Der kalte Schnee umschließt meine nackten Füße. So schnell ich kann, laufe ich durch den Wald, meinen Verfolger hinter mir. Ein Geräusch, ähnlich dem zischenden Wind, ist zu hören. Es ist der Laut seiner rasenden Geschwindigkeit. Mein keuchender Atem gefriert und wandelt sich in weißen Nebel, der langsam zum Nachthimmel emporsteigt. Meine Muskeln schmerzen, meine von der Kälte gepeinigte Lunge brennt und der durch den Schnee nass gewordene Saum meines langen schwarzen Kleides schlägt um meine Beine. Trotz allem sporne ich mich an noch schneller zu laufen. Ich darf nicht verlieren. Denn wenn er mich fängt, gehöre ich ihm. Plötzlich schlagen meine Füße gegen einen Baumstamm, über den ich gerade herüberspringen will und ich lande mit einem dumpfen Aufprall im Schnee. Weinend drehe ich mich auf den Rücken. Er hätte früher oder später sowieso gewonnen. Selbst wenn nicht, hätte er einen Weg gefunden mich mit zu nehmen. Weg von meiner egoistischen Familie, die mich aus Furcht und Feigheit ihm überlassen hat. Weg von meinem Dorf, das mich aus purem Überlebenstrieb hinaus in die erbarmungslosen Hände des Winters warf. Alles was mir bleibt, ist die winzige Hoffnung, dass er es sich anders überlegt. Doch diese erlischt, als ich aus dem Augenwinkel sehe, wie er sich nähert. Elegant kommt er auf mich zu. Sein silbernes Fell glänzt im Mondlicht und seine schlitzförmigen Pupillen sehen mir geradewegs in meine Augen. Als würde er meine Gedanken lesen, um zu prüfen, dass ich nicht noch einmal versuchen werde weg zu laufen. Erschöpft drehe ich meinen Kopf in Richtung des Sternenhimmels. Wenn ich jetzt darüber nach denke ist es beinahe ironisch. Immerhin kenne ich nicht einmal seinen Namen. Den Namen des Geisterwolfs, der alle hundert Jahre zu uns kommt, um sich eine Braut zu erwählen. Irgendwie verstehe ich die anderen Leute aus dem Dorf ein bisschen. Sogar meine Eltern, die ein Kind geopfert haben, sodass sie die anderen fünf retten können. Während ich in Gedanken versunken war, hat sich der Wolf mir bis auf einen Fuß Entfernung genähert. Fast schon nachdenklich sieht er mich an. Dann tut er etwas, was ich von allen möglichen Dingen, die jetzt passieren könnten, am aller wenigsten erwartet habe. Er schleckt mir mit seiner feuchten Zunge quer über das Gesicht. Erschrocken zucke ich zusammen und wische mir aus einer Gewohnheit, die ich unserem Nachbarshund zu verdanken habe, den Sabber weg. Das spornt den Wolf offensichtlich nur noch mehr an, denn er fängt jetzt an, auch noch meine Finger abzuschlecken. Ich fühle mich, als wäre mir ein großes Gewicht von den Schultern genommen worden. Dieser Wolf scheint nämlich anders zu sein als er in den Gruselgeschichten für Kinder beschrieben wird. Lächelnd vergrabe ich meine Hände in seinem weichen Fell und schmiege mich an ihn. Offensichtlich können auch Geisterwölfe warm sein. Leicht schubst mich das große Tier mit der Nase an. Ich habe das Gefühl, er möchte, dass ich auf seinen Rücken steige. Als er sich dann auch noch hinunter beugt, bin ich mir sicher und ziehe mich an seinem Fell hinauf. Sobald ich gut sitze, läuft er auf einmal los, sodass ich fast sofort wieder heruntergefallen wäre, doch ich kann mich noch halten. Fest klammere ich mich an seinen Schultern fest, während er durch den Wald läuft. Der Wind pfeift mir in den Ohren. Durch mein dünnes Kleid bin ich auch kaum vor der Kälte geschützt, deshalb schmiege ich mich noch enger an ihn und schließe dann meine Augen. Ich weiß nicht wie lange er noch freundlich zu mir sein wird, aber im Moment genieße ich es einfach. Mit einem Ruck bleibt er plötzlich stehen und als ich die Augen öffne, sehe ich, dass wir tatsächlich vor einer gemütlichen Holzhütte gehalten haben, die mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung steht. Überrascht lasse ich mich von dem Rücken des Wolfs gleiten und gehe einen Schritt auf das Häuschen zu. Es ist bezaubernd. Zögerlich lege ich meine rechte Hand an die Holztür. Hier soll ich also von nun an leben? Und wie hat der Wolf die Hütte überhaupt gebaut? In Gedanken versunken drehe ich mich wieder zu ihm um und blicke in zwei eisblaue Wolfsaugen.
In einem menschlichen Gesicht.
Erschrocken hechte ich zurück und lande mit dem Rücken an der Holzwand der Hütte. Keine zwei Schritte vor mir steht ein großer Mann, bloß mit einem Fell um die Hüften bekleidet. Freundlich sieht er mich aus seinen Wolfsaugen an, die so merkwürdig erscheinen. Aber sie sind kaum ein Vergleich zu seinem hüftlangen silbernen Haar. Ich kann es kaum glauben. Sollte gar der Geisterwolf aus den Legenden in Wirklichkeit ein Mensch sein?! Lächelnd reicht mir der junge Mann eine blasse Hand, die ich zögerlich nehme. Dann höre ich ihn zum ersten Mal etwas sagen.
„Es tut mir Leid, sollte ich dich verschreckt haben. Aber in meiner Wolfsgestalt passe ich leider nicht in mein Heim und hier draußen wird es langsam kalt. Wollen wir nicht hineingehen?“, fragt er mich mit einer Stimme, die einem das Gefühl vermittelt, man sitze zuhause bei einem heißen Tee vor einem prasselnden Feuer, so warm ist sie. Benommen nicke ich leicht, dann zieht er mich an meiner Hand in die Hütte hinein. Tatsächlich ist sie innen genauso gemütlich wie sie von außen ausgesehen hat.
Direkt in der Mitte befindet sich eine Feuerstelle, die bereits entflammt ist und an beiden Seiten der Hütte liegen Felle zum Schlafen bereit. An der hinteren Wand steht auch noch ein Tisch auf welchem schon ein dampfender Topf voll Suppe steht. Tief atme ich den Holzgeruch ein. Der Mann, der eben noch meine Hand hielt, hat sich in eine Ecke der Hütte verzogen und steht nun mit einer Lederhose und einem schlichten Leinenhemd bekleidet vor mir.
„Gefällt es dir?“, will er zögerlich wissen. „Meine Eltern haben vorher mit mir zusammen hier gelebt, aber sie sind vor ein paar Jahren verstorben. Ich habe mein Möglichstes versucht, damit es dir gefällt, doch du kannst gern etwas ändern.“ Überwältigt kann ich nicht anders als ihn anzugrinsen und meine dann zufrieden: “Es ist wirklich fantastisch. Eindeutig mehr als ich von einem Wolf erwartet habe.“ Auf meine Aussage hin fängt er an zu strahlen. Meine Antwort freut ihn wohl.
Dann deutet er auf den Topf mit der Suppe und sieht mich fragend an. Statt einer Antwort setze ich mich im Schneidersitz neben den Tisch auf den Boden. Er lächelt mich an, daraufhin tut er uns beiden etwas von der Suppe in zwei Schüsseln und wir löffeln schweigend die leckere Mahlzeit. Nachdem ich mich satt gegessen habe, lege ich den Löffel zur Seite. Ich kann nicht anders als ihn zu betrachten. So einen schönen Menschen habe ich wirklich noch nie gesehen, auch wenn die blasse Haut ihn ein wenig schwächlich wirken lässt. Als auch er mit Essen fertig ist, sieht er mich wiederum lächelnd an. So betrachten wir uns gegenseitig eine Weile. Dann breche ich die Stille: „Übrigens, ich heiße Jarai. Und du?“
Darauf antwortet er mit dieser warmen Stimme: „Jarai, hmm. Das ist ein schöner Name. Du kannst mich Hieme nennen. Das ist einer von vielen Namen, die mir mein Vater gegeben hat. Aber ich denke jetzt ist es Zeit dir zu erzählen, was genau es mit mir auf sich hat. Schließlich musst du überrascht sein, dass anstatt eines Wolfes ich vor dir sitze. Also dann will ich beginnen zu erzählen:
Meine Familie besteht schon seit Jahrhunderten aus Gestaltwandlern mit besonderen Fähigkeiten. Doch unsere Rasse kann nur ein Kind bekommen und zwar immer einen Sohn. Deshalb bieten wir unsere Fähigkeiten im Austausch für eine Menschenfrau an. So können wir unsere Rasse erhalten. Mein Vater hat meine Mutter ebenfalls aus deinem Dorf geholt. Und, dafür möchte ich mich jetzt bereits bei dir entschuldigen, ich kann dich nicht gehen lassen, sonst wird das Geheimnis meiner Rasse enthüllt. Das kann ich nicht verantworten.“
Entschuldigend sieht er mich an. Doch ich kann nicht anders als ihn an zu lächeln. Selbst nachdem er mir das jetzt enthüllt hat, kann ich ihn nicht hassen, denn ich habe diesen scheuen jungen Mann bereits ins Herz geschlossen. Langsam beuge ich mich vor und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann schließe ich meine Arme um ihn. Zuerst überrascht reagiert er nicht, doch dann drückt er mich ebenfalls an sich. Leise wie ein Windhauch flüstert er mir diese Worte zu:
„Ich danke dir, Jarai.“
Ende
Texte: meins
Bildmaterialien: selbst geschossen, selbst gestaltet
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Katze Bella, die mich zu dieser Geschichte inspiriert hat und meine persönliche Miniaturwölfin darstellt