundin. Wir hängen sehr aneinander.« Ihre Stimme hörte sich warmherzig an, und Cynthia glaubte ihr jedes Wort.

Die Agentin lächelte und wollte zu einer Antwort ansetzen, aber Kara kam ihr zuvor: »Ihre beste Freundin hatte Glück. Wir waren zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort und haben nur unseren Job gemacht.«

Es klang distanziert und gefühllos, und Cynthia ärgerte sich darüber sehr.

Jade hingegen ließ sich nichts anmerken: »Trotzdem haben Sie sie gerettet und dabei Ihr eigenes Leben riskiert. Sandra und ich werden das niemals vergessen. Ich bin Jade, Jade Jones«. Sie reichte zunächst Kara ihre Hand, die die blonde Agentin demonstrativ zögernd und widerwillig ergriff, und anschließend Cynthia, der Jade während des Händedrucks intensiv in die Augen sah. Cynthia wusste nicht, warum. Vielleicht versuchte Jade, sie zu erforschen und einzuschätzen. Bei Karas distanzierter und kalter Art war dies wesentlich einfacher.

Die Berührung und das visuelle Abtasten machten Cynthia nervös. Ihr Herz schlug etwas schneller, und sie konnte ihren Blick nicht von Jades schönen Augen lösen. Ein Schauer lief über ihren Rücken, doch es war kein Schauer des Unbehagens, sondern ein Kribbeln der Erregung. Es überraschte sie, kam völlig unerwartet.

»Cynthia Hansen, FBI, Replicant-Unit. Das ist meine Kollegin, Kara Kowaszczyk.«

»Sehr erfreut«, erwiderte Jade höflich. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Dürfen Sie nicht – wir sind im Dienst. Aber wir haben noch ein paar Fragen«, sagte Kara mit absichtlich kühler, unfreundlicher Stimme.

Jade hatte eigentlich an einen Tee zum Aufwärmen gedacht, nicht an Alkoholisches, ging aber nicht mehr darauf ein: »Ja, natürlich. Dann schlage ich vor, dass wir in mein Büro gehen. Bitte folgen Sie mir.«

Jade führte sie ein kurzes Stück durch den nächsten Flur und eine Treppe hinauf in die obere Etage. Cynthia beobachtete die Frau in dem silbernen Kleid und nahm zur Kenntnis, dass ihr Gang von einer katzenhaften Eleganz und Geschmeidigkeit war. Während sie sie von hinten betrachtete, fragte sie sich erneut, ob sie es mit einer Replikantin zu tun hatte. Auch die rückwärtige Ansicht der Clubbesitzerin bot vom Kopf bis zu den Füßen einen sehr ästhetischen Anblick. Eine Replikantin als Clubbesitzerin? Wie sollte eine Replikantin zu einem Club gekommen sein? Völlig unmöglich!

Jade öffnete eine Tür und sie betraten ein geräumiges Büro. Im Gegensatz zum glas- und metalldominierten Äußeren des Gebäudes war es wohnlich eingerichtet; vielleicht, dachte Cynthia, um eine Oase der Ruhe, des Rückzugs und der Entspannung zu bieten. Das schloss sie aus der gemütlichen Sitzecke, die aus einem Sofa, zwei Sesseln und einem Tisch gebildet wurde.

Die Wanddekoration der linken Raumseite fand sie außergewöhnlich, denn sie bestand unter anderem aus Postern mit Szenen des Films Replikantenliebe, in dem sich eine Replikantin in einen Mann verliebte, aber getötet wurde. Der Mann rächte seine Geliebte, indem er ihre Mörder umbrachte. Da es sowohl in der Handlung des Films als auch bei seiner Veröffentlichung noch keine Gleichstellung gab und Replikanten rechtlose Wesen waren, galt die Tötung der Replikantin nicht als Mord. Ihr Rächer jedoch wurde am Ende wegen Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt.

Cynthia hatte den kontrovers diskutierten, gesellschaftskritischen Film gesehen und sehr viel Sympathie für die Replikantin und ihren Geliebten empfunden. Offensichtlich erging es Jade nicht anders. Cynthia fand nicht nur die Figuren aus dem Film, sondern auch Jade auf Anhieb sehr sympathisch. Verstohlen beobachtete sie die Clubbesitzerin, und ihre Blicke trafen sich. Ob Jade auf Frauen stand? Ein länglicher Kunstdruck an der rechten Wand zeigte zwei Grazien, die an einer Bar saßen und sich ansahen. Eine war schwarzhaarig, die andere blond. Im nachtschwarzen Hintergrund, durch ein Panoramafenster, waren die Lichter einer Großstadt zu sehen. Das Bild war so gelungen, dass Cynthia glaubte, die Zuneigung, die sie füreinander empfanden, spüren zu können.

Jade bot den Agentinnen Platz auf dem Sofa an. Anschließend ging sie zur Bar und fragte, ob sie nicht doch etwas trinken wollten. Cynthia entschied sich für ein Glas Wasser, Kara lehnte unfreundlich ab. Jade schenkte für Cynthia und sich selbst ein, kam mit zwei Gläsern Mineralwasser zurück und setzte sich den Agentinnen gegenüber an den Tisch. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ist Sandra eine Replikantin?«, fragte Kara direkt. Ihre Stimme ließ deutlich Abneigung erkennen.

Die Clubherrin reagierte souverän: »Wenn sie es wäre, dann ginge es Sie wohl kaum etwas an. Vielleicht haben Sie schonmal was von der Gleichstellung gehört, Agent Kowaszczyk?«

Kara dachte nicht daran, aufzuhören. »Ich glaube, sie ist eine Replikantin, und wenn sie Ihre Freundin ist, wie Sie sagten, dann werden Sie es vermutlich wissen.«

Jades Augen verengten sich, als wollte sie sich vor der Gefühlskälte der Agentin schützen, ehe sie antwortete: »Ich weiß, dass sie ein wunderbares, feinfühliges Mädchen ist – im Gegensatz zu manch anderen ...« Cynthia empfand die Situation als sehr unangenehm, aber über Jades verbale Spitze musste sie innerlich lächeln.

Es entwickelte sich ein Blickduell zwischen Kara und Jade. Cynthia suchte nach einer Gelegenheit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, aber ihre Kollegin war schneller: »Sind Sie eine Replikantin?«

Jade hatte längst begriffen, wie replikantenfeindlich Kara war. Sie gab ihre Antwort mit einem bittersüßen Lächeln, bei dem ihre Augen vollkommen ernst blieben. »Falls ja, würde ich kaum daran denken, es ausgerechnet Ihnen zu verraten.«

»Davon bin ich überzeugt«, antwortete Kara. In ihrer Stimme klang Abscheu, und sie fixierte die Clubbesitzerin mit eisigem Blick.

»Sind das die Fragen, die Sie stellen wollten?« Jade richtete ihre Augen nun auf Cynthia. Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich, obwohl sie bemerkte, dass die Besucherin sie forschend ansah, als überlegte die Agentin, ob sie es mit einer Außerirdischen zu tun hatte. Jade war klar, dass auch Cynthia sie für eine Replikantin hielt, oder dies zumindest in Betracht zog. Aber sie erkannte keine Ablehnung im Blick der dunkelhaarigen Agentin und nahm ihr die unbeabsichtigt aufdringliche Begutachtung nicht übel.

Cynthia spürte, dass Jade ihre Gedanken erriet. Schnell senkte sie den Blick. Dann wurde ihr bewusst, dass er auf Jades Busen ruhte, deren Rundungen und Ästhetik durch das enge Kleid noch betont wurden. Sie sah wieder in Jades Gesicht, vermied längeren Blickkontakt und beeilte sich, endlich auf die Frage zu antworten: »Nein, eigentlich nicht. Wir benötigen nur Sandras Personalien. Wir haben sie nicht selbst gefragt, weil sie noch ziemlich mitgenommen war.«

»Das war sehr rücksichtsvoll, Agent Hansen. Was genau möchten Sie denn wissen?« Jades Stimme hörte sich nun wesentlich entspannter an als zuvor im Gespräch mit Kara. Die Anspannung wich endgültig aus ihren Gesichtszügen, und sie blickte offen und neugierig in Cynthias Augen.

Die Agentin stellte fest, dass Jades Regenbogenhaut von smaragdfarbenem Grün war. Es fiel ihr schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, und sie musste sich anstrengen, um die Frage beantworten zu können und sich nicht in Jades Augen zu verlieren. Zu allem Überfluss sah sie, dass Jade nun lächelte, zaghaft nur, aber deutlich erkennbar.

Wie war die Frage noch?, dachte Cynthia verwirrt. Ach ja, was wir noch wissen möchten. »Alles ...«, sagte sie fast wie in Trance. Sie bemerkte selbst, wie peinlich sie sich verhielt, und sah in der Peripherie ihres Blickfeldes, dass sich Kara genervt über die Stirn rieb, die Augen schloss und verständnislos den Kopf schüttelte.

Schnell, und um Selbstsicherheit bemüht, ergänzte sie ihre Antwort: »Naja, den vollständigen Namen, das Geburtsdatum, die Anschrift ..., für unseren Bericht, und weil Sandra noch zu dem Vorfall Stellung nehmen muss, als Zeugin.« Sie wurde aber sofort wieder unsicher, denn Jade sah ihr immer noch direkt in die Augen.

Lag es an der beginnenden Müdigkeit, dass Cynthia angesichts der schönen Clubbesitzerin nicht sehr souverän war, sondern das Gefühl hatte, von dieser unerwarteten Begegnung völlig überrumpelt zu werden? Es war ein langer Tag gewesen, und ihre Konzentration hatte bereits spürbar nachgelassen.

Cynthias Wangen fühlten sich an, als würden sie, wenn auch nur leicht, erröten. Die Agentin hoffte, sich zu irren, aber wie zur Bestätigung glaubte sie, in Jades Augen ein leichtes Funkeln zu erkennen, und sah das feine Lächeln für einen kurzen Moment intensiver werden. Doch sie erkannte weder Belustigung noch Spott im Gesicht ihres schönen Gegenübers. Sie glaubte eher, dass es Freude war, die Jade wegen des offensichtlichen Interesses empfand.

»Können wir die Daten jetzt haben, oder was?«, maulte Kara, da es ihr zu lange dauerte.

Jade ignorierte die blonde Agentin und sah weiterhin Cynthia an. »Natürlich, hier ist Sandras Ausweis.«

Woher Jade plötzlich den Ausweis nahm, konnte Cynthia nicht sagen. Offensichtlich hatte Jade erwartet, dass es um Sandras Personalien ging, und sich ihn von ihrer Freundin geben lassen. Zwischen Zeige- und Mittelfinger hielt sie die bankkartengroße Plastikkarte in Cynthias Richtung, doch die Agentin machte keine Anstalten, die Karte an sich zu nehmen, denn noch immer sahen sie sich gegenseitig an. Es war kein Blickduell, wie zuvor zwischen Jade und Kara, sondern vollkommen anders, und beruhte auf Interesse, Sympathie, Faszination und mehr.

»Geben Sie schon her ...« Kara schnappte sich den Ausweis mit einer aggressiven Bewegung, in dem Moment, als Cynthia die Hand nach ihm ausstrecken wollte. »Sandra Camponee, 26 Jahre alt ...«, las sie halblaut vor. Kara scannte den Ausweis mit ihrem Diensthandy und erhielt weitere Daten aus einem zentralen Personendatenpool beim National Information Center, auf den das FBI, die Polizei und weitere Behörden Zugriff hatten.

»Bislang weder straffällig noch Opfer einer Straftat geworden. Eltern: John und Theresa Camponee, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ...«, fasste sie die Informationen mit einem vielsagenden Unterton zusammen.

»Das bedeutet gar nichts«, meinte Jade und gab sich Mühe, ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu verleihen. Vielleicht etwas zu gleichgültig ..., dachte Cynthia.

Kara hatte offensichtlich denselben Gedanken: »Ach nein? Wir wissen doch alle, dass die angeblichen Eltern von Replikanten für gewöhnlich bei einem Unfall getötet wurden oder aus anderen Gründen schon verstorben sind. Leben Ihre Eltern eigentlich noch, oder hatten Sie niemals welche, wie Ihre Freundin Sandra?«

Cynthia fand Karas Verhalten unmöglich und griff ein: »Kara ...!« Gleichzeitig bemerkte sie, dass die Frage nach den Eltern Jade sehr ernst werden ließ. Die Clubbesitzerin blickte nach unten und schluckte. Sogar ihre Atmung schien kurz aus dem Rhythmus zu kommen.

»Was denn ...?«, fragte die blonde Agentin und tat unschuldig, als könne sie gar nicht verstehen, was Cynthia meinte.

Jade schien ihre Contenance nach einigen Sekunden zurückgewonnen zu haben, denn sie hob ihren Kopf an und sah Kara direkt in die Augen. Cynthia fand es nicht überraschend, dass Jade es für angebracht hielt, Kara die Grenzen aufzuzeigen: »Sie wissen selbst, dass Sie sich widerrechtlich verhalten, Agent Kowaszczyk. Die Replikantenfrage ist absolut tabu und darf nicht gestellt werden. Sandra hat mir erzählt, was passiert ist. Wenn Sie sie nicht gerettet und dabei Ihr eigenes Leben riskiert hätten, dann würde ich Ihren Vorgesetzten darüber in Kenntnis setzen, dass Sie eine verdammte Rassistin sind und mit Ihren unangebrachten Fragen Ihre Kompetenzen überschreiten!« In der Stimme klangen unüberhörbar Anzeichen von Verärgerung mit.

Erwartungsgemäß gab Kara nicht klein bei. »Rassistin? Es wäre mir neu, dass Replikanten irgendeiner Rasse angehören ...«, konterte sie süffisant.

Jade blickte die Agentin für die Dauer mehrerer Sekunden an, ehe sie erwiderte. »Sicher bedauern Sie täglich, nicht 10 Jahre früher geboren worden zu sein. Dann hätten Sie in der damaligen RAC-Division der Polizei arbeiten und jeden Tag Replikanten jagen und töten können, statt sie zu schützen, wie es jetzt leider Ihre Aufgabe ist ...« Cynthia hörte aus dem Klang der Stimme Enttäuschung und Resignation heraus.

»Wenn Sie es sagen ...«, meinte Kara und lächelte, da sie sich als Siegerin des Wortduells sah.

Dank Karas Verhalten fühlte sich Cynthia nun endgültig unwohl, denn die Fragen und Bemerkungen ihrer Kollegin waren unangebracht und verletzend. Sie entsprangen ausschließlich einer ausgeprägten Abneigung gegen Replikanten. Nicht zum ersten Mal war Cynthia der Meinung, dass Kara niemals der Replicant Unit hätte zugeteilt werden dürfen.

Cynthia fand den Zeitpunkt gekommen, zu gehen, obwohl sie es bedauerte, da sie Jade mochte und gern noch einige Zeit in ihrer belebend wirkenden Gegenwart verbracht hätte, selbst wenn sie eine Replikantin war.

Außerdem gefiel ihr nicht, die Clubbesitzerin nach diesem Gespräch sich selbst zu überlassen, schien sie doch nicht nur verärgert, sondern auch betroffen zu sein. Cynthia erkannte es an Jades Augen, die nicht mehr freundlich und offen blickten, sondern schmaler waren und eine feine Sorgenfalte über der Nase sichtbar machten. Die Clubbesitzerin wirkte traurig. Auch ihre Haltung war nicht mehr geradlinig aufrecht wie in der ersten Phase des Gesprächs, sondern leicht zusammengesunken. Irgendetwas schien sie zu belasten.

Aber zu bleiben hätte die Situation wegen Karas Streitbarkeit noch verschlimmert. Deshalb stand Cynthia auf und sagte mit verständnisvoller Stimme, begleitet von einem um Verzeihung bittenden Blick: »Wir sind dann hier auch fertig. Danke, dass Sie uns geholfen haben.«

Auch Jade stand auf. »Sie sind es, die geholfen hat. Wir stehen tief in Ihrer Schuld, Sandra und ich. Sie sind hier jederzeit willkommen, Agent Hansen.«

Cynthia nickte und versuchte, aufmunternd zu lächeln, aber es geriet mehr zu einem angespannten Verziehen des Mundes. Doch Jades Augen öffneten sich wieder zur Normalweite, die Sorgenfalte verschwand und wich wenigen, ganz feinen Lachfältchen, als sie ihrerseits mit einem zaghaften Lächeln zu erkennen gab, dass sie Cynthias Absicht verstanden hatte.

Die Agentin ergriff die ihr gereichte schlanke Hand und spürte, wie bei der Begrüßung, einen Schauer auf der Haut ihres Rückens.

»Auf Wiedersehen«, sagte Jade, Kara weiterhin ignorierend.

»Auf Wiedersehen. Und grüßen Sie Sandra von mir.« Nach einem letzten Blick ließ Cynthia Jades Hand los, drehte sich um, verließ den Raum und ging schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Es glich einer Flucht, um sich dem Einfluss der charismatischen Clubbesitzerin zu entziehen. Cynthia ärgerte sich über die Rötung der Wangen, mochte sie auch nur minimal gewesen sein, sowie über ihre Verlegenheit und zeitweilige Unsicherheit. All das war ihr peinlich, schließlich war sie eine erwachsene und nach ihrer Selbsteinschätzung ziemlich taffe Frau. Zwar wusste sie, dass sie in der Vergangenheit zu starken Gefühlen fähig gewesen war, doch diese Zeit lag Jahre zurück. Aber Jade Jones schien derartige Gefühle bereits bei der ersten Begegnung geweckt zu haben.

Cynthia ging so schnell, dass Kara Probleme hatte, schrittzuhalten. So sollte es auch sein, denn sie ärgerte sich über das verletzende und unangemessene Verhalten ihrer Kollegin sehr.

Die Mitarbeiter im Kontrollraum sahen verwundert zu, als Cynthia regelrecht vorbeistürmte. »Auf Wiedersehen ...«, sagte einer der beiden verdutzt. Cynthia ging auf den Gruß nicht ein. Sie hörte aber, wie Kara hinter ihr völlig unangebracht mit »Fick dich selber ...!« reagierte, und erkannte daran, dass auch Kara verärgert war.

Sie gingen schnellen Schrittes durch die Disco. Draußen blieb Cynthia abrupt stehen und drehte sich um. Beinahe wäre sie von der mittlerweile dicht folgenden Kara umgelaufen worden.

»Was war das denn für ein Auftritt? Bist du eigentlich total bescheuert? Was hast du überhaupt gegen sie?« Cynthia hatte das Gefühl, Jade verteidigen zu müssen, denn Kara war unfair und verletzend gewesen. Und natürlich wusste sie genau, was Kara gegen die Clubbesitzerin hatte: Den Verdacht, dass sie eine Replikantin war, die es nach ihrem Weltbild gar nicht geben durfte.

Kara setzte zu einer Cynthias Tonfall und Lautstärke entsprechenden Antwort an, besann sich jedoch, atmete seufzend aus und sagte mit normaler Stimme: »Sie hat mich genervt ...«

»Genervt?«

»Ja, genervt!«

»Aha! Und warum hat sie dich genervt?«

Kara zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ist sie mir einfach zu perfekt. Bestimmt ist sie eine Replikantin, obwohl ich nicht weiß, wie eine Replikantin zu einem Club gekommen sein könnte. Vielleicht hat mich auch gestört, wie sie von Anfang an mit dir rumgemacht hat.«

»Was heißt denn hier rumgemacht? Und selbst wenn sie mit mir geflirtet hat: Erstens kann es dir egal sein, und zweitens hast du dein Bestes gegeben, das zu sabotieren.«

Die blonde Agentin schüttelte fassungslos den Kopf und lächelte humorlos. »Weißt du, was ich glaube? Es hat dich erwischt! Du bist in sie verknallt!«

»Was? So ein Quatsch! Das ist doch absoluter Schwachsinn!«

»Klar, das sagen sie am Anfang alle ... Tatsache ist, du bist in eine Replikantin verknallt! Ich hab gar nicht gewusst, dass du lesbisch bist, noch dazu replikantenlesbisch ...« Vergeblich wartete Kara auf eine Bestätigung.

Cynthia wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte, und sagte ausweichend: »Replikantenlesbisch ... Du spinnst doch, das Wort gibt es ja gar nicht! Was ist denn jetzt, sollen wir uns hier noch lange nassregnen lassen, oder gehen wir endlich zu deiner bescheuerten Angeberkarre?«

 

.....

 

»Das also war die berühmte Jade Jones«, sinnierte Kara, als sie auf dem Weg zur Dienststelle bereits seit einigen Minuten unterwegs waren.

»Du kanntest sie schon vorher?«

Kara nickte. »Ihren Namen. Hast du noch nie von ihr gehört?«

»Nein, sollte ich?«

»Eigentlich schon ... Sie ist in der Clubszene eine Berühmtheit, eine Art Star, obwohl sie sich sehr rar macht.«

Cynthia wollte mehr über die Clubbesitzerin wissen. »Wie meinst du das?«

Kara lächelte, als sie das Interesse bemerkte. »Sie gilt als relativ scheu und zurückhaltend.«

»Dann hat sie als Clubbesitzerin wohl den falschen Job«, stellte Cynthia fest.

»Ja, aber sie meidet die Öffentlichkeit trotzdem so gut es geht, was für sie als Herrin der Underworld natürlich schwierig ist. Ihren Gästen kann sie nunmal nicht ausweichen. In ihrem Club trifft sich alles, was in der Stadt Rang und Namen hat, aus Politik, Kultur, Industrie und Unterwelt. Bei ihr laufen Gerüchte und Informationen jeglicher Art zusammen. Es heißt, niemand sei in der Stadt so gut informiert wie sie. Ihre Gäste vertrauen ihr und erzählen ihr manchmal Dinge, die sie sonst niemandem anvertrauen. Man sagt, dass diese völlig irrationale Vertrauensseligkeit an ihrer magischen Aura liegt, aber wahrscheinlich sind die einfach nur betrunken und fangen an, zu reden ...«, spottete Kara.

Cynthia fand das mit der magischen Aura keineswegs abwegig. Nicht, dass sie an Magie glaubte, aber Jade hatte tatsächlich eine besondere, sehr vereinnehmende Ausstrahlung.

»Jedenfalls ist sie bei ihren Gästen sehr beliebt. Jeder will einen Blick auf sie erhaschen und ein paar Worte mit ihr wechseln«, erklärte Kara wie zur Bestätigung.

»Kein Wunder, sie ist ja auch eine tolle Erscheinung.«

»Durchaus. Manche halten sie für die schönste Frau der gesamten Ostküste. Ich persönlich finde das etwas übertrieben, aber ich glaube trotzdem, sie ist eine Replikantin. Und du?«

Cynthia zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, schon möglich ...«

»Was ist sonst noch über sie bekannt?«, fragte Cynthia nach einer Weile.

Kara lächelte. Ich hab mich also nicht getäuscht ... »Sie interessiert dich wirklich, oder? Na, mal überlegen. Sie gilt als schön und intelligent, und man sagt ihr nach, einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit zu haben. Es hieß auch schonmal, sie sei so eine Art Gleichgewicht der Kräfte.«

Cynthia runzelte die Stirn. »Wie soll ich das denn verstehen?«

»Da bei ihr alle möglichen Leute zusammenkommen und sich mit ihr unterhalten, sagt man ihr gute und zahlreiche Beziehungen nach, die sie gelegentlich nutzen würde, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Aber das kann auch übertrieben sein.«

Cynthia sah dies ebenso. Sie glaubte nicht, dass sich Jade in fremde Angelegenheiten einmischte oder so einflussreich war. »Sicher handelt es sich hier nur um Spekulationen ...«

»Ja, schon möglich. Nur weil Richter und Staatsanwälte zu ihren Gästen gehören, heißt es noch lange nicht, dass sie dort irgendwelchen Einfluss geltend macht oder machen kann. Ansonsten ist über sie wenig bekannt.«

»Wenig bekannt? Das war auch so schon eine ganze Menge ... Dass sie schön ist, haben wir vorhin ja selbst gesehen. Und das mit dem Gerechtigkeitssinn glaube ich sofort«, meinte Cynthia. »Aber das mit dem Gleichgewicht der Kräfte dürfte reichlich übertrieben sein ...«

»Ihr habt ja ganz schön geflirtet. Ich hatte den Eindruck, dass es zwischen euch richtig geknistert hat. Tut mir leid, dass mich das genervt hat.«

»Schon gut.«

»Gefällt sie dir?«

Cynthia schloss die Augen und stellte sich Jades Gesicht vor. Dass ihr die Erinnerung gefiel, verwirrte sie ein wenig, aus ganz bestimmten Gründen.

»Bodenstation an Cynthia, hörst du mich?« Die dunkelhaarige Agentin öffnete widerwillig die Augen. »Ich habe gefragt, ob ...«

»Ja, schon gut, ich hab deine Frage ja gehört«, sagte Cynthia genervt.

»Und?«

»Okay, ich weiß es nicht, ja?«

Trotz der Unfreundlichkeit in Cynthias Stimme ließ Kara nicht locker: »Du musst doch wissen, ob sie dir gefällt!«

»Okay, sie gefällt mir. Ich finde sie schön und faszinierend. Na und? Das hat nichts zu bedeuten! Dich finde ich ja auch schön und irgendwie faszinierend, jedenfalls auf deine eigene, schräge Art ...«

Kara lächelte verschlagen. Während sie ihre rechte Hand langsam auf Cynthias Oberschenkel legte und den Weg zum Knie ihrer Kollegin suchte, wiederholte sie: »Irgendwie ...? Auf meine eigene, schräge Art ...? Naja, egal! Ist wohl deine Art, eine Liebeserklärung zu machen ... Warum hast du mir nicht schon eher gesagt, dass du auf mich stehst, Darling?«

Cynthia streifte Karas Hand ab. »Lass das, du Spinnerin!« Kara grinste und konzentrierte sich wieder ausschließlich aufs Fahren.

Nach einer Weile des Schweigens sagte Cynthia: »Du machst es einem nicht leicht, Kara, aber ich bin wirklich froh, dass du heute abend so schnell reagiert hast und dieser Typ dich nicht getroffen hat.« Diesmal war sie es, die ihre Hand auf Karas Oberschenkel legte.

Kara lächelte: »Und ich bin froh, dass du auch nichts abbekommen hast.« Sie streifte Cynthias Hand nicht ab, sondern legte die ihre auf sie. Manchmal überlegte sie, ob Cynthia nicht mehr sein könnte als nur eine Kollegin, zumal seit diesem Abend festzustehen schien, dass sich Cynthia für Frauen interessierte. Aber sie wusste, dass sie bei ihr keine Chance hatte. Dazu hätte sie sich ändern müssen, und das wollte und konnte sie nicht. Nein, ein auch nur ansatzweise braves Mädchen, zumindest auf Cynthias Niveau, würde sie gewiss niemals sein, denn während Cynthia bemüht war, Regeln zu beachten, lag es in ihrer Natur, Regeln, die ihr nicht gefielen, nach Möglichkeit zu umgehen ...

 

Kapitel 10 - Donnerstag, 22. November 2096: Ein kurzes Wiedersehen

 

Cynthia schrieb den mit Kara abgestimmten Bericht über die Ereignisse des vergangenen Abends, und Kara bereitete Sandras schriftliche Zeugenaussage vor. Als die blonde Agentin mit dem Ergebnis zufrieden war, rief sie in der Underworld an und bat Jade, Sandra zu informieren. Die Tänzerin und die Clubbesitzerin trafen kurz vor Feierabend ein. Die Begrüßung fiel zweigeteilt aus; distanziert gegenüber Kara, die am Vorabend an ihrer Feindseligkeit gegenüber den beiden mutmaßlichen Replikantinnen keinen Zweifel gelassen hatte, und sehr freundlich gegenüber Cynthia, die Verständnis, Rücksicht und Empathie bewiesen hatte.

Sandra las die von Kara vorgefertigte Zeugenaussage durch, die bestätigte, dass die Agentin jeden der drei Angreifer in Notwehr erschießen musste. Nach kurzem Zögern und einem eindeutigen, vorwurfsvollen Blick zu Kara unterschrieb Sandra. Immerhin verdankte sie der Agentin ihr Leben, und eine Unterschrift war vermutlich das Mindeste, was sie ihr dafür schuldete. Doch sie unterschrieb mit schlechtem Gewissen.

Immer wieder sahen sich Jade und Cynthia an. Cynthia tat es leid, dass der Besuch nur wenige Minuten dauerte. Sie hatte den Eindruck, dass Jade ihr Bedauern teilte, denn bei der Verabschiedung konnten sie ihre Blicke kaum voneinander lösen.

Als sie wieder allein waren, meinte Kara: »Du stehst auf sie, oder?«

Cynthia hatte keine Lust, mit Kara über ihr Interesse an Jade zu reden. Sie lächelte kurz und unverbindlich, schaltete den Rechner aus, stand auf und zog ihre Jacke an. »Ich mach jetzt Feierabend. Bis morgen, Kara ...« Damit ging sie und ließ Kara, die ihr wissend lächelnd nachblickte, allein.

Auf dem Rückweg zur Underworld in Jades zweisitzigem Cityflitzer begann Sandra ein ähnliches Gespräch: »Du magst sie, oder?«

Jade wich dem Thema im Gegensatz zu Cynthia nicht aus. Sie lächelte Sandra an, als sie sagte: »Ja, sehr sogar.«

»Ich glaube, sie mag dich auch.«

Jade wusste, dass Sandra recht hatte. Sie dachte mit Freude an die Begegnungen mit Cynthia zurück; an die interessierten Blicke aus diesen wach und zugleich empathisch wirkenden Augen und an die leichte, doch erkennbare Verlegenheit.

»Wir haben uns gestern schon so angesehen. Aber da war auch etwas Abschätzendes in ihrem Blick, etwas Erforschendes. Ihr war anzusehen, dass sie überlegt hat, wer oder was ich bin ...«

»Ich verstehe. Wirst du sie wiedersehen?«

Jade wünschte es sich sehr, aber sie glaubte, dass nicht sie es in der Hand hatte. Sie hatte der Agentin klare Signale gesendet; deutlich gemacht, dass sie die Zuneigung erwiderte. »Ich weiß nicht. Es wäre sehr schön. Aber ich habe Zweifel in ihrem Blick erkannt, deshalb werde ich es ihr überlassen. Sie weiß ja, wo sie mich finden kann.«

»Ich glaube, sie hat ein gutes Herz. Sie ist ganz anders als diese Kara Kowaszczyk. Die ist so eiskalt. Aber Cynthia ... Ich glaube, sie wird zu dir kommen. Ich wünsche es dir so. Das Leben ist zu schade, um einsam zu sein ...«

Ja, wie recht du hast, liebe Sandra. Es wäre so schön, verliebt zu sein und geliebt zu werden. Aber auch du bist einsam ... Jade verdrängte ihre Gedanken und schenkte Sandra aufmunternde Worte: »Notfalls haben wir immer noch uns, Sandra. Du weißt doch, dass du meine kleine Schwester bist, oder?«

Sandra lächelte. »Ja, das weiß ich. Ich bin so froh, dass wir uns kennengelernt haben. Ich habe damals sofort gespürt, dass uns etwas Gemeinsames verbindet, noch ehe es ausgesprochen war. Und ich weiß nicht, wie es mir heute ohne dich ergehen würde.«

Die Clubbesitzerin erwiderte Sandras Lächeln. Auch sie war froh, dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte. Und durch die besondere innere Bindung, die sie zueinander hatten, empfanden sie die Einsamkeit nicht mehr so stark wie zuvor.

Für Jade war Sandra ein Sonnenstrahl in einer meist kalten, distanzierten und oberflächlichen Welt. Sie wusste, dass Sandra ebenso empfand. Außerdem war ihre jüngere Freundin sehr sensibel und unsicher. Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte, und der ihr schützend zur Seite stand.

Jade war gleichermaßen glücklich wie stolz, Sandras beste – und leider einzige – Freundin zu sein, und sie würde Cynthia und selbst Kara für Sandras Rettung ewig danken. Gemeinsam teilten sie ein Geheimnis, das sie noch niemandem anvertraut hatten: Sie waren Replikantinnen.

 

Kapitel 11 - Freitag, 23. November 2096: Ein fast normaler Tag

 

Am späten Nachmittag mussten sich Kara und Cynthia getrennt den Fragen der Dienstaufsicht stellen, die sich mit den Berichten von Spurensicherung und Rechtsmedizin sowie mit Sandras Zeugenaussage und Karas und Cynthias Einsatzbericht vorbereitet hatte. Sie hatten erst nach dem Wochenende damit gerechnet und nahmen an, dass es ein Versuch sei, sie zu übertölpeln.

Diesmal schienen die Kollegen jedoch kein besonderes Interesse an dem Fall zu haben oder keine Chance zu sehen, ihnen etwas anhängen zu können. Nach 15 bis 20 Minuten waren die Einzelbefragungen beendet, und noch vor Feierabend wurden sie informiert, dass kein Dienstvergehen festgestellt wurde.

Von der Rechtsmedizin erfuhren sie, dass die Identität der Toten anhand der Fingerabdrücke nicht ermittelt werden konnte. Medizinische und zahnmedizinische Befunde hätten in den Datenbanken ebenfalls zu keinen Übereinstimmungen geführt.

Im übrigen verlief der Tag fast wie alle anderen. Doch es gab einen Unterschied: Cynthia dachte permanent an Jade und wälzte sich abends im Bett schlaflos hin und her. Sie stellte sich Jades wunderschönes Gesicht und ihre geheimnisvoll wirkenden Augen vor. Doch wie Kara glaubte sie, dass die Clubbesitzerin eine Replikantin war. Cynthia bedauerte dies. Sie mochte Jade sehr, und offensichtlich beruhte das Interesse auf Gegenseitigkeit.

Aber etwas verwirrte Cynthia: Wie konnte eine Replikantin Besitzerin eines Clubs und einer Disco werden? Wie war es ihr gelungen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in deutlich weniger als den sechs Jahren seit der Gleichstellung so vermögend zu werden? Die Underworld unter Jades Leitung gab es bereits seit einigen Jahren, wenn Cynthia Kara richtig verstanden hatte.

Ein weiteres Rätsel fand Cynthia in sich selbst, denn sie hatte sich niemals als lesbisch betrachtet, trotz gewisser Erfahrungen. Nun erkannte sie, viele Jahre lang womöglich ein Opfer von Selbsttäuschung gewesen zu sein. Natürlich war sie seit den damaligen Vorfällen Frauen anders begegnet als normalerweise üblich. Es war nicht bei der Einschätzung und Beurteilung von Charakter, Intelligenz, Modegeschmack, Frisur, Haarfarbe, Nagellack, Beruf und gesellschaftlichem Status sowie dem Vergleich mit der eigenen Person geblieben: Wer war erfolgreicher, wer sah besser aus? Wer konnte wem das Wasser reichen oder auch nicht? Nein, diese an Zickenkrieg frühpubertärer Teenager grenzenden kleinlichen Vergleiche, die manche – nein, fast alle, vielleicht einschließlich Cynthia selbst – auch im Erwachsenenalter nicht oder nicht vollständig ablegen konnten, waren bei Cynthia noch in der Jugend ersetzt oder zumindest ergänzt worden durch Bewunderung von Schönheit, Ästhetik oder Individualität, von Intelligenz und Einfühlungsvermögen, und durch Überlegungen, ob die Andere Frauen mochte und, wenn ja, zu ihr passen würde und Gefallen an ihr fand.

Es hatte Fantasien und Tagträume gegeben, wie es sein würde, die Andere zu küssen und von ihr geküsst zu werden – und mehr. Doch es war ein großer Unterschied, diese Gedankenspiele zuzulassen oder nicht wahrhaben zu wollen und schnellstmöglichst zu verdrängen. Seit der Begegnung mit Jade schaffte sie es nicht mehr, die Wahrheit zu ignorieren: Sie mochte Frauen. Und bei Jade wollte sie diese Erkenntnis auch gar nicht negieren, denn zu begehrenswert, zu besonders und viel zu sehr ihr zugetan schien die Clubbesitzerin zu sein.

Da sie nicht schlafen konnte, stand sie wieder auf. Sie fragte sich, woher Jades Interesse an ihr kam, und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah eine 176 Zentimeter große Frau mit Konfektionsgröße M oder S, je nach Schnitt des jeweiligen Kleidungsstücks. Ihr Gewicht lag bei 63 Kilogramm, mal etwas mehr, oft etwas weniger.

Sie sah außerdem ein schönes Gesicht und begann ein inneres Zwiegespräch mit ihrem Spiegelbild: Du bist sehr hübsch, aber du hast eigentlich ein Allerweltsgesicht. Du bist mit deinen dunkelbraunen, langen Haaren höchstens eine Durchschnittsschönheit, aber absolut nichts Besonderes! In jeder Stadt gibt es viele wie dich, Hunderte oder Tausende – Zehntausende allein in New York. Warum interessiert sich eine absolut makellose Traumfrau wie Jade Jones für dich? Okay, du hast schöne Lippen, und deine Nase kann sich auch sehen lassen. Und du hast schöne Augen. Ja, deine Augen sind wirklich toll. Groß, aber nicht zu groß, und sogar minimal schrägstehend. Und die Augenbrauen: Von innen nach außen ansteigend und dann abfallend ... Ein richtig schöner, aber nicht zu großer Winkel! Ja, die Augenbrauen sind schön gewachsen. Du kannst dich insgesamt wirklich sehen lassen. Und dein Lächeln ... Es wirkt sympathisch, glaube ich. Aber trotzdem ..., dein Aussehen ist beinahe beliebig, und Jade ist so unglaublich perfekt. Was findet sie an dir?

Cynthia sah ihr Spiegelbild skeptisch an. War sie zu selbstkritisch? Dann wurde ihr bewusst, dass sie möglicherweise in die falsche Richtung dachte: Du bist echt bescheuert! Die inneren Werte! Ja, Jade spürt, dass dein Charakter ziemlich okay ist. Du bist frei von Hass und Ablehnung und gehst vernünftig mit deinen Mitmenschen und mit Replikanten um. Sie hat ein Gespür dafür, das wird’s sein! Und sie hat gespürt, wie sehr du sie magst ... Trotzdem: Gott, lass sie keine Replikantin sein! Ich habe nichts gegen euch, aber ihr seid schon ein wenig anders als wir. Zwar aus Fleisch und Blut, aber gemacht worden, nicht geboren und aufgewachsen. Könnte ich jemanden lieben, den es von Natur aus gar nicht geben würde und deshalb eigentlich auch gar nicht geben dürfte? Und dieser Amoklauf in L.A., die furchtbaren Bilder, das viele Blut ...

Die Agentin rieb sich mit der rechten Hand müde über die Augen und schüttelte den Kopf. So ein Quatsch! Das sind doch nur Einzelfälle! Jetzt denke ich schon wie dieser verdammte Madlock. Und vielleicht ist sie gar keine Replikantin ...

Cynthia verschränkte die Arme, ging zum Fenster und sah skeptisch hinaus. Eine Replikantin als Clubbesitzerin mit täglichem Kontakt zu Personal und Gästen? Also mir wäre das Entdeckungsrisiko zu hoch! Und wie sollte sie überhaupt in den paar Jahren zu einem Club gekommen sein? Der muss doch ein Vermögen gekostet haben! Cynthia dachte über die Frage nach, ohne eine Antwort zu finden. Okay, entspann dich, Süße! Du musst nichts überstürzen. Und vielleicht will sie ja auch gar nichts von dir ...

Cynthia starrte noch ein paar Sekunden lang mit verbissenem Gesichtsausdruck aus dem Fenster, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich verhalte mich unreif! Und dabei dachte ich, ich wäre erwachsen ...«, sagte sie im leisen Selbstgespräch und beschloss, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Es würde sich alles irgendwie ergeben, so oder so.

Als Ablenkung schaltete sie den Fernseher ein. Eine Nachrichtensendung zu den baldigen Präsidentschaftswahlen lief. Um die Toten der Vergangenheit zu ehren, wurde der nach den Ereignissen im Oktober 2068 verschobene Wahltermin seit nunmehr achtundzwanzig Jahren beibehalten.

Die aussichtsreichsten Kandidaten wurden vorgestellt, unter anderem Senator Madlock. Cynthia wusste, dass er ein Hetzer gegen die Replikanten und die personifizierte Ablehnung der Gleichstellung war. Er war ein Multimillionär, der sein Vermögen anfangs mit Immobilien und Spekulationsgeschäften gemacht hatte. Inzwischen besaß er Anteile an mehreren profitablen, international agierenden Firmen. Ein Ferengi der übelsten Sorte, dachte Cynthia. Und noch dazu einer, der Politik macht!

Die Agentin konzentrierte sich auf die Nachrichtensprecherin, die gerade einen Bericht über Madlock ankündigte. Nach einem kurzen Vorspann, untermalt von einer viel zu lauten Melodie, begann der Film, und eine weibliche Stimme versorgte die Zuschauer mit Informationen: »Wer kennt diesen Mann nicht? Gregor Roy Madlock, 58 Jahre alt, Senator und Gründer der Partei zum Schutze der menschlichen Gemeinschaft Amerikas. Selfmade-Millionär und politischer Shooting Star seit der letzten Wahl vor vier Jahren. Seine Partei hat innerhalb kurzer Zeit zahlreiche Anhänger gewonnen und ist zu einer ernstzunehmenden Größe in der politischen Landschaft Amerikas geworden. Mit den traditionellen Parteien kann sie sich noch nicht messen, aber seit der Einführung des Verhältniswahlprinzips sind auch kleinere Gruppierungen im Kongress stärker vertreten. Madlock und seine politische Gefolgschaft gehören zu den großen Gewinnern der Wahlreform, deren Regeln bald zum dritten Mal zur Anwendung kommen ...«

Die Sprecherin erklärte außerdem, dass Madlock nach den jüngsten Umfrageergebnissen noch immer als Außenseiter galt, und dass er am nächsten Tag im Central Park eine Wahlkampfrede halten würde. Beides war Cynthia schon bekannt, und die Rede betraf sie dienstlich, denn gemeinsam mit Kara sollte sie sich Madlocks Ausführungen anhören und die Veranstaltung beobachten.

Politik machte Cynthia stets müde, und so legte sie sich ins Bett. Aber da sie noch immer an Jade dachte und begann, ihr eigenes Single-Dasein zu hinterfragen, lag sie länger als eine Stunde wach, ehe sie endlich Schlaf fand.

 

Kapitel 12 - Samstag, 24. November 2096: Das Attentat

 

Madlock saß auf dem wuchtigen Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch. In drei Stunden, um 14 Uhr, würde er seine Rede halten. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Macht, ein wichtiger Schachzug, aber weiß Gott nicht der letzte oder genialste.

Madlock war für den Moment zufrieden, denn es sah gar nicht schlecht aus. Noch war er den Umfragen zufolge ein Außenseiter, aber er war bereits auf Rang drei. Und er hatte einen Plan, dessen Durchführung ihn wesentlich populärer und beliebter machen würde.

Der vor Jahren geänderte Wahlmodus mit der Abschaffung des ebenso unsinnigen wie undemokratischen Wahlmännersystems und des ‚Winner takes all’-Grundsatzes sowie mit der Einführung des neuen Direktwahlprinzips würde ihm bei der Präsidentschaftswahl Anfang nächsten Jahres erneut und diesmal entscheidend zugute kommen. Er musste nur populär genug sein und den Menschen politische Ansichten und Perspektiven bieten, zu denen es nach Lage der Dinge keine vernünftigen Alternativen gab. Dann hätte er gute Chancen, eine Stichwahl zu erzwingen oder sogar die absolute Mehrheit zu erreichen und im ersten Wahlgang gewählt zu werden.

Noch erschien dieser Gedanke unrealistisch, aber die Lage der Dinge würde sich schon bald zu seinen Gunsten ändern. Die Wähler würden erkennen, dass der amtierende Präsident zu liberal war und die inneren Probleme des Landes unterschätzt hatte. Die anderen Bewerber würden erst recht chancenlos sein.

Madlock blickte zuversichtlich in die Zukunft. Er war nicht mehr so jung und gutaussehend wie sein das Amt innehabender Konkurrent. Er war vielleicht auch nicht so charismatisch, aber er war nicht allzuweit davon entfernt. Letztendlich sollte sein überzeugendes politisches Programm entscheidend sein. Dafür erforderlich war nur das Gelingen seines Plans: Er musste sich die Ängste der Menschen zunutze machen ...

 

.....

 

Madlocks Rede begann pünktlich um 14 Uhr. Cynthia und Kara waren kurz zuvor eingetroffen. Der Politiker hielt seine Wahlkampfveranstaltung im Central Park ab, der nach der teilweisen Zerstörung der Stadt mit anderem Layout neu angelegt worden war.

Die grüne Lunge Manhattans wurde von mehreren, oftmals verwunschen wirkenden Wegen durchschnitten, hatte kleine Wäldchen, Wiesen, Teiche und leise plätschernde Bachläufe mit gemauerten Steinbogenbrücken. Er sah romantischer aus als die alte Version, wurde nicht mehr von Straßen unterbrochen, und manche Abschnitte ähnelten einem kleinen Märchenwald oder einer Auenlandschaft mehr als einem Park inmitten der Millionenmetropole New York.

Nicht nur der Central Park sah anders aus als in früheren Jahrzehnten. Auch die Bebauung an den Straßen, die an ihm entlang führten, hatte sich verändert. Entlang der Central Park West war ein Einkaufszentrum errichtet worden. Es erstreckte sich oberhalb des Columbus Circle, zwischen der W 61st und der W 65th Street, auf einer Fläche von rund 300 Metern Länge und 60 Metern Breite zuzüglich einiger Nebengebäude und notwendiger Konstruktionen, zum Beispiel Auffahrten zu den oberen Parkdecks.

Im unteren, südlichen Abschnitt des Central Parks, vis-a-vis dem Einkaufszentrum, befand sich eine größere Rasenfläche, die ein idealer Ort für Madlocks Rede und andere Veranstaltungen war, da sie Platz genug für über zweitausend Menschen bot, und in der Tat hatten sich auch so viele Besucher versammelt.

Am östlichen Ende des Grüns stand eine Bühne für den Redner, seinen Beraterstab und seine Leibwächter. Journalisten und Teams von Fernseh- und Radiosendern waren anwesend. Lautsprecher und riesige Bildschirme gewährleisteten, dass auch weiter entfernt stehende Menschen alles verstehen und sehen konnten. Madlock hatte keinen Aufwand gescheut.

Kara und Cynthia standen am hinteren Rand der Menge, einige Meter von den Leuten entfernt.

Cynthia mochte den Winter nicht besonders, denn an kurzen Tageslichtphasen, Kälte, Schnee, Glätte und schmutzigem Matsch bei Tauwetter fand sie nichts Positives. Deshalb war sie froh, dass der Schneeregen Sonne und Trockenheit gewichen war. Die Temperaturen um den Gefrierpunkt waren mit angemessener Kleidung, Mütze und Schal erträglich.

Wenigstens konnte sie in dieser Jahreszeit einige ihrer warmen Lieblingsmäntel anziehen. Sie mochte Mäntel in allen Farben und Varianten; egal ob in gelb, königsblau, fuchsia, rosa oder schwarz; einreihig oder zweireihig geknöpft, mit oder ohne Bindegürtel, aus Wolle, Kunstpelz oder Lederimitat. Cynthia besaß sogar einen flauschigen Mantel in Zebrafelloptik, aber sie hatte ihn in all den Jahren nur bei ein oder zwei Gelegenheiten getragen. Gleiches galt für ein Exemplar mit Schneeleopardenmuster. An diesem Tag hatte sie sich für einen knallroten Einreiher mit Bindegürtel entschieden, den sie zu weißem Schal, weißer Mütze, schwarzer Hose und weißen Stiefeln trug.

Madlock redete schon eine ganze Weile über die Punkte seines politischen Programms. »Förderung der Bildung, Verbesserung des Gesundheitssystems, Erhöhung der inneren Sicherheit, Reduzierung von Armut und Arbeitslosigkeit ... Bla, bla, bla ...«, machte Kara. »Das übliche Gelabere zu den üblichen Themen. Langweilig!«, kommentierte sie. »Ich habe übrigens alte Kontakte genutzt und versucht, ein paar Erkundigungen über deine Jade und das Mädchen einzuholen, das wir gerettet haben.«

Cynthia stützte genervt die Hände in die Hüften. »Sie ist nicht meine Jade, aber egal ...«

Kara lächelte amüsiert. »Schon klar! Interessiert dich trotzdem, was ich erfahren habe?«

Es interessierte Cynthia sehr, aber sie antwortete mit gespielter Gleichgültigkeit. »Du sagst es mir doch sowieso, ob es mich interessiert oder nicht ...«

Erneut reagierte Kara mit einem Lächeln, denn ihr war klar, dass Cynthias Desinteresse gespielt war. »Eine Freundin aus der Ausbildungszeit schuldete mir noch einen Gefallen. Leider nur einen, deshalb musste ich mich entscheiden, ob sie mir etwas über diese Sandra Camponee oder über Jade Jones verrät. Ich habe mich dann für Jade entschieden.«

Kara entging keineswegs, dass Cynthia sie aufmerksam ansah. Die Fassade der Gleichgültigkeit bröckelte nicht nur, sondern stürzte innerhalb von zwei Sekunden vollständig ein.

»Und was sind das für Informationen, die sie dir gegeben hat?«

»Meine Bekannte arbeitet im Heimatschutzministerium, in einer Abteilung mit der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sie hat direkten Zugriff auf die Daten aller Bürger der Vereinigten Staaten, einschließlich der geheimen Daten aller Replikanten ...«

Hätte Cynthia eine Bombe entschärfen müssen, so wäre sie kaum angespannter und aufmerksamer gewesen als in diesem Augenblick. Aber Kara beschloss, Cynthia noch auf die Folter zu spannen, und grinste ihre Kollegin mit einem Hauch von Sadismus an. »Ich musste wirklich meine ganze Überredungskunst einsetzen, denn die Abteilung, in der sie arbeitet, wird streng überwacht. Sie war nur bereit, die Datensätze zu Jade abzurufen und zu überprüfen, nicht aber zusätzlich die Daten von Sandra. Weißt du, sie könnte durchaus einige Schwierigkeiten bekommen, wenn man sie dabei ...«

Cynthia hielt es nicht mehr aus. »Kara!«, unterbrach sie ihre Kollegin. »Ist sie eine Replikantin oder nicht?«

Das Grinsen der blonden Agentin wurde noch breiter. »Ich dachte, es interessiert dich nicht ...?« Aber schließlich erlöste sie Cynthia und teilte mit, was sie wusste: »Nein, sie ist keine Replikantin.«

Cynthia atmete erleichtert aus. »Und da ist kein Irrtum möglich?«

»Laut meiner Bekannten nicht. Sie hat alle Daten überprüft, den kompletten Lebenslauf, inklusive Jades Eltern. Es gab keine Eintragungen, dass Jade eine Replikantin ist. Zusätzlich hat sie alle Daten auf Plausibilität überpüft, aber alles war ihrer Meinung nach frei von Widersprüchen und Ungereimtheiten. Es gab nichts, was fiktiv sein könnte, und auch die Daten ihrer Eltern waren echt. Details weiß ich aber nicht. Sie hat mir nur das Ergebnis ihrer Überprüfung mitgeteilt, denn plötzlich war ihr Chef da und hat sie in eine Besprechung geholt, sonst hätte ich sie vielleicht überreden können, mir mehr zu verraten.«

»Schon okay, das Ergebnis genügt ja ...«, fand Cynthia.

»Ehrlich gesagt, kann ich es kaum glauben. Guck dir die Jones doch mal an: Sie muss eine Replikantin sein!«

»Vielleicht hat deine Freundin dich angelogen?«

»Glaube ich nicht.«

»Dann muss Jade wohl eine Naturschönheit sein ... Neidisch?«

»Quatsch! Ich kann gut damit leben, dass geschätzt eine von zehntausend besser aussieht als alle anderen.«

»Eine von zehntausend? Hattest du vor drei Tagen nicht etwas gesagt, das sich anhörte wie schönste Frau der gesamten Ostküste oder so ähnlich?«

Die Blonde ignorierte den Einwand. »Und wie geht es jetzt mit dir und Jade weiter?«

Cynthia zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, vielleicht überhaupt nicht. Wir haben uns ja nur zwei Mal kurz gesehen. Du tust immer so, als ob ich total verknallt wäre.«

»Und, bist du’s nicht?«

»Ich bin fast 30, okay ...?«

In Karas Ohren klang dies leicht frustriert, aber vielleicht war es der Frust, den sie selbst empfand, denn sie war nur ein halbes Jahr jünger als Cynthia. Die 30 rückte unaufhaltsam näher. Manchmal fragte sie sich, wo Kindheit und Jugend geblieben waren. Aber was man üblicherweise mit diesen Romantik und schwermütige Wehmut heraufbeschwörenden Begriffen meinte, hatte sie nie erlebt. Sie war viel zu früh gezwungen worden, auf eigenen Füßen zu stehen, und hatte kleinkriminelle Nebengeschäfte getätigt, um eine billige Einzimmerwohnung und eine alte 125er zu finanzieren.

Eigentlich gefiel ihr das Leben der Gegenwart doch besser, und die 30 war nur eine Zahl und sollte ruhig kommen. Kara fühlte sich jung genug, es mit ihr aufzunehmen. Sie war fit wie eine Zwanzigjährige und sah auch nicht viel älter aus. Und bisher hatte sie noch jeden Gegner besiegt, das würde auch diese lächerliche Zahl zu spüren bekommen. Das Leben hatte sie gedemütigt und ihre Seele verletzt, aber niemals würde sie sich brechen lassen!

»Aha! Und was soll das heißen? Dass du dich mit 30 nicht mehr verlieben kannst?«, fragte sie.

Cynthia lächelte nachsichtig. »Natürlich kann ich mich verlieben, aber nicht mehr so schnell. Ab einem bestimmten Alter läuft das nicht nur mit dem Herzen, sondern zum Glück auch mit dem Verstand ab. Die Vernunft gewinnt langsam die Oberhand.«

»Du tust so, als ob du schon 40 bist, aber wenn du’s sagst ... Und was flüstert dir deine Vernunft der Vierzigjährigen?«

»Zunächst mal, dass ich nicht darauf vorbereitet bin, mich zu verlieben. Es passt nicht in meine Lebensplanung.«

Kara schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich glaube nicht an die Liebe, aber wenn, dann kann man sich wohl kaum darauf vorbereiten. Und was hat deine Vernunft noch so auf Lager?«

»Außerdem, dass es sehr unwahrscheinlich ist, Jade noch einmal zu begegnen ...«

»Du findest bestimmt einen Vorwand, wenn du willst. Und ich bin sicher, du willst ...«

Erneut zuckte Cynthia mit den Schultern. Ihre Unentschlossenheit war nicht gespielt, als sie sagte: »Mal sehen, ich weiß nicht ...«

Kara winkte ab. »Tu nicht so! Du bist doch erleichtert, dass sie keine Replikantin ist, oder?«

»Ich habe nichts gegen Replikanten und finde die Gleichstellung richtig, das weißt du ja auch.«

»Ja, aber mit einer Replikantin zusammen sein, das wäre etwas anderes.«

Cynthia verdrehte die Augen. »Das ist rein hypothetisch. Sie ist eine tolle Frau, das gebe ich zu. Mehr kann ich dir zum Thema Jade Jones nicht sagen!«

»Aber sie interessiert dich immerhin. Also dann rein hypothetisch: Was, wenn Jade eine Replikantin wäre? Würde sie dich dann trotzdem interessieren?«

»Rein hypothetisch bin ich froh, dass sie keine ist. Wie du schon sagtest: Mit einer Replikantin zusammen sein, das wäre etwas anderes ... Aber nochmal: Wir haben nur etwas geflirtet, und eigentlich bin ich auch nicht lesbisch.«

Die Agentinnen bemerkten ein kleines Objekt, das rauschend auf sie zukam. Sie duckten sich und sahen ihm nach. Es war eine Taube, die knapp über ihre Köpfe hinweggeflogen war. Kara verkniff sich einen Fluch, nahm sich aber vor, dem Tier beim nächsten Mal hinterherzuschießen, da es ihrer Ansicht nach ein klarer Angriff gewesen war, der eine Verteidigungsreaktion rechtfertigte. Mistvieh!, dachte sie verärgert.

Sie konzentrierte sich wieder aufs Gesprächsthema: Jade Jones. »Nicht lesbisch, aber geflirtet? Klingt nicht überzeugend, aber wenn du meinst ... Jedenfalls gefällt sie dir, und offensichtlich ist sie auch an dir sehr interessiert. Ich würde eine solche Gelegenheit nutzen, und sei es nur, um ein wenig Spaß zu haben und sie ins Bett zu kriegen ...«

»Schon klar! Ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet ...«, kommentierte Cynthia.

Madlock beendete die allgemeinen Ausführungen und leitete sein Lieblingsthema ein: Replikanten. »Jetzt kommt er zum Punkt«, stellte Kara fest. Sie machte ein genervtes Gesicht und fügte ergänzend hinzu: »Wenn das hier ein Film wäre, würde ich vorspulen, bis diese Pfeife fertig ist.«

»Ich dachte, er spricht dir aus der Seele?«

»Na und? Deshalb muss er sich noch lange nicht alle paar Tage wiederholen und bei jeder Wahlkampfrede denselben Müll erzählen. Das vorhin war eine wortgetreue Wiederholung seiner Ansprache, die er letzte Woche in Washington gehalten hat. Das sind doch eh nur leere Versprechungen, bis auf sein Ziel, die Replikantengleichstellung abzuschaffen ...«

Cynthia stellte fest, dass Kara auf dem besten Weg war, sich mal wieder in Rage zu reden. Zum Glück war Madlocks Timing perfekt, um dies zu verhindern. Sie beendeten die Unterhaltung und richteten ihre Aufmerksamkeit auf Madlocks Rede.

»... Ein weiteres, bislang ungelöstes Problem, das ich mir im Gegensatz zu den Kandidaten der Konkurrenzparteien zu eigen gemacht habe und keinesfalls als erledigt erachte, ist die Stellung der Replikanten in unserer Gesellschaft; ein Problem, das unmittelbar mit der inneren Sicherheit unseres Landes verknüpft ist.

Vieles von dem, was ich heute sagen werde, habe ich schon oft gesagt – denn man kann es nicht oft genug sagen! Die Replikanten sind keine Kinder aus dem Schoß einer Frau; sie sind nicht einmal Kinder aus der Retorte. Sie waren niemals Kinder, denn sie wurden als ausgewachsene Wesen erschaffen, und ihr anfängliches Wissen wurde ihnen ins Gehirn transferiert. Sie haben keine Eltern und keine Vergangenheit, und sie durchliefen nicht die verschiedenen Phasen des Kindseins und der Jugend. Jedes Exemplar ist nicht mehr als eine individuelle Ausführung eines bestimmten Basismodells, die in Gestalt eines bereits erwachsenen Menschen erschaffen wurde ...«

»Hinterhältig und suggestiv, von Exemplar zu reden ...«, fand Cynthia. »Und das mit dem Basismodell stimmt auch nicht. Replikanten sind individuelle Wesen ...«

Kara zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf Madlock.

»... Denkt man an ihre ursprüngliche, zugegebenermaßen für uns Menschen wenig schmeichelhafte Bestimmung zurück, und an die Motivation, die zu ihrer Erschaffung geführt hat, dann muss uns klar werden, dass Replikanten Wesen sind, die man nicht als Menschen und somit nicht als gleichgestellte, rechtsfähige Mitglieder unserer Gesellschaft bezeichnen kann.

Gewiss, sind sie erst einmal lebendig, so können sie denken und fühlen. Und sie altern sogar wie wir Menschen. Und obschon sie denken und fühlen, so tun sie dies nicht wie wir, denn sie haben keine Vergangenheit und keine Wurzeln. Es gibt nichts, was ihnen emotionalen Halt geben könnte.

Sie haben keine Erziehung genossen, von Menschen, die sich um sie sorgten, die sie liebten und ihnen moralische Werte oder das rechte Empfinden für Ethik und Gerechtigkeit beigebracht haben. Es gab niemanden, der ihnen beigebracht hat ...« – Madlock legte eine rethorische Pause ein – »... zu lieben und diese Liebe weiterzugeben, an unsere Kinder, an unsere Nachbarn und unsere Mitmenschen. Und das, ja das, macht sie so gefährlich! Sie beneiden uns um unsere Vergangenheit, um unsere Kindheit, unsere Eltern, unsere Wurzeln und unsere Erinnerungen. Sie beneiden uns um das, was einen großen Teil des Menschseins ausmacht.«

Karas Gedanken schweiften kurz ab, als sie an ihre eigene Vergangenheit zurückdachte. Sie erkannte Parallelen zu dem, was Madlock über die Replikanten gesagt hatte, aber trotzdem war sie ein gleich- und vollwertiges Mitglied der Gesellschaft, und niemand hatte dies je angezweifelt. Gab es also einen Logikfehler in Madlocks Argumentationskette? Sicher nicht, denn sie war nicht in einem Labor entstanden, sondern hatte Eltern gehabt. Kara verdängte den Hauch eines Zweifels und konzentrierte sich wieder auf den Senator und seinen Monolog.

»Da sie keine eigenen Kinder bekommen können, beneiden sie uns auch um unsere Zukunft, die in unseren Kindern liegt. Und aus Neid entsteht Hass, aus Hass entsteht Gewalt, aus Gewalt entsteht noch mehr Gewalt, entstehen innere Unruhe und Zerstörung, entsteht die Gefahr für die Unterwanderung unserer inneren Sicherheit und gesellschaftlichen Struktur, für die Aushöhlung der Fundamente, die unserem Land Stabilität und Frieden verleihen. All das haben wir schon einmal erlebt, als militante Kräfte Terror verbreitet, Angst und Schrecken gesät und nach der Macht gestrebt haben, um die Demokratie zu zerstören. Damals war ich ein junger Mann, doch ich kann mich noch gut an diese Zeit erinnern, wie viele andere von euch. Und ihr anderen, die ihr damals noch nicht dabei gewesen seid, fragt eure Eltern oder Großeltern danach. Es war ein Albtraum mit viel zu vielen Opfern in der Bevölkerung und in den Reihen von Polizei und Militär. Nicht nur Konzerne wurden angegriffen, auch mittelständische Betriebe in Schutt und Asche gelegt, Arbeitsplätze vernichtet und Existenzen ihrer Grundlagen beraubt. Armut machte sich breit. Die Replikanten haben das Potenzial und die Absicht, dieselbe Zerstörung zu verbreiten und dasselbe Leid. Und deshalb muss die Gleichstellung, die unsere politischen Gegner initiiert und gegen unseren Willen durchgesetzt haben, aufgehoben und die alte Rechtslage wieder eingeführt werden!«

Beifall brandete auf, nachdem das Publikum zuvor gebannt Madlocks Rede gelauscht hatte. Der Senator sonnte sich kurz in der Zustimmung der Menge, hob dann aber die Arme, um den Beifall zu unterbrechen. Die Leute reagierten entsprechend, und er fuhr fort: »Die Frage ist auch: Sind sie wie Menschen, oder sind sie nur bessere Roboter? Sind sie wie wir, oder sind sie nur eine Imitation, der eine künstliche Intelligenz eingehaucht wurde? Sind sie zu menschlichen Emotionen fähig, oder handelt es sich um Pseudo-Emotionen, die sie empfinden oder nur deshalb zu empfinden glauben, weil sie wie wir Menschen sein möchten?

Rufen wir uns die anfängliche Bestimmung künstlicher, humanoider Wesen ins Gedächtnis zurück und die ursprüngliche Motivation der Wissenschaftler, die sie erschaffen haben: Es sollten widerstandsfähige, schmerz-, gefühl- und bedürfnislose Wesen erschaffen werden, um dem Menschen zu dienen und überall dort eingesetzt zu werden, wo es zu kalt, zu heiß, zu giftig, zu radioaktiv oder aus anderen Gründen zu gefährlich ist. Sie sollten außerdem die Soldaten der Zukunft sein; brutale, emotionslose Mordmaschinen, die jeden Tötungsbefehl ohne zu zögern mit gnadenloser Effizienz ausführen.

Zu Anfang gefühllose, halb metallische, halb polymere Wesen, fanden ihre Schöpfer, die Wissenschaftler, dass dies nicht genug sei, und so intensivierten sie ihre Forschungen auf Gebieten wie Bioelektronik und Biomechanik, um nach Robotern und Androiden eine menschenähnliche Synthese aus Technik und Zellstrukturen zu erschaffen: Kybernetische Lebewesen, Cyborgs, waren plötzlich Realität.

Doch auch dies war ihnen nicht genug, denn sie wollten die perfekte Kopie des Menschen, und so versuchten sie, die Drähte, Kabel, Chips, Platinen und Prozessoren im Inneren dieser humanoiden Gebilde durch ein menschenähnliches Nervensystem zu ersetzen. Im Laufe der Jahre gelang es, die Ergebnisse zu perfektionieren. Dabei kamen ihnen die Erfahrungen auf dem Gebiet der Züchtung von menschlichen Organen und der Nachbildung spezifischer Körperteile für Zwecke der Rekonstruktionsmedizin zugute. Das abschließende Resultat, die höchste Entwicklungsstufe dieses unseligen Zweigs der Wissenschaft, waren Replikanten, die angeblich aus biologischem Material erschaffen wurden und äußerlich vom Menschen nicht zu unterscheiden sind.

Doch fast alle Replikanten entwickelten emotionale und psychische Störungen, die sie zu einer Gefahr für die menschliche Gesellschaft machen. Denn für ihre Unfähigkeit, mit ihrer Existenz ins Reine zu kommen, machen sie ihre Schöpfer, machen sie uns, die Menschen, verantwortlich. In ihrem Hass und ihrem Wahn wurden und werden sie zu Mördern, Amokläufern, Vergewaltigern, Saboteuren, Terroristen und Verrätern, um sich an der menschlichen Rasse für ihre unerträgliche Existenz zu rächen.«

»Ich find’s jetzt schon langweilig! Dasselbe wie letzte Woche in Washington ...«, rief Kara laut. Sie wusste es, da sie eine Fernsehübertragung gesehen hatte.

Einige Besucher drehten sich neugierig um, und Kara grinste ihnen breit ins Gesicht. Der Ausruf der Agentin wurde durch die kalte Luft weit getragen und schien auch am Podest hörbar gewesen zu sein, denn Madlock wirkte irritiert, und seine Securityleute blickten suchend in die Menge. Kara hatte ihren Spaß und lächelte Cynthia zufrieden an.

 

Kapitel 13 - Vergangenheit, Freitag, 12. Mai 2073, 4:20 Uhr. Newark, New Jersey, unter dem Hauptsitz der Biotec Humanoid and Robot Industries: Traumwelten

 

Die Wärme der Sonnenstrahlen kribbelte auf den zarten, hauchdünnen Gebilden, die ihren leichten Körper Meter um Meter weitertrugen. Sie folgte einem Kurs aus nicht vorhersehbaren Richtungs- und Höhenwechseln. Ihr Flug wirkte unruhig, und doch war sie erfüllt von Harmonie und innerem Frieden. Dieser Tag war heller als andere und gehörte zu jenen Phasen, in denen sie sich besonders lebendig fühlte und den Drang verspürte, hinauszufliegen in die Welt. Dann wollte sie die Umgebung erkunden und die Gerüche und zahlreichen anderen Sinneseindrücke erforschen, die sie mit ihrem kleinen Köper wahrnahm.

Instinktiv wusste sie, dass die Helligkeit und Wärme mit dem leuchtenden, runden Fleck zusammenhing, der hoch über ihr manchmal zu sehen war und manchmal nicht. Hatte das Licht eine bestimmte Intensität erreicht, dann musste sie in beinahe permanenter Bewegung sein, als gehorche sie einem übergeordneten Verhaltensmuster, das in völligem Einklang mit ihrer Natur war.

Ein plötzlich aufkommender, sanfter Wind kitzelte ihren Körper und lenkte ihren Flug nach links. Sie wehrte sich nicht, sondern ließ es geschehen und genoss die stimulierenden Reize, die von der Körperoberfläche aufgenommen und durch ihr Nervensystem geleitet wurden.

Als sie zu weit von ihrer ursprünglichen Flugbahn abgetrieben wurde, intensivierte sie ihre Anstrengungen und stemmte sich mit eifrigem Flügelschlag gegen die Brise. Die Sinneseindrücke verstärkten sich, und die sie umschmeichelnde Luft, die sie sanft zu streicheln schien, glich den liebkosenden Berührungen einer Liebenden. Aber von solchen Dingen wusste sie noch nichts.

Von rechts drang ein lautes Brummen an sie heran, dessen Quelle stetig näher kam und bedrohlich wirkte. Ein dickes, schwarzgelbes Gebilde flog träge in ihre Richtung. Es kreuzte ihren Weg knapp vor ihrer eigenen Flugbahn und schwebte mit majestätischer Gelassenheit davon. Das kugelrunde, flauschige Wesen schien von ihr keine Notiz genommen zu haben, und erleichtert setzte sie ihren Flug fort.

Ein süßer, blumiger Duft erregte ihre Aufmerksamkeit und zog sie wie magisch an. Der Ursprung des Geruchs war schnell gefunden, und etwas Buntes, Weiches lud zum Landen und Verweilen ein. Mit angeborener Perfektion, ohne jegliche Anstrengung, gelang ihr eine punktgenaue Landung. Ihr Körper wurde von dem blauen Blütenblatt mühelos getragen. Sie spürte, wie es unter ihr minimal nachgab und sanft zurück nach oben schwang. Dies alles vollzog sich in einem Bereich, den ein menschliches Auge nicht wahrgenommen hätte.

Die Pause war nur kurz, denn kaum hatte sie ihren Mund in den süßen Blütennektar getaucht, konnte sie nicht anders, als erneut mit ihren Flügeln zu schlagen und sich in die Luft zu erheben, wo sie ihren unstet wirkenden Zickzackkurs fortsetzte.

Schon bald durchflog sie eine feenstaubähnliche, silbern schimmernde Wolke, die der Wind in ihre Flugbahn wehte. Instinktiv wusste sie, dass ihr keine Gefahr drohte, und die winzigen, stern- oder fadenförmigen Objekte waren so leicht, dass sie vor ihrem Flügelschlag zurückwichen und an ihrem Körper vorbeiglitten, ohne ihn zu berühren.

Sie flog weiter über Meere von Blumen. Die Pracht der Farben war verwirrend und wunderschön zugleich. Nach kurzer Zeit traf sie auf einen Bachlauf, der sie zu einem See führte, dessen hoch gewachsenem Ufergras sie hoffnungsvoll folgte. Ein wenig musste sie sich anstemmen gegen den von links wehenden Wind, der in Nähe des Gewässers stärker war, doch sie konnte ihren Flug unbehelligt fortsetzen. Darüber war sie froh, denn sie war auf der Flucht und auf der Suche. Sie floh vor dem dunklen Ort, an den sie sich vage erinnerte, und suchte nach einem Gefilde, das hell und sicher war und ihr Schutz und Geborgenheit bot.

Minuten später ließ sie sich auf einem Kieselstein nieder, entgegen ihren Gewohnheiten für eine ganze Weile. Der Stein wärmte sie von unten, da er die Energie der Sonne in sich gespeichert hatte. Anfangs brannte es leicht, doch sie gewöhnte sich schnell daran. Sie schloss ihre winzigen Äuglein, genoss die Wärme des hellen Lichts und fühlte sich eins mit der sie umgebenden Natur.

Sie spürte Frieden und Harmonie in sich, doch irgendwann machte sich Unbehagen breit. Anfangs wusste sie nicht, woher der Stimmungsumschwung kam, aber dann öffnete sie ihre Augen und stellte fest, dass sich der Himmel verändert hatte: Aus dem wunderschönen Blau war ein tristes Grau geworden, das zunehmend düsterer wurde. Als würde die Dunkelheit aus dem Nichts entstehen, veränderte sich der Himmel gleichmäßig, wohin sie auch sah. In seiner gesamten Breite sowie über ihr, hinter ihr und bis zum Horizont schien er die Finsternis förmlich aufzusaugen, bis er selbst fast völlige Finsternis war.

Das Sonnenlicht drang kaum noch durch, und die Farben der bunten Welt um sie herum verloren an Intensität. Der See, das Schilf, Blumen und Bäume waren schon bald nur noch bedrohlich wirkende Schatten. Auch sie wurde ein Teil davon. In Panik verließ sie ihren Platz auf dem Kieselstein, erhob sich in die Luft und flog in eine zufällige Richtung. Alles war beinahe schwarz und nur noch schemenhaft erkennbar. Vergeblich hoffte sie, der Düsternis entfliehen zu können, denn wohin der Blick auch reichte, waren das Licht und die schönen Farbtöne verschwunden.

Sie wusste nicht, wie lange sie vorsichtig durch die Dunkelheit geflattert war, als sie leises, entferntes Weinen vernahm. Sie konzentrierte sich und flog in die entsprechende Richtung; froh, inmitten der Einsamkeit auf ein anderes Bewusstsein gestoßen zu sein. Nur wenig später traf sie auf ein Flügelwesen, das, wie sie, wunderschön und zerbrechlich war. Verängstigt kauerte es auf dem Boden unter einem schützenden Dach aus Blütenblättern. Als das andere Wesen bemerkte, dass es nicht mehr allein war, beruhigte es sich. Gemeinsam warteten sie und hofften, dass die Helligkeit zurückkehrte ...

 

Kapitel 14 - Samstag, 24. November 2096: Das Attentat, Fortsetzung

 

»... Denkt nur an den Amoklauf der Replikantin in Los Angeles vor einer Woche! Und das ist nur einer von vielen gewesen. Wann und wo wird das nächste Blutbad stattfinden? Vielleicht schon morgen, und vielleicht in dieser Stadt! Natürlich sind nicht alle Replikanten Mörder. Manche wurden depressiv und setzten ihrer Existenz selber ein Ende. Viele verloren den Verstand und landeten in den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrien. Nur wenigen scheint die Anpassung durch vollständige Adaption oder Imitation des menschlichen Verhaltens und Denkens gelungen zu sein. Und dies war und ist eine ganz spezielle Gefahr. Ich sage: Sie unterwanderten uns, drängten, ausgestattet mit gekauften und falschen Identitäten, in Schlüsselpositionen von Politik, Wirtschaft und Medien, und so gelang es ihnen, die öffentliche Meinung derart zu beeinflussen, dass schon bald Stimmen laut wurden, die forderten, dass alle Menschenrechte auch für Replikanten gelten. Ich aber fordere, dass diese gefährliche Manipulation und ihre destruktiven Folgen durch die Aufhebung der Gleichstellung rückgängig gemacht werden, denn warum sollte ein Replikant Rechte haben, während rechtswidrig erschaffene Klone rechtlos und ohne Lebensberechtigung sind?«

Erneut unterbrachen Beifall, Jubel und zustimmende Rufe Madlocks Rede, denn den letzten Satz hatte er in einem kraftvollen, lauten und fordernden Tonfall, der gar keine andere Reaktion des willigen Publikums zuließ, vorgetragen.

»Was für ein Schwachsinn«, sagte Cynthia. »Er suggeriert, dass Replikanten ganz Amerika überschwemmt hätten. Wir reden hier über einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung. Und vor der Gleichstellung ist nur wenigen die Flucht in die Freiheit gelungen. Wie sollen die in gesellschaftliche Schlüsselpositionen gelangt sein? Die hatten genug damit zu tun, um ihr Überleben zu kämpfen ...«

»Die Leute sehen das aber anders.«

»Weil sie es anders sehen wollen. Und was ist mit dir?«

Kara blickte ernst in Cynthias Augen. »Du weißt doch, was ich von Replikanten halte.«

Cynthia dachte kurz an Sandra Camponee, die vermutlich eine Replikantin war. Sandra war ein sympathisches Mädchen, das Karas Abneigung sicher nicht verdiente. »Es hört sich rassistisch an, was Madlock sagt. Seine Gründe sind weit hergeholt. Er übertreibt und verallgemeinert viel zu stark, was die verbrecherische Tendenz von Replikanten angeht und ihre Anfälligkeit für psychische Probleme. Vermutlich hat er das aus irgendwelchen unseriösen Studien, falls überhaupt ...«

»Kann sein ... Madlock ist ein Spinner, aber im Ergebnis gebe ich ihm trotzdem recht«, meinte Kara. »Replikanten sollte es nicht geben, und wenn, dann dürften sie keine Gleichstellung haben. Ich sehe keinen Unterschied zu Klonen. Beide würde es niemals geben, wenn diese bescheuerten Wissenschaftler nicht immer wieder versuchen würden, Gott zu spielen.«

Der Beifall ließ nach, und Madlock redete weiter: »Es freut mich, dass ich hier mit meiner Meinung offensichtlich nicht alleine bin. Aber ich warne euch, liebe Freunde und Mitbürger. In der Frage des Replikantenproblems offen seine Meinung zu vertreten, kann gefährlich sein. Ich habe in den letzten Wochen wiederholt Morddrohungen für den Fall erhalten, dass ich meine politische Linie nicht ändere. Jawohl, man versucht, mich unter Druck zu setzen, um zu verhindern, dass ich für meine Überzeugungen und für das Wohl dieses Landes, vielleicht für das Wohl der gesamten Menschheit, eintrete!

Ich frage euch, liebe Freunde, aus welchem Lager diese Drohungen wohl kommen? Von der politischen Konkurrenz? Wohl kaum, denn auch wenn wir inhaltlich unterschiedlicher Meinung sind, so würden die Damen und Herren der veralteten Parteien des überholten Zweiparteiensystems wohl kaum so weit gehen.

Stammen die Drohungen aus dem Wirtschaftssektor? Auch das ist sehr unwahrscheinlich, um nicht zu sagen unlogisch: Die Industrie ist seit dem Inkrafttreten des Replikanten-Neuschöpfungsverbotes auf die altbewährten Roboter und Androiden umgestiegen, die ihr trotz streng definierter Einsatzbereiche ebensolche Gewinne einfahren. Ihr kann es völlig gleichgültig sein, ob Replikanten die Gleichstellungsrechte besitzen oder nicht, denn diese Frage hätte aufgrund des seit langem geltenden Herstellungsverbotes keinerlei Auswirkungen auf mögliche Gewinne, und im übrigen hat sich noch kein Unternehmen über das Herstellungsverbot beklagt.

Wer bleibt also übrig? Niemand – jedenfalls keine menschlichen Urheber! Und genau deshalb glaube ich, dass die Drohungen gegen mich von einer Gruppe von Replikanten stammen, die sich im Untergrund darauf vorbereiten, Mordanschläge gegen ihre Gegner auszuführen, um zu verhindern, dass sie ihre erschlichene Gleichstellung wieder verlieren!

Seht mich an, Freunde und Mitbürger: Vor euch steht ein Mann, der in wenigen Wochen zum Präsidenten dieses Landes gewählt werden kann. Die Medien räumen mir nur Außenseiterchancen ein, aber mit dieser Wahl wird sich die Zukunft unserer Heimat, kann sich vielleicht die Zukunft unserer gesamten zivilisierten Welt, entscheidend verändern.

Wenn ich auf diese vor mir stehende bunte, wunderbare Menge blicke, dann sehe ich noch Zweifel und Unsicherheit auf einigen Gesichtern. Es sei euch nicht verübelt, wenn ihr politisch anderer Meinung oder noch unentschlossen seid, wie ihr zum Replikantenproblem stehen sollt. Aber seht mir in die Augen! Eines könnt ihr mir glauben, und ich schwöre es, so wahr ich hier stehe: Ich handele aus der Überzeugung heraus, das Richtige für uns alle zu tun, und ich wäre notfalls bereit, für meine politischen Überzeugungen und für das Wohl unseres Landes zu sterben!«

Jubel und Beifallsstürme waren die kalkulierte und zwangsläufige Folge des letzten Satzes. Madlock freute sich über die Zustimmung der Menge, der er immer wieder zuwinkte. Schließlich gab er ein Signal an sein Wahlkampfteam, das daraufhin an einem Fahnenmast hinter dem Rednerpult die amerikanische Flagge hisste. Als die Flagge oben war, wurde die Nationalhymne gespielt. Die ergriffene Menge verstummte und blickte auf die Fahne oder auf Madlock, der auf den riesigen Bildschirmen großformatig zu sehen war.

Cynthia war nicht ansatzweise beeindruckt und fragte sich, wieso die meisten Zuschauer so begeistert waren. Was hatte eine etwaige Wahl Madlocks mit der Zukunft der zivilisierten Welt zu tun? Replikanten stellten keine Gefahr für die Menschheit und ihre Errungenschaften dar. Dazu war ihre Anzahl einfach zu klein. Die zerstrittenen Menschen selbst waren das Risiko, wie seit Jahrhunderten: radikal-extreme Regierungen und Gruppierungen, die sich anmaßten, im Interesse eines ganzen Volkes zu agieren, sowie meinungsmonotone Eliten aus Politik und anderen Bereichen, die mit Doppelmoral und Scheinheiligkeit außerstande waren, Konflikte durch ausgewogenes Denken und Handeln zu vermeiden, und schließlich nationalen Ideologien verfallene expansionistische Kriegsherren reichten vollkommen aus, um die von Madlock benannten Gefährdungen herbeizuführen und zu erhalten. Künstlich erschaffene humanoide Wesen hatten nichts damit zu tun, und Replikanten schon gar nicht. Die geborenen Menschen waren nicht fähig, ihre Hand zu reichen und zu vergeben, denn sie hatten schon längst die Fähigkeit verloren, einen goldenen Mittelweg zu gehen.

Es war vielleicht gerechtfertigt, einzelne Replikanten zu fürchten, die mit ihrem isolierten Leben trotz der Gleichstellung nicht zurechtkamen und irgendwann den Wunsch entwickelten, sich an der Menschheit für die anhaltende Verachtung und Feindseligkeit zu rächen. Ob sie dies tatsächlich taten, war eine andere Frage.

Unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, war der Zusammenschluss einiger gescheiterter Replikanten zu einer Art Terrorzelle, um im größeren Stil für die an ihnen begangenen Greueltaten der Vergangenheit Rache zu üben. Im Extremfall waren zahlreiche menschliche Opfer denkbar, aber die Menschheit würde in ihrem Fortbestand absolut ungefährdet sein. Außerdem gab es auch menschliche Terroristen, das hatte die Vergangenheit leider viel zu oft bewiesen.

Fast alle Replikanten würden nur versuchen, unerkannt zu überleben. Doch Madlock spielte geschickt mit den Ängsten und Befürchtungen, die noch aus der Zeit vor der Gleichstellung stammten, als Menschen und Replikanten verfeindet waren und auf beiden Seiten Blut geflossen war – vor allem Replikantenblut.

Der Senator hatte durchaus recht: Eine Gefahr war in seltenen Einzelfällen nicht völlig auszuschließen. Aber er übertrieb maßlos, und das ärgerte Cynthia sehr, zumal sich die im Park versammelte Menge scheinbar herdentierartig beeinflussen ließ.

Kara trat gelangweilt von einem Fuß auf den anderen. »Die Nummer mit den Morddrohungen durch Replikanten nehme selbst ich ihm nicht ab«, erklärte sie.

Als die Hymne beendet war, griff Madlock zum Mikrofon. Die Blicke der Veranstaltungsbesucher waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Doch ehe er wieder zu ihnen sprechen konnte, wurde er wie von einer unsichtbaren Hand nach hinten gestoßen. Fast gleichzeitig war ein Knall zu hören, der wie ein Schuss klang. Die Szene wirkte dramatisch: Madlock fiel auf den Rücken und riss das Mikro, das er mit einer Hand umklammerte, mitsamt Ständer um. Zwei hinter ihm stehende Leibwächter reagierten umgehend und schirmten ihn ab.

Die Besuchermenge schrie entsetzt auf. Panik brach aus. Menschen kreischten und liefen nach Norden oder Süden davon, als würde ein kollektives Bewusstsein sie davon abhalten, in die falsche Richtung zu flüchten. Nur wenige blieben stehen oder legten sich auf den Boden und machten sich so klein wie möglich.

Kara und Cynthia drehten sich um. Da Madlock nach hinten gefallen war, musste der Schuss aus westlicher Richtung abgefeuert worden sein.

»Da oben ist jemand!«, stellte Kara fest. Cynthia sah es ebenfalls. Hinter der durchsichtigen Absturzsicherung aus Acrylglas, die um die obere, nicht überdachte Ebene des zum Einkaufszentrum gehörenden Parkdecks verlief, hockte eine Person und packte einen länglichen Gegenstand eilig in eine Tasche. »Eine Frau, schwarze Haare, Pferdeschwanz ...«, erkannte Kara.

»Schwarze Kleidung, die im Sonnenlicht glänzt«, beobachtete Cynthia. »Vermutlich ein Lackoutfit.«

Kara stimmte zu: »Ja, oder etwas ähnlich stark Glänzendes.«

Sie sahen, dass sich die Unbekannte die Tasche umhängte, aufstand, zur anderen Seite des Parkdecks lief und ihren Blicken entschwand. »Die kriegen wir nicht mehr!«, meinte Cynthia.

»Aber versuchen können wir’s trotzdem!« Kara rannte los. Cynthia überlegte nicht lange und folgte ihr. Sie hatten zwar nicht mit einer Verfolgungsjagd zu Fuß gerechnet, trugen aber trotzdem alltagstaugliche Stiefel ohne hohe Absätze. Anderes Schuhwerk als solches mit flachen Sohlen war in ihrem Beruf im Außendienst nicht empfehlenswert.

Der Weg, den Kara einschlug, führte auf direkter Linie zum Ziel. Sie mussten durch Blumenbeete laufen und über einen schmalen Bachlauf springen. Beinahe wäre Cynthia an der Böschung ausgerutscht und rücklings ins Wasser gestürzt. Erst im letzten Moment fand sie fluchend das Gleichgewicht wieder.

Nach einer Minute erreichten sie einen der Ausgänge, überquerten die Central Park West und befanden sich an der Längsseite des Einkaufszentrums. Kara hatte sich einen kleinen Vorsprung erarbeitet, da sie etwas trainierter war als Cynthia.

Beide waren außer Atem und ruhten sich einige Sekunden lang aus, ehe sie wieder sprechen konnten. Kara erholte sich zuerst. »Geht’s wieder?«

Cynthia brauchte noch etwas Zeit. Keuchend schüttelte sie den Kopf. Die Hände vor Erschöpfung auf den Knien aufstützend, stand sie mit gebeugtem Oberkörper vor Kara.

»Ganz schön heftig, so ein 200 Meter Sprint, was?«, meinte die blonde Agentin. Zumal er quer durchs Gelände war, aber diesen Zusatz dachte Kara nur.

Cynthia richtete sich wieder auf. »Okay, und wie geht’s weiter?«

»Theoretisch müssten wir alle Ausgänge sichern, was unmöglich ist, da wir nur zu zweit sind. Aber wahrscheinlich wird sie versuchen, mit einem Fahrzeug zu verschwinden.«

»Die ist doch schon längst verschwunden!«, wandte Cynthia ein.

»Komm schon!« Kara lief nach links, Richtung Süden, um zur nächstgelegenen Ausfahrt zu gelangen. Cynthia folgte ihrer Kollegin, aber sie hatte Seitenstechen und spürte vor Anstrengung das Blut im Kopf pulsieren.

Nach realen zwei, aber gefühlten fünf Minuten erreichten sie die Ecke des Gebäudes. Kara hielt an und drehte sich um. »Kannst du noch?«, rief sie ihrer Kollegin zu, die einige Meter hinter ihr war.

Cynthia schüttelte den Kopf, lief aber ohne anzuhalten weiter und an Kara vorbei.

»Hee!«, rief Kara, während sie wieder losrannte und sich nun ihrerseits bemühte, den Rückstand aufzuholen.

Cynthia war noch 30 Meter von der Ausfahrt an der W 61st entfernt. Eine kleine Menschenmenge hatte sich dort halbkreisförmig versammelt. Mit dem Rücken zu Cynthia stehend, starrten die Leute vor sich auf den Boden. Die Agentin ahnte Böses.

Endlich am Ziel angekommen, bahnte sie sich einen Weg zwischen den Menschen, die schockiert oder schaulustig einen am Boden liegenden Polizeibeamten betrachteten. Der Mann krümmte sich vor Schmerzen, aber er lebte. Allerdings sah er furchtbar aus: Sein Gesicht war blutüberströmt. Eine Platzwunde auf der Stirn, aus der das Blut lief, war noch die geringste Verletzung. Cynthia erkannte sofort, dass das Nasenbein gebrochen war. Zudem waren auch andere Schädelknochen und der Unterkiefer in Mitleidenschaft gezogen, denn das Gesicht des Mannes wirkte leicht asymmetrisch.

»FBI! Wurde schon ein Rettungswagen gerufen?«, fragte Kara. Jemand aus der Menge bejahte dies. Ein anderer betätigte sich als Hobbyfilmproduzent, indem er die Szene mit seiner Handykamera aufnahm. Kara ging von der Seite kommend zielstrebig auf ihn zu und nahm dem überraschten Mann das Phone aus der Hand.

»Hee, was soll das?«

»Beschlagnahme von möglichem Beweismaterial«, sagte Kara. »Vielleicht ist Ihr asoziales Verhalten ausnahmsweise für etwas gut gewesen.« Ihr Blick war so drohend, dass weiterer Protest ausblieb.

Zwei andere Männer, die ebenfalls gefilmt hatten, ließen ihre Geräte sinken und gingen fluchtartig davon. Kara verzichtete darauf, sie zu verfolgen. Vermutlich hatten ihre Filmaufnahmen sowieso erst begonnen, nachdem die Täterin den Ort des Geschehens verlassen hatte.

Cynthia kniete bereits am Boden und kümmerte sich um den verletzten Polizisten. Eigentlich konnte sie ihn nur beruhigen. Sie erfuhr, dass der Mann seinen rechten Arm und das rechte Bein unter starken Schmerzen leicht anheben, ansonsten aber nicht bewegen konnte. Auch seine Kopfverletzungen schmerzten sehr. Der Uniformierte schilderte, dass er versucht habe, die mutmaßliche Attentäterin aufzuhalten, die mit einem Motorrad die Rampe vom Parkdeck heruntergejagt sei. Das Sprechen fiel ihm schwer, und Cynthia musste genau zuhören, damit sie ihn verstand: »... Ich schoss, sie duckte sich ab, fuhr mich um und verschwand.«

Cynthia fragte den Verletzten, ob er die Frau beschreiben könne oder wiedererkennen würde, aber da sie einen Helm trug, war ihm dies nur eingeschränkt möglich: »Schlank, lange schwarze Haare, Kleidung aus schwarzem Lack … Mehr kann ich nicht sagen, tut mir leid.«

Kurz darauf traf das Rettungsfahrzeug ein, dessen Besatzung sich um den Mann kümmerte und ihn in ein Krankenhaus brachte. Cynthia und Kara befragten noch die anwesenden Leute, aber niemand konnte mehr sagen als der Polizist.

»Als Zeugen unbrauchbar!«, kommentierte Kara verärgert. »Keiner will etwas gesehen oder erkannt haben, verdammt!«

Die Agentinnen leiteten eine Fahndung ein und gingen durch den Central Park zurück. Sie kamen noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Madlock auf eine Trage gelegt wurde. Er war bei Bewusstsein, streckte dem verbliebenen Publikum den erhobenen Daumen entgegen und wurde unter Jubel und Anfeuerungsrufen zu einem Rettungswagen getragen.

Auf der Bühne nahm eine attraktive Frau mit schwarzer Lockenmähne das Mikrofon in die Hand. Cynthia und Kara erkannten, dass es sich um Miranda Madlock, die Tochter des Politikers, handelte. Sie teilte den Leuten mit, dass ihr Vater glücklicherweise keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten habe, sondern nur an der Schulter getroffen worden sei, und hoffentlich bald wieder in der Lage sein würde, seine Geschäfte zu erledigen und den Wahlkampf weiterzuführen.

Miranda erklärte, sie und der gesamte Beraterstab ihres Vaters hätten aufgrund der Morddrohungen versucht, ihn vorübergehend von seinen öffentlichen Auftritten abzuhalten, bis die Urheberschaft der Drohungen geklärt sei. Er habe jedoch geantwortet: Wenn es mein Schicksal ist, für dieses Land zu sterben, dann werde ich nicht davonlaufen!

Die im Vergleich zum Veranstaltungsbeginn nur noch kleine Menschenmenge jubelte erneut und rief minutenlang begeistert Madlocks Namen. Würde er die Verletzung überleben, und danach sah es aus, hätte ihm der Nachmittag zahlreiche Sympathien und Stimmen eingebracht, denn die Medien und sozialen Netzwerke würden mit ihren Berichten zwangsläufig für eine Ausbreitung dieses Erfolgs über das ganze Land sorgen.

»Die Situation perfekt ausgenutzt!«, kommentierte Kara und beobachtete den mittlerweile fahrenden Rettungswagen, in dem sich Madlock befand. »Es hätte für ihn nicht besser laufen können. So entstehen Helden ...« Dann drehte sie sich um und blickte schweigend zum Parkdeck des Einkaufszentrums.

Cynthia spürte, dass Kara einen Gedanken verfolgte. »Okay, was ist los?«

»Vergiss es, meine Theorie würde dir nicht gefallen!« Cynthia sah ihre Kollegin von der Seite sekundenlang auffordernd an, bis Kara schließlich sagte: »Also gut, aber es ist nur ein Gedanke, also reg dich nicht gleich auf, ja?«

»Was heißt denn hier reg dich nicht gleich auf ? Heiße ich etwa Kara Kowaszczyk?«

Kara verzog den Mund zu einem Grinsen. »Sehr witzig! Aber das Witzemachen wird dir gleich bestimmt vergehen: Glaubst du nicht, dass diese Terminatrix eine gewisse Ähnlichkeit mit deiner Jade hatte?«

Cynthia sah ihre Kollegin genervt an: »Erstens: Sie ist nicht meine Jade – wie oft noch, hm? Und zweitens: Aus der Entfernung konntest du das gar nicht erkennen. Wie kommst du überhaupt auf diese Idee?«

»Schon gut, ich meine ja nur: Da wären zunächst die langen, schwarzen Haare. Und von der Größe und der Figur her gesehen könnte es auch hinkommen. Und dann das Lackoutfit: Die Jones hatte vorgestern Abend doch ein silbernes Lackkleid an, also scheint sie eine gewisse Affinität zu diesem Material zu haben.«

»Alles ziemlich vage, du Expertin«, meinte Cynthia. »Schlank und schwarzhaarig sind viele Frauen. Deine Vermutung ist viel zu weit hergeholt. Und außerdem: Welches Motiv sollte Jade haben?«

»Das Motiv ist für mich klar: Sie sympathisiert mit den Replikanten, vermutlich, weil ihre Freundin Sandra eine Replikantin ist. Erinnerst du dich, was ich vorgestern über Jade gesagt habe?«

»Dass sie so eine Art Gleichgewicht der Kräfte sein soll? Du hast doch selbst zugegeben, dass das reine Spekulation ist. Ich glaube das jedenfalls nicht.«

Kara nickte: »Ja, vielleicht hast du recht. Aber angenommen, es stimmt: Sie sieht das Gleichgewicht gefährdet und legt den Urheber der Gefahr einfach um, oder versucht es wenigstens.«

Cynthia nahm ein Taschentuch in die Hand und reinigte so gut es ging ihre Stiefel, die vom Lauf durch den Park schmutzig waren. »Du vergisst dabei aber eines, du Superspürnase: Sie müsste ziemlich blöd sein, Madlock zu erschießen und so den Gegnern der Replikanten einen Vorwand zu geben, noch mehr Stimmung gegen sie zu machen.« Cynthia reichte Kara eines von ihren Papiertaschentüchern, und Kara folgte ihrem Beispiel.

»Vielleicht ist der Hass so groß geworden, dass die Vernunft den Kürzeren gezogen hat. Vielleicht hofft sie auch, dass der Hass auf die Replikanten nachlässt, wenn Madlock, der König der Replikantenhetzer, tot ist.«

Cynthia war inzwischen fertig und erhob sich. Aus ihrer stehenden Position blickte sie auf Kara hinab. »Deine Theorie ist absoluter Schwachsinn! Jade kam mir extrem vernünftig vor. Sie denkt sehr rational. Gewalttätigkeiten und Leute ermorden passen nicht zu ihr. Ist dir nicht aufgefallen, wie sensibel sie im Grunde ist?«

Kara war keineswegs überzeugt: »Dass sie sensibel ist, schließt nicht aus, dass sie auch eine andere Seite hat. Ich würde ihr gerne nochmal einen Besuch abstatten.« Sie erhob sich und befand sich beinahe wieder auf Augenhöhe mit ihrer nur wenige Zentimeter größeren Kollegin.

»Was soll das denn bringen, abgesehen davon, dass du wieder Gelegenheit hättest, sie fertigzumachen? Die Idee, dass sie die Schützin ist, ist total abwegig. Und deshalb lassen wir sie auch in Ruhe, okay?«, sagte Cynthia.

»Und wenn ich nicht einverstanden bin?«

Cynthia schüttelte fassungslos lächelnd den Kopf. »Das ist wieder mal typisch für dich! Wenn du nicht einverstanden bist, dann solltest du dich daran erinnern, dass du mir einen persönlichen Gefallen schuldest!«

Ein kurzes, überraschtes Lachen kündigte an, dass Kara gänzlich anderer Meinung war: »Ich wusste gar nicht, dass ich dir einen persönlichen Gefallen schuldig bin ...«

»Doch, das bist du; sogar mehrere. Vielleicht hast du vergessen, dass ich Dinge über dich weiß, für die der freundliche Mann von der Dienstaufsicht seine kleinen Finger geben würde – vielleicht auch mehr ...«

Nun war es Kara, die fassungslos lächelnd den Kopf schüttelte: »Das würdest du wirklich tun, wenn ich Jade nicht in Ruhe lasse? Kollegialität gibt es ab jetzt also nicht mehr zum Nulltarif, oder was?«

»Kollegialität?«, fragte Cynthia. »Mein Schweigen ist ja wohl mehr als das. Du tötest Menschen und redest dir ein, es sei Notwehr gewesen.«

»Ich nenne das erweiterte Notwehr. Ich töte ausschließlich Gewaltverbrecher, und das auch nur, wenn die vorher mich töten wollten! Für mich ist das Notwehr ...«

»Du tötest Menschen aufgrund deiner Unbeherrschtheit. Das ist weder erweiterte Notwehr noch handelt es sich nur um ein Dienstvergehen. Es ist mehr als das!«

»Und du willst es jetzt also der Dienstaufsicht stecken, oder was?«

Cynthia schnalzte fünf Mal mit der Zunge, was eigentlich typisch für Kara war. »Das sag ich ja gar nicht ...«

»Aber ich muss mir dein Schweigen erkaufen?«, erriet Kara.

»Stimmt genau!«

»Als Einmalzahlung?«

Erneut schnalzte Cynthia fünf Mal mit der Zunge, was Kara mit einem genervten Blick quittierte, und lächelte nachsichtig. »Für was für eine Kollegin hälst du mich? Natürlich als Einmalzahlung!«

Kara akzeptierte nur widerwillig, aber sie lenkte ein: »Also gut, wir lassen die Jones in Ruhe. Ich wusste übrigens gar nicht, dass du so hart sein kannst. An dem Silberprinzesschen muss dir ja wirklich verdammt viel liegen ...«

Cynthia hatte keine Lust, sich rauszureden, zumal Kara nicht ganz unrecht hatte. Aber entscheidend war, dass es nicht den geringsten Anlass gab, Jade zu verdächtigen. Ein erneuter Besuch und eine Befragung durch Kara wäre nichts anderes als Belästigung und eine Gelegenheit für Kara, ihre schlechte Laune auf jemanden abzuladen, der es nicht verdient hatte.

»Dann lass uns zur Dienststelle zurückfahren, unseren Bericht schreiben und Feierabend machen. Ich hätte übrigens erwartet, dass du dich über die Gelegenheit freust, Jade wiederzusehen ...«

Karas Erwartung traf zu, aber Cynthia behielt für sich, dass sie fast an nichts anderes mehr denken konnte, als an die schöne, sympathische Clubbesitzerin, die – das wusste sie nun dank Kara – zum Glück keine Replikantin war.

 

Kapitel 15 - Sonntag, 25. November 2096: Nächtliche Geständnisse

 

Die Ereignisse des Vortages zwangen Cynthia und Kara, auf den freien Sonntagvormittag zu verzichten. Sie fuhren zum Krankenhaus, um sich nach dem Zustand des verletzten Polizisten zu erkundigen, vor allem aber, um mit Madlock zu reden, da es galt, einen Fall aufzuklären.

Ihre Zuständigkeit ergab sich aus dem Gleichstellungsgesetz, welches als Bundesgesetz die Ermittlungskompetenz des FBI begründete. Eigentlich hätte das NYPD ermitteln müssen, da Mord und Mordversuch über das bundesstaatliche Strafrecht abgedeckt waren und das FBI für entsprechende Verbrechen im Normalfall nicht zuständig war. Doch bei Beteiligung von Replikanten an wie auch immer gearteten strafbaren Handlungen, als Opfer oder Täter, wurde aus der Gleichstellung eine Sonderstellung. Dies galt ebenso, wenn die politisch hochbrisante Thematik durch ein Verbrechen auch nur ansatzweise betroffen war. Durch den Anschlag auf Senator Madlock, dessen vordringlichstes Ziel die Abschaffung der Replikantenrechte war, galt diese Zuständigkeitsvoraussetzung zugunsten des FBI als erfüllt.

Beide Patienten waren ins Lenox gebracht worden. Der noch am Vortag operierte Polizist war wach. Er befand sich in den Umständen entsprechender Verfassung und teilte mit, dass die Ärzte von einer vollständigen und komplikationsfreien Genesung ausgingen. Die Agentinnen blieben einige Minuten, verabschiedeten sich und wünschten alles Gute.

Als sie auf dem Flur waren, lästerte Kara: »Ziemlich bescheuert, sich einem Motorrad in den Weg zu stellen und über den Haufen fahren zu lassen ...«

Vor der Tür von Madlocks Einzelzimmer hielt ein Sicherheitsmann Wache. Sie fanden Madlock mit einem Schulterverband vor. Von schlechter Stimmung war nichts zu spüren. Die beiden Agentinnen befragten ihn hinsichtlich der Morddrohungen und wollten wissen, wer den Anschlag auf ihn ausgeführt oder in Auftrag gegeben haben könnte.

Das Gespräch war nicht sehr ergiebig. Madlock erklärte, er habe die Drohungen auf die altmodische Art mit der Post erhalten, vermutlich, weil man dies im Gegensatz zu elektronischen Übermittlungsmethoden nicht nachverfolgen könne. Die Briefe habe er stets weggeworfen, obwohl er sie durchaus ernstgenommen habe. Es habe sich um mehrere Drohbriefe über einen Zeitraum von drei oder vier Monaten gehandelt. Er sei aufgefordert worden, seine politische Linie zu verändern und die Replikanten in Ruhe zu lassen, da er ansonsten auf sein Leben achtgeben müsse. Wer dahinterstecken würde, sei ja wohl sonnenklar: Die Replikanten natürlich!

Auf seine Verletzung angesprochen, erklärte Madlock, die Attentäterin habe nur seine Schulter getroffen und glücklicherweise nicht viel Schaden angerichtet. Schon in wenigen Tagen würde er wieder voll einsatzfähig sein.

Die Agentinnen bedankten sich pflichtgemäß, verzichteten mangels Sympathie auf Genesungswünsche und verließen das Krankenzimmer. »Nichts! War ja auch vorhersehbar ...«, meinte Kara frustriert.

Auch Cynthia war genervt: »Madlock weiß nichts oder sagt nichts, und sonst hat auch niemand etwas gesehen, das uns weiterbringen würde. Und die Fahndung nach der unbekannten Schützin hat ebenfalls noch nichts gebracht. Ich habe das Gefühl, dass wir in dieser Sache nicht weiterkommen werden.«

Kara hatte eine Idee: »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit: Jade Jones.«

»Hast du ein Problem mit deinem Gedächtnis, oder warum muss ich dich an unser Gespräch von gestern erinnern?«

»Entspann dich! Ich meine nicht Jade selber, sondern ihren Club. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich gesagt habe, in der Underworld würden Gerüchte und Informationen zusammenlaufen. Vielleicht weiß sie etwas.«

Cynthia dachte etliche Sekunden nach und lenkte mit gemischten Gefühlen ein: »Okay, eine andere Chance haben wir wohl nicht. Aber du lässt sie in Ruhe, klar?«

»Ja, Memsahib. Versprochen.«

Für Cynthias Geschmack fehlte es der Antwort an Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit. Sie hoffte, dass Kara sich an diesem Abend trotzdem zurückhalten würde. Die Stunden bis dahin konnten genutzt werden, um längst überfällige Berichte zu schreiben. Diesmal war Kara an der Reihe. Cynthia war froh, denn so konnte sie die Zeit für private Erledigungen nutzen, und um sich für Jade herauszuputzen.

Kara holte sie gegen 20 Uhr mit ihrer Corvette ab. Karas Wohnung in Sunnyside lag nur 10 Autominuten von Cynthias Zuhause in der Hillyer Street entfernt. Als Cynthia einstieg, pfiff Kara, um ihre Bewunderung auszudrücken. »Da hat sich aber jemand schön gemacht! Und extra eine neue Frisur? Willst du etwa jemandem besonders gut gefallen?«

»Hättest du wohl gern! Wir gehen in einen Edelclub, da wollen wir ja nicht negativ auffallen, oder?« Aber natürlich traf Karas Vermutung zu. Cynthia trug einen schwarzen Daunenmantel – es handelte sich um synthetische Daunen, da sie darauf achtete, dass keine Tiere für ihre Kleidung ihr Leben gelassen hatten – mit kunstfellbesetzter Kapuze zu einer schwarzen Hose. Ihr silbergrauer Pullover harmonierte mit der silbernen Halskette und den gleichfarbigen Creolen. Ihre Haare trug sie hochgesteckt; ein Anblick, den Kara zuvor höchstens zwei Mal gesehen hatte. Auch geschminkt hatte sie sich mehr als sonst, und die Augen waren auffällig betont. Der fast matte Lippenstift unterstützte die natürliche Farbe des Mundes.

Cynthia fiel auf, dass auch Kara sich herausgeputzt hatte. »Und außerdem: Du siehst auch etwas anders aus als gewöhnlich ...«

Kara präsentierte sich gemäß dem aktuellen Trend in schwarz-silberner Hose in Schlangenlederoptik, zu der sie eine plissierte Wickelbluse und Stiefeletten, jeweils im Gunmetalfarbton, trug. Ein schwarzer Kunstledertrenchcoat mit Bindegürtel komplettierte das Outfit. Der sauerkirschrote Lippenstiftfarbton auf ihrem Mund glänzte dezent, doch verführerisch.

Schmuck trug sie nicht, aber sie hatte Rouge aufgelegt und ihre Augen stark betont. Sie sah sehr schick und mit ihren kurzen, blonden Haaren sehr apart aus. Ihre Augen waren ein absoluter Blickfang.

»So habe ich dich noch nicht oft gesehen«, meinte Cynthia. »Du siehst toll aus, wirklich sehr schön! Nicht, dass du sonst nicht schön wärst, aber ...«

»Danke sehr; ich weiß schon, was du meinst. Deine Jade soll wissen, dass sie nicht die einzige ist, die verdammt gut aussieht«, meinte Kara kühl und mit einer gewissen Selbstzufriedenheit. Sie wartete, bis Cynthia sich angeschnallt hatte. Dann sagte sie: »Festhalten!«, und trat aufs Gaspedal.

Sie nahmen die Route über Randalls Island, und Cynthia war froh, als Kara den Wagen nach kaum mehr als 15-minütiger Fahrt auf dem Parkplatz der Underworld abstellte. »Irgendwann wirst du’s übertreiben, und ich hoffe, dass ich dann woanders bin und nicht neben dir sitze«, sagte sie, als sie ausstieg. Sie gab sich betont ruhig, aber ihr Herz schlug beinahe so schnell wie nach dem langen Sprint am Vortag.

Diesmal nahmen Kara und Cynthia den direkten Eingang zum Nachtclub, der rechts neben dem Discobereich des Gebäudes lag. Nach dem Foyer folgte ein kurzer Gang, der zu einer gläsernen Drehtür führte. Dahinter tauchten sie in das gehobene Nachtleben der Stadt ein. Wie an jedem Abend, fand eine Tanz- und Musikshow statt. Die Agentinnen hatten das Glück, am anderen Ende des Saals noch einen freien Tisch zu finden. Cynthia zog den Glanznylonmantel aus und legte ihn über die Rückenlehne ihres Stuhls.

»Sehen und gesehen werden. Teil der gehobenen Gesellschaft der Weltstadt New York sein. Das wollte ich schon immer mal erleben«, sagte Kara, während sie ihren Trenchcoat auszog, einmal der Länge nach faltete und über die Lehne warf.

»Ja, reich, elitär und wichtig«, lautete Cynthias zustimmender, nicht minder ironisch gemeinter Kommentar.

Sie bestellten Drinks, beobachteten das Geschehen und erkannten eine Reihe wohlhabender Geschäftsleute. Künstler waren ebenso zu sehen wie Menschen aus der politischen Szene und namhafte Mitglieder des kriminellen Milieus. In der Underworld waren die einflussreichsten Leute der Stadt versammelt.

Die Drinks wurden gebracht, und Kara leerte ihren Summer Dream, einen orangefarbenen, fruchtig und süßlich schmeckenden Longdrink mit sehr wenig Alkohol, sofort zu einem Drittel. Cynthia hatte sich einen Yellow Butterfly bestellt, der noch weniger Alkohol enthielt und nach Zitrone schmeckte.

»Diesen Laden würde ich gerne mal aufmischen!«, sagte Kara genervt. »Steifärschige, fettbäuchige Geldsäcke, Playboys und Snobs, wo man nur hinsieht. Die größten Verbrecher nur wenige Tische neben den scheinheiligen Herren der Stadt. Ich könnte echt kotzen!« Ihre Aussprache passte ganz und gar nicht zum Ambiente dieses Clubs der Extraklasse, aber Cynthia konnte ihre Reaktion sehr gut nachvollziehen. Sie glaubte nicht, dass sich Jade bei diesem Publikum wirklich wohl fühlte, und fragte sich, wieso sie einen Club führte und keiner anderen Tätigkeit oder einem anderen Gewerbe nachging. Cynthia konnte sich Jade sehr gut als Inhaberin einer New Yorker Luxusboutique vorstellen, mit Filialen in London, Paris, Monaco und St. Petersburg. Aber immerhin musste die Underworld ähnlich lukrativ sein, was vermutlich ein guter und ausreichender Grund war.

Sie bestellten nach einiger Zeit erneut Drinks. Diesmal nahm Kara ebenfalls einen Yellow Butterfly, da sie später noch fahren musste. Im übrigen verbrachten sie ihre Zeit mit dem Beobachten der Tanzshow. Da sie in einiger Entfernung saßen, war sich Cynthia nicht sicher, ob unter den mit Perücken auftretenden Tänzerinnen auch Sandra war. Cynthia hoffte, dass sich die sympathische Tänzerin von ihrem schrecklichen Erlebnis erholt hatte.

Die Zeit verging ohne Gelegenheit, Informationen aufzugreifen. Als die Agentinnen besprachen, ob ein weiteres Verweilen überhaupt sinnvoll wäre, verließ Jade den privaten Bereich, um den Besuchern des Clubs die Ehre zu erweisen. »Wurde auch Zeit«, nörgelte die blonde Agentin. Cynthia und Kara saßen recht weit entfernt. Sie beobachten, wie Jade langsam von Tisch zu Tisch ging und ihre Gäste begrüßte. Ein kurzer Wortwechsel hier, ein Lächeln da, ein Scherz oder ein Händedruck, um den zumeist reichen oder gut situierten Besuchern das Gefühl zu geben, willkommen und ein wichtiger Teil der Underworld zu sein. Jade ging langsam und ließ sich Zeit. Hin und wieder gesellte sie sich für einige Sekunden oder Minuten an einen Tisch, nur um kurz darauf wieder aufzustehen und die nächsten Gäste zu begrüßen.

Cynthia hatte viel Zeit, die charismatisch auftretende Clubbesitzerin zu beobachten. Unter den Leuten befanden sich zahlreiche Frauen, von denen viele jung und sehr schön waren sowie stilvoll oder glamourös gekleidet und zurechtgemacht. Aber nicht eine konnte sich mit der Schönheit der Gastgeberin messen. Nicht nur die männlichen, auch weibliche Gäste sahen bewundernd oder neidisch, offen oder verstohlen in Jades Richtung.

Eine halbe Stunde später war Jade immer noch mehrere Tische weit entfernt. Sie hatte die Agentinnen aber längst bemerkt und lächelte Cynthia an. Cynthia lächelte zurück, und selbst Kara gab sich Mühe, sich ihre eher schlechte Laune nicht anmerken zu lassen.

Gegen ihren Willen begann Cynthias Herz, etwas schneller zu schlagen. Sie blickte immer noch zu Jade, bemerkte aber, dass Kara sie genau beobachtete und grinste. Sie wurde unsicher, sah zur Bühne und tat, als würde sie sich auf die Tänzerinnen konzentrieren. Cynthia dachte über sich nach, wie schon zwei Tage zuvor: Sie hatte, bis auf zwei Ausnahmen, keine sexuellen Erfahrungen mit Frauen. Es hatte im übrigen nur Fantasien und Gedankenspiele gegeben. War sie deshalb bereits lesbisch, oder war alles noch irgendwie erklärbar, vielleicht mit Freigeistigkeit, sexueller Weltoffenheit oder geschlechtsunabhängiger Sympathie für das jeweilige Individuum? Doch was sie für Jade empfand, ging über Sympathie weit hinaus. Es war ein Gefühl extremer Zuneigung, das im Innersten ihres Herzens den Ausgangspunkt zu haben schien, sich mit einem kaum geringeren Gefühl des Verlangens mischte und wie eine Welle heißer Emotionen von Körper und Geist Besitz ergriff.

Cynthia war über diese alles Bisherige weit übertreffende Seite ihres Ichs noch immer verwirrt: Spontane, absolut vorbehaltlose

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Vio Lou Lepelbet
Bildmaterialien: Bild für Cover (auf Coverformat zugeschnitten) in Lizenz von TK0920, "woman with a butterfly tattoo, head scarf, beautiful cosmetics", Bild Nr. 81314141 auf Adobe Stock, www.stock.adobe.com
Cover: Vio Lou Lepelbet
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2024
ISBN: 978-3-7554-7937-6

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