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Der Stein der gestohlenen Träume

Ich sah die Zeichen lange bevor ich seine Umrisse in der Dunkelheit erkennen konnte. Sanft schimmerten sie in der Luft, blähten sich auf und fielen dann wieder in sich zusammen. "Runen", dachte ich grimmig. Schon wieder jemand, der sich mit Zauberei zu verstecken gedachte und offensichtlich glaubte, für die Bewachung eines mächtigen Reliktes wie dem Traumstein würden nur magielose Dummköpfe eingesetzt. Wie unbedacht von ihm!

Ich beobachtete, wie sich die schmächtige Gestalt auf Zehenspitzen an den zwei muskulösen Männern am Fuss der Treppe vorbeischlichen. Natürlich bemerkten diese nichts von dem Dieb, denn ihre Muskeln waren das einzige, womit sie sich brüsten konnten. Sie besassen im Gegensatz zu mir weder Zauberkraft, noch Verstand.

"Blödmänner", murmelte ich und umfasste die kleine Goldkette, die ich um den Hals trug. Sie war ein Incantus, ein magisches Hilfsmittel, durch das ich meine Magie kanalisieren und verstärken konnte. Gelangweilt murmelte ich einen Zauberspruch, wie ich es schon so oft getan hatte, und erweckte damit eine ganze Reihe von Runen zum Leben. Voller Energie tanzten sie um meinen Körper, leuchteten heller als die Sterne am Nachthimmel. Jedenfalls in meinen Augen.

Ich wollte es schnell hinter mich bringen, denn wie immer würde auch dieser Dieb keine Chance gegen mich haben. Ich würde ihn einfangen, in den Kerker verfrachten und dann beim König die Belohnung für meine Dienste abholen. Und hoffentlich konnte ich dann endlich diesen öden Ort verlassen!

Mit einer flüchtigen Handbewegung schickte ich meine Magie in Richtung des Fremden. Knisternd jagte sie durch die Luft und riss den gegnerischen Verbergungszauber schon kurz darauf in tausend Stücke. Ein junger Mann erschien aus dem Nichts vor mir. Er blickte mich erschrocken an und duckte sich augenblicklich, als wollte er sich vor mir verstecken. Nur leider gab es nichts, hinter dem er sich hätte verstecken können.

"So, so", sagte ich und trat auf den Eindringling zu, während ich mit meinen Fingern wie selbstverständlich ein magisches Netz wob, um ihn bewegungsunfähig zu machen. Ich war eine erfahrene Zaubererin und wenn der junge Mann überhaupt über Magie verfügte, so war er bestimmt noch nicht sehr stark. Dennoch schienen die beiden Wachen am Eingang zu glauben, ich wäre auf ihre Hilfe angewiesen. Mit lautem Geschrei und erhobenen Schwertern stürmten sie in meine Richtung, brennend vor Tatendrang. Ich verdrehte genervt die Augen und belegte die Männer mit einem Eiszauber. Als könnte ich nicht alleine mit einem einfachen Dieb fertig werden! Sie würden mir nur bei meiner Arbeit in die Quere kommen!

Ich wandte mich wieder dem jungen Mann zu. "Und, was ist deine Ausrede dafür, dass du dich in diesem Raum befindest?", fragte ich ihn mit schiefem Blick und begann alles an den Fingern abzuzählen, was ich bisher schon so gehört hatte: "Hast dich im Schloss verlaufen? Bist du ein Schlafwandler oder hast du vielleicht dein Gedächtnis verloren? Oder … ach, ja: Bist du von einer bösen Hexe mit einem Fluch belegt worden, der dich dazu zwingt, das Relikt für sie zu stehlen?" Ich trat einen weitern Schritt auf den Eindringling zu und blickte nun drohend auf ihn hinab.

Doch der Junge – ich stellte mit Erstaunen fest, dass er wohl noch kaum zwölf Sommer alt war – starrte nur unbeeindruckt zurück.

"Der Stein gehört mir", sagte er und zuckte die Schultern als gäbe es nichts Logischeres auf der Welt. Seine Selbstsicherheit warf mich gehörig aus der Bahn und für einige Sekunden war ich mir nicht ganz sicher, was ich darauf antworten sollte.

"Ja, bestimmt", schnaubte ich schliesslich. "Und wer bist du, dass du glaubst, er gehöre dir? Der Prinz von Beatur?"

Der Junge nickte und verbeugte sich leicht in ihre Richtung. "Der Kronprinz, wenn man es genau nimmt."

Ich verdrehte ungläubig die Augen. Glaubte er wirklich, ich würde ihm das abnehmen? Ich hatte den Kronprinz schon viele Male gesehen und das hier war er ganz bestimmt nicht. Er hatte weder blondes Haar, noch braune Augen noch war er im selben Alter wie der Thronerbe. "Und du denkst, ich würde jedem dahergelaufenen Prinzen einfach so das Relikt des Königs übergeben?", fragte ich. "Das nächste Mal würde ich vorschlagen, du behauptest, du wärst König Orim höchstpersönlich. Vielleicht glaubt dir das ja jemand."

Der Junge zuckte die Schultern. "Dann bin ich eben König Orim", antwortete er ungeduldig.

Ich schlug eine Hand vor meinen Kopf. Wie konnte jemand nur so dumm sein – selbst wenn es sich nur um ein Kind handelte? Als ich wieder aufblickte, antwortete ich trocken: "Haha, sehr witzig." Ich bagann den Jungen langsam zu umrunden und berührte erneut meinen Incantus. Dann erweckte ich die Runen der Wahrheit mit leisen Worten zum Leben und legte sie über seinen Körper. Ich hatte genug von den kindischen Spielen des Eindringlings und ich wollt wissen, für wen er den Stein stehlen wollte. Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Junge in seinem Alter irgendeine Verwendung dafür haben konnte.

"Warum wolltest du den Stein stehlen?", fragte ich und wandte mich von ihm ab.

"Ich wollte den Stein nicht stehlen", antwortete der Junge und klang dabei vollkommen selbstsicher.

Ich war mir sicher, dass er lügte, doch als ich mich umdrehte, konnte ich sehen, dass die Wahrheitsrunen seinen ganzen Körper eingehüllt hatten. Genau so wie es sein sollte. Er konnte also gar nicht lügen. Doch warum hatte ich das Gefühl, dass ich etwas übersah?

"Ach nein? Was wolltest du dann?", fragte ich und musterte ihn nun eindringlicher.

Er lachte und alle meine Haare stellten sich zu Berge. Was war heute nur los mit mir? Wie konnte ich mich vor einem Rotzlöffel fürchten, der doch gerade erst seinen Windeln entwachsen war?

"Ich wollte gar nichts", antwortete der Junge. "Ich will noch immer."

Dieser kleine, vorlaute Schlingel! Glaubte er wirklich, er könnte sich aus meinen magischen Fesseln befreien? Das war noch niemals jemandem gelungen! Meine Magie war mächtiger als die eines gewöhnlichen Zauberers.

Ich schüttelte den Kopf und ging auf seine Worte nicht weiter ein. "Für wen willst du den Stein denn stehlen?", fragte ich ihn mit zunehmender Ungeduld.

"Für das Volk", antwortete er. "Das Volk, dem dein ach so guter König die Träume gestohlen und in diesem Stein eingeschlossen hat!"

Nun, man konnte nicht sagen, der König hätte die Träume seiner Untertanen nicht in dem magischen Relikt eingeschlossen, das ich bewachte. Doch er hatte sie bestimmt nicht gestohlen. Sie hatten sie ihm freiwillig gegeben, als er darum gebeten hatte. Ein Krieg tobte an den Landesgrenzen und zudem stand ein Bürgerkrieg kurz bevor. Jeder musste ein Opfer bringen, wenn er Frieden wollte. Auch das Volk.

"Nun, freiwillig war das bestimmt nicht. Oder was glaubst du, warum ein Bürgerkrieg droht, wenn doch der König so perfekt ist?", fragte der Junge plötzlich, ohne dass ich ihn etwas gefragt hätte und nun wurde es mir so richtig unheimlich. "Ich denke, du weisst ganz genau, dass der König die Träume nur für seine eigenen Machtelüste missbraucht."

"Liest er meine Gedanken?", dachte ich entsezt, doch er antwortete nicht darauf. Vielleicht war es nur Zufall, dass er im gleichen Augenblick das Gleiche gedacht hatte wie ich? Vielleicht hatte man mir meine Gedanken ausnahmsweise einmal auf meinem Gesicht ablesen können? Dennoch begann ich sicherheitshalber noch eine weitere magische Barriere um seinen Körper herum aufzubauen.

"Weisst du, wie die Menschen dich nennen?", fragte der Junge mich unbeeindruckt.

Ich knurrte. Nein, ich wusste es nicht und ich wollte es auch nicht wissen. Ich hatte für dieses Land vieles geopfert. Zu vieles vielleicht und das war mein Dank? Hier das Kindermädchen zu spielen für einen kleinen Dieb?

Aber natürlich interessierte das den Jungen reichlich wenig. "Sie nennen dich 'Des Königs Schosshündchen' ."

"Bezaubernd", murmelte ich und dachte bei mir, warum ich bloss zugestimmt hatte, das Relikt zu bewachen. Ich war eine Kriegerin. Und sicher kein Schosshündchen! Andererseits hatte ich nicht wirklich eine Wahl gehabt. Der König hatte es mir befohlen und ich musste seinem Willen gehorchen. "Vielleicht ist der Name, gar nicht so falsch", dachte ich grimmig bei mir. Aber jetzt war es zu spät dafür, meine Entscheidungen zu bereuen und ich hatte auch keine Lust dazu. Der König hatte mich immerhin zur mächtigsten Schlossmagierin ernannt. Das war eine Ehre und es war nur logisch, dass ich dafür auch einen Preis hatte bezahlen müssen.

Ich musterte den Jungen nachdenklich. Für den Einbruch würde der König ihn bestimmt hinrichten lassen, insbesondere, wenn er seine freche Zunge nicht besser im Griff hatte. Ich nahm erneut meine Magie Zuhilfe und versuchte, den Jungen die Treppe hinuntergleiten zu lassen. Doch er bewegte sich nicht. Ganz im Gegenteil schien er an Ort und Stelle festzukleben.

Ich seufzte. "Ok, was ist jetzt lost?", fragte ich ihn verärgert. "Was genau tust du?"

"Ich neutralisiere deinen Zauber", antwortete er und mein Mund klappte nach unten. Und erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, warum ich schon die ganze Zeit über diese Ruhelosigkeit in mir gespürt hatte. Ganz fein, beinahe unsichtbar, schimmerten weitere Runen des Verbergens in der Luft, die nicht die meinen waren. Ich sog scharf die Luft ein und ehe ich mich versah, fiel meine Magie in sich zusammen und ein Netz legte sich über meinen Körper. Meine Muskeln versteiften sich und ich war plötzlich diejenige, die bewegungsunfähig war.

"Hochmut, meine Liebe, kommt vor dem Fall", sagte nun eine brüchige Stimme und ein alter Mann beugte sich über mich. Sein weisses Haar wirkte ungepflegt, doch in seinen klugen blauen Augen leuchtete es lebendig. "Ich war die ganze Zeit verborgen und habe dir eine Illusion gezeigt, meine Liebe." Er lachte. "Weisst du nun, wer ich bin?"

Ich knurrte. Ja, natürlich wusste ich es, jetzt, da er seine Tarnung hatte fallen lassen und ich sein wahres Gesicht sehen konnte. "Meister Rhue", seufzte ich. "Ich hätte es wissen müssen!" Meister Rhue war mein alter Lehrer und im Augenblick der Staatsfeind Nummer eins. Denn er war der Anführer der Rebellen und hatte mindestens schon zwei Mal versucht, den König zu ermorden.

Meister Rhue lächelte mich traurig an. "Du hast dich damals für die falsche Seite entschieden, meine Liebe", murmelte er in mein Ohr. "Du hättest besser mit mir kommen sollen" Dann streckte er seinen Arm aus und der Traumstein schwebte langsam in seine Hand, während ich hilflos zusehen musste.

Ich antwortete nicht aus seine Worte, denn tief in meinem Innern wusste ich, dass er recht hatte. Und spürte ich, ganz plötzlich, wie die Panik in mir hochstieg. Wenn er den Traumstein stahl, dann war ich verloren. Der König war bekannt für seine Brutalität, seine Erbarmungslosigkeit. Er würde es mir nicht verzeihen, bei dieser Aufgabe versagt zu haben. "Töte mich", flüsterte ich und blickte meinen ehemaligen Lehrer flehend an. "Der König … Bitte."

Der alte Mann musterte mich unsicher. "Bist du dir sicher?", fragte er mich und ich nickte.

"Irgendeine Chance, dass du dich doch noch auf die Seite der Rebellen schlagen könntest?", fragte er.

Ich lächelte über seinen Vorschlag. "Ich habe dein Vertrauen so oft missbraucht und du zögerst dennoch, mich zu töten?"

"Ja. Ich habe die Hoffnung niemals aufgegeben, dass du doch noch zu den Guten wechseln könntest."

Ich schüttelte den Kopf. "Dafür ist es zu spät. Ich habe dem König den Bluteid geschworen, als er mich vor zwei Wochen zur höchsten Schlossmagierin kürte. Ich kann ihn nicht betrügen, selbst wenn ich wollte."

Der alte Zauberer musterte mich mit einem tiefen Seufzer. "Das ist bedauerlich. Ich habe dir immer gesagt, dass du das nicht tun sollst, weil der Blutschwur jeden zu einer Sklavin macht."

"Ich weiss", antwortete ich. "Du hast mir vieles gesagt, auf das ich hätte hören sollen und wenn ich meinen Leben noch einmal leben könnte, so würde ich es tun." Ich schloss die Augen. "Tu es."

Ich spürte die Augen meines Lehrers auf mir, konnte das Zittern seiner Hände fühlen. "Auf Wiedersehen, Ivy", flüsterte er und ich konnte hören, wie er seinen Arm ausstreckte um die Runen des Todes zu flechten.

Ich spürte keine Panik, keine Angst. Nur ein leichtes Bedauern. Dann überwältigte mich die Dunkelheit.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 05.06.2016

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