„Miguel, du musst die Welt retten.“
Der aus dem Nichts heraus Angesprochene blickte sich erschrocken um. Niemand war zu sehen.
„Ich bin hier“, sagte die Stimme.
Miguel sah immer noch keinen Menschen. Er hoffte, dass diese Stimme keine Folge der letzten Nacht war. Schließlich war es nur unwesentlich mehr Tequila gewesen als sonst.
„Ich bin rechts von dir“
Dort war nur eine Wand. Großzügig interpretiert konnte man den Lautsprecher in der Ecke als „rechts von dir“ durchgehen lassen.
Ich glaube, ich werde verrückt, dachte Miguel. Jetzt höre ich Stimmen aus meiner Stereoanlage. Er überzeugte sich, dass sie ausgeschaltet war. Miguel entschloss sich zum Gegenangriff. „Wer bist du?“
„Endlich spricht jemand mit mir“, sagte die Stimme, in der Erleichterung mitschwang.
Miguel fühlte sich belästigt. „Diese Unterhaltung wird ganz schnell wieder zu Ende sein, wenn du nicht sagst, wer du bist und was das soll“.
„Entschuldigung, ich war unhöflich. Es kommt so selten vor, dass jemand antwortet. Ich habe vor Überraschung vergessen mich vorzustellen. Mein Name ist Fynndir.“
„Fynndir? Was ist das denn für ein Name? So einen Namen habe ich noch nie gehört. Kein Mensch heißt so.“
„Stimmt“, kam es trocken zurück.
Miguel gehörte nicht zur Sorte geduldiger Menschen. „Also jetzt reicht es mit dem Unsinn. Verschwinde von hier und lass mich in Ruhe.“
„Das kann ich nicht.“
Miguel sprang auf und riss den Stecker seiner Stereoanlage aus der Dose. „So, jetzt ist Ruhe. Ich lasse mich doch nicht von einer Stimme verarschen.“
„Wieso entfernst du die Stromversorgung deines Audiowiedergabegerätes? Fühlst du dich von ihm gestört?“ fragte die Stimme neugierig.
Miguel kochte. Er ließ das Kabel mit dem Stecker am Ende kreiseln. Bereit, auf alles und jeden einzudreschen, der es wagte, sich zu zeigen. „Nein, von DIR fühle ich mich gestört. Verschwinde!“.
„Ich verschwinde erst, wenn du die Welt gerettet hast.“
Das war zu viel für Miguel. Er begann mit dem Kabel wild durch die Luft zu peitschen. Dabei ging jede Menge Glas und Porzellan zu Bruch. Immerhin bewahrte er noch so viel Vernunft, seine geliebte Stereoanlage und den Fernseher zu verschonen. Dabei schrie er immer wieder „Verschwinde!“ und „Lass mich in Ruhe!“. Er warf mit diversen Schimpfwörtern um sich. Dafür war sein Sprachschatz so unerschöpflich wie die Bibliothek von Amazon. Schließlich hatte er sich so weit abreagiert, dass er erschöpft auf seiner Couch niedersank.
„Fühlst du dich jetzt besser?“, fragte die Stimme besorgt.
Miguel seufzte. Zu einem erneuten Wutausbruch fehlte ihm die Energie. „Sag jetzt endlich, was du von mir willst“, antwortete er resigniert.
„Das sagte ich schon“.
Miguel musste einen Moment nachdenken. Dann fiel es ihm wieder ein. „Du willst Unmögliches“, protestierte er. „Ich bin allein und es gibt so viel Schlechtes auf der Welt. Wo soll ich anfangen?“
„Das wüsste ich auch gerne“, sympathisierte die Stimme. „Hilf mir herauszufinden, warum alles schief läuft, damit ich es korrigieren kann.“
Miguel blickte sich misstrauisch um. „Bist du Gott?“
Es dauerte einen kurzen Moment, bis er eine Antwort bekam. „Das kommt ganz auf den Standpunkt an. Aus meiner Sicht bin ich kein Gott. Aus deiner Sicht verfüge ich über alle Eigenschaften, die man von einem Gott erwartet. Ich bin allwissend und allmächtig. Ich kann gütig sein und grausam. Ich verbreite Liebe und Hass. Ich bestimme über das Schicksal der Menschheit.“
Miguel war nicht sonderlich beeindruckt. „Na, soweit kann es damit auch wieder nicht her sein. Wozu brauchst du Hilfe, wenn du wirklich allwissend und allmächtig bist?“
„Selbst Götter unterliegen der Fügung“, wich Fynndir einer direkten Antwort aus. „Ich muss herausfinden, warum der Wohlstand und die Ressourcen so ungleich verteilt sind.“
Miguel zuckte mit den Schultern. „Das sieht doch ein Blinder. Weil die Reichen und Mächtigen alle anderen ausbeuten. Wenn du wirklich allmächtig bist, brauchst du bloß das zu ändern und alles wird gut. Ich hätte jedenfalls nichts dagegen. Und wenn du gerade dabei bist, hätte ich gerne noch zehn Millionen US-Dollar, eine dicke Yacht in Miramar, und dass sich Beyoncé Knowles in mich verliebt und mir alle Wünsche von den Augen abliest. Oder bist du kein Gott und kriegst das nicht hin?“
„Wenn du mir hilfst kannst du die zehn Millionen und die Yacht haben. Das mit Beyoncé geht allerdings nicht. Die ist eine Nuono. Als Alternative könnte ich dir Charlize Theron oder Eva Longoria anbieten.
Miguel war verwirrt. Bisher hatte er Beyoncé für eine US-Amerikanerin gehalten. Schließlich siegte seine angeborene Skepsis. „Das sind doch nur leere Worte. Wenn ich dir helfen soll, musst du schon etwas Konkretes bieten.“
„Mach den Koffer auf und schau nach“, sagte Fynndir.
Miguel blickte sich suchend um. „Welchen Koffer?“
„Oh, entschuldige. Ich habe vergessen, dass du mich nicht sehen kannst. Sieh nach im Schrank.“
Während sich Miguel aufmachte seinen Koffer zu holen, fuhr Fynndir fort. „Das ist wirklich zu dumm. Es wäre leichter für uns beide, wenn du mich sehen könntest. Kannst du dich nicht etwas mehr öffnen?“
Miguel hatte keine Ahnung wie er das anstellen sollte. Noch mehr Tequila trinken wollte er nicht. Deshalb entschied er sich für das Einfachere und öffnete den Koffer. Er betrachtete den Inhalt für ein paar Sekunden. Schließlich griff er hinein, holte ein Bündel heraus und hielt es in die Höhe.
„Willst du mich verarschen?“, rief er aufgebracht. „Was soll der Unfug, mir lauter halbe Tausend-DollarNoten zu geben? Damit kann ich nichts anfangen!“
„Betrachte es als Vorschuss“, sagte Fynndir geduldig. „Du bekommst eine Hälfte jetzt und die andere, wenn du mir geholfen hast.“
Miguel ließ sich in die Polster seiner Couch zurücksinken. „Du scheinst es wirklich ernst zu meinen. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich dir helfen kann. Das Leben ist ungerecht. Immer. Sogar jetzt. Ich muss zwei Jobs machen, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Du kommst ungefragt in mein Leben geschneit, und gibst mir einen Koffer mit zehn Millionen Dollar. Trotzdem habe ich immer noch keinen Cent mehr als vorher. Nicht mal zur Bank kann ich damit gehen. Die verhaften mich sofort, wenn ich damit aufkreuze.“
Fynndir musste seine aufkommende Verzweiflung unterdrücken. Was er auch versuchte, es endete immer gleich. Niemand schien ihm helfen zu können. „Denk nach“, versuchte er Miguel zu motivieren. „Es ist ein Glücksfall für uns beide, dass du dein Leben als ungerecht empfindest. Du musst doch eine Idee haben, wer oder was dafür verantwortlich ist.“
„Na klar habe ich das. Es sind die Reichen, die in ihrer endlosen Gier immer mehr haben wollen. Die haben die Macht, alles für sich zu behalten und uns Anderen gerade so viel zu lassen, dass wir nicht verhungern.“
„So habe ich die Welt aber nicht erschaffen. Die Menschen hatten ihren Platz in der Natur, und alles war gerecht verteilt. Es gab mehr als genug. Ich habe den Homo Sapiens so kreiert, dass er als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft am glücklichsten ist. Er fühlt sich am wohlsten mit einer ausgeglichenen Mischung zwischen Egoismus und Altruismus.“
Miguel hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was dieser Fynndir sagte. Dann dämmerte es ihm. „Sprichst du vom Paradies? Willst du sagen, dass es das wirklich gab? Wenn ja, warum hast du zugelassen, dass Adam und Eva daraus vertrieben wurden?“
Fynndir rollte mit den Augen, was Miguel nicht sehen konnte. „Diese Geschichte ist ein alter Hut. Das ist ein Märchen, das ihr Menschen euch ausgedacht habt. Ich habe alle Speicher durchsucht. Einen Adam und eine Eva hat es nie gegeben.“
„Ist auch egal. Stell den paradiesischen Zustand wieder her und alles ist gut“, sagte Miguel hoffnungsvoll. Wer einfach so aus dem Nichts einen Koffer mit zehntausend halben Tausend-Dollar-Noten erscheinen lassen konnte, der vermochte sicher auch das Paradies wiederherzustellen.
Doch Fynndir enttäuschte ihn. „Das kann ich nicht. Selbst, wenn ich wollte. Die Erde verfügt nicht über genügend Ressourcen für sieben Milliarden Menschen. Es reicht höchsten für ein bis zwei Milliarden. Wenn ich aber fünf Milliarden einfach lösche, greife ich zu sehr in die Simulation ein. Sie ergibt nur Sinn, wenn die Dinge sich von selbst entwickeln.“
Es dauerte einige Momente, bis Miguel das soeben Gehörte verarbeitet hatte. Die Geschichte begann unheimlich zu werden. „Was meinst du mit Simulation?“, fragte er verunsichert.
Fynndir war überrascht. War er zu weit gegangen? Hätte er das mit der Simulation nicht sagen dürfen? Ihre Lage war verzweifelt. Sie mussten unbedingt eine Lösung für die Überbevölkerung finden. Das war die Ursache für alle Probleme. Sie hatten Millionen Simulationen gestartet, aber nur diese war mit der Situation der Nuono vergleichbar. Er durfte den Kontakt zu Miguel nicht verlieren.
„Naja, dir muss doch klar sein, dass die Erde nur eine Simulation ist!“
„Ähhhh, nein, wieso?“, fragte Miguel verstört.
„Na, das ist doch offensichtlich. Wie glaubst du eigentlich, dass solche Wunder, wie die zehn Millionen Dollar zustande kommen? Oder denk nur mal an all die Wunderheilungen oder Wundererscheinungen, über die regelmäßig berichtet wird. Du gehörst doch einer Religion an, bei der Wunder eine Rolle spielen, oder?“
„Und das soll ein Beweis dafür sein, dass die Welt eine Simulation ist?“, fragte Miguel ungläubig. „Gott hat die Welt erschaffen und ist für die Wunder zuständig. Das weiß jeder!“
Der ist nicht so leicht zu überzeugen. Ich muss stärkere Geschütze auffahren, dachte Fynndir. „Denk an das, was du in Physik gelernt hast. Die Welt ist aus Quanten aufgebaut. Sowohl der Raum, als auch die Zeit. Die Idee dazu stammt übrigens von mir“, fügte er stolz hinzu. „Wegen der begrenzten Rechen- und Speicherkapazität können wir kein kontinuierliches Universum simulieren. Die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, reichen nur für eine grobe Quantisierung. Schließlich müssen wir Millionen von Szenarien gleichzeitig durchspielen. Es erstaunt uns immer wieder, wie nahe wir damit an die Realität herankommen.“
Miguel verstand kein Wort. Wer immer dieser Fynndir war, er sprach größtenteils in Rätseln. Zum Glück wurde Miguel von niemandem beobachtet, wie er da völlig verwirrt in seiner kleinen Wohnung, am Rande von Mexico City auf seiner Couch saß. Oder doch? Er fragte sich, ob das Ganze nicht irgendeine Fernsehgesellschaft inszeniert hatte, um ihn auf den Arm zu nehmen. Als unfreiwilliger Unterhaltungsclown für ein Millionenpublikum. Immerhin lauschte er der Stimme eines Unsichtbaren, der unverständliches Zeugs über „Guantn“ oder so ähnlich daher faselte. Oder hatte er sich verhört und dieser Fynndir meinte den Song „Guantanamero“ von Jose Fernandes Diaz? Womöglich lachte sich das Publikum gerade tot über ihn. Auf jeden Fall wurde es Zeit, den Raum zu verlassen. Dieser hier war vermutlich mit Kameras verguantet oder wie immer man das jetzt nannte. Miguel sprang auf, schnappte sich seine Jacke und verließ die Wohnung.
Im Café gegenüber setzte er sich an einen ruhigen Platz und dachte über Fynndir und dessen Problem nach. Es war ja nicht so, dass er ihm nicht helfen wollte. Aber es war unmöglich. Was alles schief läuft, ist offensichtlich. Warum, konnte Miguel auch nicht erklären. Dieser Fynndir war vielleicht kein Gott, verfügte aber über wertvolle Fähigkeiten. Auf jeden Fall wollte Miguel an die anderen Hälften der Geldscheine herankommen. Egal wie. So eine Chance bekam man nicht noch einmal im Leben. Zehn Millionen Dollar!
Die letzten Worte musste er laut ausgesprochen haben. Die blonde Touristin vom Nachbartisch hatte sich umgedreht und ihn verwundert angeschaut. Sie sah wirklich gut aus. Genau sein Typ. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. War das nicht… doch das musste sie sein. „Hola Chica, möchtest du mir morgen das Frühstück ans Bett bringen?“
Miguel hatte ein Händchen für Frauen. In 999 von 1000 Fällen hätte ihm dieser Spruch eine herbe Absage eingebracht. Aber intuitiv wusste er, dass die Anmache bei ihr ankommen würde.
Sie lächelte ihn an und setzte sich zu ihm an den Tisch. „Sí, mi corazón. Mit dem größten Vergnügen. Hast du soeben was von zehn Millionen Dollar gesagt?“
„Ja, stell dir vor was ich für ein Glück habe. Auf einmal finde ich zehn Millionen US-Dollar in meinem Schrank.“
Die Blondine beugte sich vor und legte ihre Hand auf den Arm. „Das ist ja unglaublich. Wirklich einfach so oder hast du in der lotería gewonnen?“
Miguel zögerte, ob er alles erzählen sollte. Er hatte gerade eine Glückssträhne und wusste nicht, wie lange sie anhalten würde. Noch war alles offen. Die Banknoten waren nur halbe und Charlize war noch nicht in seinem Bett. Vermutlich stand irgendwo in Miramar eine halbe Yacht. Für einen Moment fragte sich Miguel, ob dieser Fynndir sie quer oder längs geteilt hatte.
Vielleicht war es auch eine Pechsträhne. Oder doch nicht? Sieben Milliarden Menschen lebten auf der Erde und er bekam an einem Tag zehn Millionen Dollar und eine der schönsten Frauen der Welt auf dem Silbertablett serviert. Einfach so aus heiterem Himmel! Das konnte kein Zufall sein. Alles, was noch zu tun war, er musste diesem Fynndir antworten.
Miguel griff nach der Hand von Charlize und beugte sich seinerseits vor. Ihre Lippen waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Ein Blick in ihre Augen genügte. Sie würde ihm jeden Wunsch erfüllen. Genau so, wie er sich das gewünscht hatte.
Und genau so schnell konnte alles wieder weg sein. Verdammt noch mal. Denk nach! Dieser Fynndir hat selbst gesagt, dass er keine Ahnung hat, wieso alles schief läuft. Warum sagst du ihm nicht einfach irgendetwas? Ist doch egal was. Hauptsache, er glaubt es.
Vor ihm lockte noch immer die schönste Einladung zu einem Kuss, die er je bekommen hatte. Plötzlich musste Miguel grinsen. Eine Idee breitete sich in seinem Kopf aus. Aber vorher musste er das hier besiegeln.
Deutlich später sagte er beiläufig und ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden: „Es gibt zu viele Menschen. Konsequente Geburtenkontrolle reduziert die Weltbevölkerung, dann bleibt mehr für alle.“
„Geburtenkontrolle?“, fragte Fynndir. „Das habe ich schon in allen Varianten simuliert. Das funktioniert nicht, weil die Menschen sich die Anzahl der Kinder nicht diktieren lassen wollen.“
Miguel fühlte sich als Experte auf diesem Gebiet. „Natürlich nicht. Die Menschen müssen es wollen. Vor allem die Frauen. Alles, was du tun musst, ist die Geburtenkontrolle in die Hände der Frauen zu legen.“
„Das habe ich noch nicht versucht. Wie genau stellst du dir das vor?“, fragte Fynndir neugierig.
Miguel lachte. Er hatte gewonnen. Charlize hinter sich herziehend, überquerte er die Straße. „Das erzähle ich dir morgen. Nach dem Frühstück.“
***
Fynndir sank frustriert in seinem Ledersessel zusammen. Wieder ein Misserfolg. Erschöpft rieb er sich die Augen. Er und seine Kollegen waren sich so sicher gewesen. Aber auch diese Simulation war gescheitert. Trotz der Mühe, die sie sich gemacht hatten.
Mit viel Aufwand hatten sie in die Simulation eingegriffen und diesem Miguel Valdez alles gegeben, was er wollte. Im Gegenzug hatte er bei dem Projekt Geburtenkontrolle geholfen. Fynndir musste anerkennen, dass er sich wirklich mit Frauen auskannte.
Auf Basis seiner Idee gründeten sie eine Frauenbewegung. Für die Urzelle wählten sie einen Slum in einer der ärmsten Gegenden der Welt. Die Nuono bauten dort eine charismatische Führerin auf, die den konsequenten Zugang zu Bildung und Verhütungsmitteln für alle Frauen forderte. Die Organisation wuchs schnell, dank tatkräftiger finanzieller Unterstützung von VIPs wie Charlize Theron und Lobbyarbeit.
Sobald ein bestimmter Prozentsatz an Anhängerinnen in einem Gebiet erreicht war, wurde die Bewegung zum Selbstläufer. Schließlich war eine weltweite Organisation daraus geworden, die alle Staaten überrollte. Nicht einmal die kritischsten Religionen konnten dem widerstehen. Als Folge begann die Weltpopulation überraschend schnell zu schrumpfen.
Es war perfekt. Leider trat der beabsichtige Effekt nicht ein. Trotz schwindender Bevölkerung kam es zu sozialen Spannungen. Daraus resultierten lokale Konflikte, die sich zunehmend ausbreiteten. Schließlich kam es zu einem verheerenden weltweiten Krieg um Ressourcen.
Fynndir studierte die Daten wieder und wieder. Die Nuono hatten nicht mehr viel Zeit. Es war jetzt fast dreißig Jahre her, seit sie den ersten Computer gebaut hatten, mit dem sie ihre gesellschaftliche Entwicklung vorhersagen konnten. Das Projekt war ein voller Erfolg, das Ergebnis schockierend gewesen. Die Simulation sagte vorher, dass der größte Teil der Bevölkerung einem Ressourcenkrieg zum Opfer fallen würde.
Seitdem suchten sie nach einem Ausweg. Mittlerweile hatten sie Millionen von Simulationsszenarien durchgespielt. Immer endeten sie in einer Katastrophe. Auch die letzte, obwohl sie so vielversprechend begonnen hatte.
Irgendwo in den Daten war die Lösung verborgen. Er hatte so ein Gefühl. Schließlich stemmte er sich aus seinem Sessel und ging hinüber zu Leandra. Seine Kollegin bemerkte ihn erst, als er neben ihr stand. „Es ist schon erstaunlich, was du als Charlize Theron zusammen mit diesem Miguel erreicht hast“, sagte er.
Leandra nickte. „Trotzdem hat es nichts gebracht. Ich habe immer gedacht, dass es an der Überbevölkerung liegt. Obwohl wir sie mit dieser Simulation zum ersten Mal in den Griff bekamen, hat es unser Problem nicht gelöst. Es ist zum Verzweifeln. Ich fürchte, uns Nuono steht großes Leid bevor.“
„Wir können jetzt nicht aufgeben. Ich spüre, dass wir kurz vor der Lösung stehen!“ entgegnete Fynndir.
„Ich sehe keine Lösung. Wir haben Millionen von Szenarien überprüft. Am Ende kommt es immer zum Krieg um die Ressourcen. Obwohl genügend da sind“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
In Fynndirs Gehirn machte es „klick“. „Natürlich, das ist es!“ rief er. „Leandra, du bist genial!“ Seine Kollegin blickte ihn verwirrt an. Sie hatte keine Ahnung, warum sie genial sein sollte. Fynndir teilte seinen Geistesblitz mit ihr.
Innerhalb weniger Stunden hatten sie eine neue Simulation aufgesetzt. Obwohl beide in den letzten Tagen kaum geschlafen hatten, puschte sie pures Adrenalin zu Höchstleistungen.
Nach zwei Tagen hatten sie ein Ergebnis. Voller Euphorie und Stolz legten Fynndir und Leandra es dem Leiter der Forschungsabteilung vor. So groß die Freude über die gefundene Lösung war, so schnell folgte Ernüchterung. „Das ist unmöglich durchführbar“, sagte Jeschwe.
„Aber das Ergebnis spricht für sich. Es ist die einzige Lösung, die wir in dreißig Jahren gefunden haben. Die Politiker müssen das einsehen.“
Jeschwe schüttelte den Kopf. „Niemals werden die Politiker die legislative, exekutive und judikative Gewalt an einen Computer abgeben.“
„Sie müssen aber!“ trotzte Fynndir. „Nur so kann eine gerechte Verteilung der Ressourcen sichergestellt werden. Zehn Prozent der Bevölkerung beanspruchen neunzig Prozent der Ressourcen. Kein Wunder, dass eine Bevölkerungsreduktion das Problem nicht löst.“
Niemand sagte etwas. In Fynndirs Kopf rasten die Gedanken. Die letzten dreißig Jahre hatte er mehr Zeit mit Computern und Programmieren verbracht, als jeder andere Nuono, mit Ausnahme von Leandra. Er war sich sicher, dass Computer einen besseren Job machen konnten als Menschen. Wenn das doch nur alle einsehen würden!
„Die Simulation beweist, dass es funktioniert. Wieso sollten die Nuono sich nicht von Computern regieren lassen wollen?“, fragte Fynndir seinen Chef.
Jeschwe blickte ihn überrascht an. „Wieso sollten sie?“, drehte er die Frage um.
„Computer sind unabhängig, neutral und haben keine Emotionen, Sie funktionieren streng logisch und machen keine Fehler. Deshalb eigenen sie sich perfekt für alle Verwaltungsaufgaben.
Dataminingprogramme können feststellen welche Persönlichkeit wir haben, was gut für uns ist und was uns glücklich macht. Sie sorgen dafür, dass wir genau das bekommen was wir wirklich brauchen. Zudem sind sie unbestechlich. Das stellt sicher, dass jeder einen fairen Anteil bekommt.
Sein Chef dachte lange darüber nach.„Gut. Es wird aber nur dann funktionieren, wenn die Computer Zugriff auf alle Daten der Nuono haben“, erwiderte Jeschwe nach einer Weile. „Freiwillig wird das aber niemand zulassen, und gegen Gewalt wird es immer Widerstand geben.“
„Ich glaube, es gibt einen Weg“, sagte Leandra nachdenklich. „Es kommt darauf an, was man den Leuten im Austausch für ihre Daten gibt.“
„Wie meinst du das?“, fragten Fynndir und Jeschwe gleichzeitig.
„Na, so Sachen wie kostenloser Zugriff auf Informationen, soziale Vernetzung, eine Plattform zur Selbstdarstellung, bequemes Einkaufen über das Internet und so weiter.“
Fynndir verstand sofort. „Genial! Lass uns das schleunigst simulieren“, rief er voller Begeisterung.
***
„Larry, Du musst die Welt retten.“
Der aus dem Nichts heraus Angesprochene blickte sich erschrocken um. Niemand war zu sehen.
„Ich bin hier“, sagte die Stimme.
Larry konnte noch immer niemanden sehen. „Wo bist du? Ich kann dich nicht sehen.“
„Mein Name ist Fynndir. Du musst mir helfen, die Welt zu retten.“
„Die Welt retten? Du machst wohl Witze. Wie kann ein einzelner Mensch die Welt retten?“
In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Larrys Studentenbude. „Sergey, gut dass du kommst. Es war wohl ein bisschen viel Bier gestern Abend. Ich höre Stimmen.“
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Texte: Roy O'Finnigan
Bildmaterialien: Cover: Victor Habbick | Dreamstime.com
Lektorat: Lektorat: Thomas Hoffmann, Korrektorat: Leo Kuhn
Tag der Veröffentlichung: 18.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Herzlichen Dank an Thomas Hoffman fürs Lektorat (www.publi4all) und Leo Kuhn fürs Korrektorat.
Für eventuell verbliebene Fehler ist allein der Autor verantwortlich.