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„ Wie im richtigen Leben...“


Eine Aufzeichnung über die Erlebnisse in einem Altenheim und die daraus entstehenden Konsequenzen für einen Altenpfleger und eine Krankengymnastin. Die beiden sind überzeugt, dass es noch bessere und andere Möglichkeiten geben muss, als in einem Heim vor sich hinzuöden, auch wenn man alt ist und krank. Deshalb gründen sie 1984 einen Pflegedienst. Sie pflegen die Menschen zuhause und geben ihnen, wenn möglich, eine gewisse Selbstständigkeit zurück. Die Idee lässt sich phantastisch in die Realität umsetzen, - ABER,- lesen sie selbst:

Neue Wege – in den alten gab es zu viele Schlaglöcher


Piep – piep – piep. Telefon? Nein, hab ich ja gar nicht. Haustür? Jetzt noch? Augenreiben, überlegen – ach ja, der Wecker! Was? Ich war doch gerade erst ins Bett gegangen! Blick auf die Uhr, Licht an, Blick auf die Armbanduhr. Oh nein, es stimmte – 5:10 Uhr. Also gut, gib dir einen Schubs aus dem warmen Bett! Eine heldenhafte Tätigkeit, denn: Es war so kalt, dass die Eisblumen am Fenster blühten – und zwar innen! Andererseits war es praktisch, denn so sparte ich Heizöl und war (fast) sofort wach. Also klapperte ich ins Bad, flotte Wäsche, restaurieren, zwischendurch schnell einen Kaffee anschmeißen. Mittlerweile zeigte die Uhr 5:25 – jetzt die Tasse Kaffee genießen, aber schnell! Dann in die Jacke geschlüpft und ganz, ganz leise am Kinderzimmer vorbei bis zur Haustüre. Vorsichtig öffnen, das Auto starten und ab nach Murnau ins Altenheim auf die Pflegestation. Allmählich war ich ganz wach, denn die Heizung funktionierte erst nach 15 Kilometern. Noch alleine, genoss ich den Frieden – aber nur kurz. Meine Gedanken ließen sich nicht verdrängen: Wo verdammt war mein Mann heute Nacht wieder gewesen? Lieber Schutzengel, bitte hilf, dass die Kinder schlafen, bis das Kindermädchen kommt. Sie sind doch noch so klein. Wahrscheinlich haben sie Angst, wenn sie aufwachen und ich bin nicht da! Lieber Gott, was meinst Du, soll ich mich scheiden lassen? Kann ich das vor den Kindern verantworten? Oder mach ich alles falsch? Hoppla, pass auf, da vorne überholt jemand, Wahnsinn! Die Bahnschranke ist auch wieder zu. Zwei Minuten vor Sechs, fünf bis sieben Minuten warten, da kommst du heute wohl auch wieder nicht um den Ärger herum…

„Punkt sechs Uhr beginnt der Dienst hier! Nicht zehn Minuten nach Sechs. Hat Ihnen das vielleicht schon mal einer gesagt? Und wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja gehen, auf Ihre Stelle warten zwanzig andere!“ (Das waren noch personalüppige Zeiten…) Pfff, am liebsten wäre ich bei dem Gedanken an die Standpauke umgekehrt, heim ins warme Bett, aber es ging nicht! Schranke auf, weiter ins Heim, Gott, diese gemütliche Betonausstrahlung an diesem erwachenden Morgen! Raufgesaust, umgezogen und ab ins nächste Zimmer. „Guten Morgen, Frau Meier!“ Gesehen hat mich keiner, vor allem der Boss nicht – vielleicht gibt es heute keinen Anpfiff? „Frau Meier, raus aus den Federn, wird Zeit für ein bisschen waschen. Wie? Erst noch aufs Klo? Okay, ich mach´ dann derweil das Nebenzimmer weiter, bis Sie fertig sind. Bis gleich!“ Frau, X, Frau Y, Frau Z, halt, auf der anderen Seite noch Frau A, B und C - und weil der Chef (jeder weiß es, keiner sagt es) um 7:00 Uhr per Aufzug zu seiner Freundin fährt – „Ach Monika, sind Sie so nett? Ich muss dringend was erledigen. Machen Sie bitte noch Frau D fertig und ausnahmsweise auch Herrn K?“ Aufatmen, den Boss drückt das Gewissen. Wenn das der Fall ist, brüllt er oder er ist zahnschmerzmäßig liebenswürdig – wie heute. Die Kollegen umkreisen sich belauernd in der Küche. Wer ist heute das Opfer? Na gut, keine Semmeln bebuttern, lieber austeilen. Was soll’s? Strengt zwar die Beine mehr an, schont aber die Nerven. Und die brauche ich momentan.

Liebe Güte, warum stellen die nicht mehr Leute ein, vor allem in den „Fütterungszeiten“? „Bitte, Frau G, versuchen Sie etwas schneller zu essen, Ihre Nachbarin möchte auch noch was!“ - „Ich kann aber nicht! Warum schiebe sie mir net gleich an Schlauch ins Maul und kippe de Kaffee rei?“ – „Frau G, es war nicht böse gemeint, nur die anderen wollen ihren Kaffee halt auch noch warm!“ – „Saustall, behandelt wird ma hier wie a Stück Viech, gebt’s ma gleich a Spritze, dann bin i weg, is ja auch wahr!“ Seufz, es war gar nichts zu machen, Frau G wollte ätzend sein und das Schlimmste ist, ich versteh es auch noch. Trotzdem baute das nicht gerade auf. Letzter Versuch: „Frau G, möchten Sie nicht doch…“ – „Kipp dir dein Kaffe selber in Hals, i will nix!“ Nächste Patientin. „Frau Y, nun nehmen Sie doch bitte, bitte die sieben Tabletten ein. Sie brauchen sie!“ – „Ja, aber Fräulein, wofür sind die denn?“ – „Für alles!“ – „Aha! Aber ich mag heute wirklich keine Pillen schlucken, die sehen ja schon so ekelhaft aus!“ – „Bitte, bitte, Frau Y, Sie haben es Ihrer Tochter versprochen.“ – „Ich habe keine Tochter!“ Die Kollegin kam zum Abräumen, versuchte auch noch mal ihr Glück. Langsam wurden wir ungeduldig und mein Magen knurrte. „Frau Y, Sie nehmen jetzt ihre Tabletten!“ Verzweifelnder Blick: „Muss ich wirklich?“ – „Ja!“ – „Na gut. Dann geben Sie mal eine her…“ Frühstück abräumen, Reste in den „Schweineeimer“, ästhetische Gedanken hatten es da schwer, sich durchzusetzen. Besonders als der Frühstücksteller von Frau M an der Reihe war. Prüfen, was alles darin schwimmt. Frau M kaute genüsslich an der offenen Fettcremetube herum, die Hände makaber aber gleichmäßig braun (genau davon). Also, dachte ich es mir doch, im Teller schwimmt nicht nur Kaffee. „Frau M, schauen Sie doch bloß mal Ihre Hände an und das frische Bett!“ Wenn es nicht so geruchsintensiv wäre, müsste man glatt noch Bewunderung aufbringen für die chronologisch geordneten Exkrementenkugeln, die den Nachttisch schmücken. Frau M, harmlos erstaunt, betrachtete derweil ihre Hände: „Wieso, die sind doch ganz sauber!“ - „Nein!“ Dieser Widerspruch erzürnte sie nun doch, es erschien ihr einfach zu ungerecht. Mit einer Schnelligkeit, die einer 20-Jährigen Ehre machen würde, ergriff sie die erwähnten Kunstwerke und warf sie mir nach. Was zuviel war, war zuviel und noch dazu vor dem Frühstück. Fluchtartig verließ ich den Raum, räumte die letzten Frühstücksteller noch ab, wobei ich diesen im letzten Zimmer bei Frau F mit Fantasie erledigen musste, da sie ihr Geschirr immer zu verstecken pflegte. Mit der Zeit wusste ich, wo ich suchen muss und so holte ich den Teller unter dem Sofakissen, die Tasse aus dem Waschbecken und den Unterteller aus der Kloschüssel. Enttäuscht verfolgte Frau F meine Razzia, holte zum Zeichen ihres Unmuts den Badeschwamm aus dem Tiefkühlfach ihres Kühlschranks und bemerkte: „A scheens Stickl!“ – Und schmiss es mir nach. Auf dem Weg in die Küche begegnete mir Herr F, reisefertig angezogen, mit hoffnungsvollen Blick: „Wann bitte geht der Zug nach Rostock?“ – „Herr F, heute fährt kein Zug mehr. Ihre Fahrkarte gilt erst ab morgen.“ – „So? Dann warte ich so lange auf dem Bahnhof!“ – „Zimmer 23, mit dem Schild an der Tür ‚Rostock’, da können Sie sich so lange ausruhen.“ Zögernder Blick, ahnend, der Zug nach Rostock fährt für ihn nie mehr. Mildtätig verwischt das alte Gehirn die Tatsachen, die für ihn in der Realität nicht zu ertragen wären.

Eine unbestimmte Trauer erfasste auch manchmal mich, wenn ich die alten Fotos in seinem Zimmer betrachtete: ein herrlicher Gutshof im Hintergrund, davor die Familie zu Pferd, ein Hochzeitsbild, kleine Kinder voller Lebenslust in einer Welt, die ihre letzten Monate der Harmonie erlebte. Man ahnt, dies alles zurücklassen zu müssen, verbannt, zerstört. Man wird es zurückdrängen in den folgenden Jahren des Überlebenskampfes, man glaubt es bewältig, wenn die neue Existenz aufgebaut ist – und doch, im Alter, wenn die Seele mit ihren Empfindungen und Erinnerungen mächtiger wird und der Geist nachgibt, dann kommt wohl vieles wieder. Drängt die vergangenen Jahre beiseite und hebt diese Zeit, die schon so lange zurückliegt hervor und sie wird zur Gegenwart.

Na, endlich, auch Frühstück für uns. Auch immer das Gleiche: aufgesetzte Fröhlichkeiten, die nicht Anwesenden werden belästert, von der Arbeitsleistung bis zum Privatleben, jeder weiß von mindestens einem Skandal, fühlt sich, während er erzählt, wohl in seiner „weißen Weste“. Ich versuchte, mich in diesem Spiel zurückzuhalten, denn ich bin strafversetzt auf dieser Station, da ich es gewagt hatte, einen Beschwerdebrief über meine Chefin ins Präsidium zu schicken. Unterschrieben hatten auch meine Kolleginnen, aber am Tag der Konfrontation gewannen den Glatten, die Unfehlbaren, die nicht davor zurückschrecken, ihrem „Gegner“ mit liebenswürdigem Lächeln eine gefährliche Lüge anzuhängen, auch noch bereit sind, diese zu verzeihen, wenn man sich ändern würde? Man beginnt, an seinem Verstand zu zweifeln, alle kämpfen für die Wahrheit und doch will sie keiner wissen. Die Bedrohung wächst, alle haben Angst, ziehen sich zurück. Chefin: „Schwester Monika, sie haben doch Familie, kleine Kinder. Sie brauchen doch das Geld?! Wenn Sie sich nicht anpassen, werde ich bestätigen, dass Sie unzumutbar schlecht arbeiten – man wird Sie in der Probezeit entlassen!“ Nicht alle sind so. Manchmal erwischte ich mich aber dabei, dass ich einen alten Menschen unfreundlicher als nötig anredete, ließ mich überzeugen, dass diese Patientin aus Bosheit die Suppe verschüttet hatte – und nicht, weil sie zittrig war und fast blind. Aber dann gibt es hin und wieder einen Tag, an denen man mit Kollegen Dienst hat, die einen menschlich auch nahe stehen, die mit ähnlicher Einstellung an die Arbeit gehen. Dann ist es auch möglich, den Humor auszupacken und eine halbe Stunde zu lachen. Dann hat man Zeit, zum Beispiel für Frau M, die seit 35 Jahren im Rollstuhl sitzt. Damals, kurz vor Kriegsausbruch, hat sie geheiratet. Es war die große Liebe – verständlich, wenn man das Foto ihres Mannes über dem Bett betrachtet. Sie war beschäftigt als Porzellandekorateurin.

Bei Kriegsausbruch wurde ihr Mann natürlich eingezogen und kam nie wieder – vermisst gemeldet in Russland. Frau M meisterte ihr Leben alleine, bis sie auf dem Heimweg von einem Motorradfahrer angefahren wurde. Wirbelsäulenbruch, Kopfverletzung, Schlucklähmung – das waren die Kapitalverletzungen. Lange Zeit wurde sie zu Hause gepflegt, bis es unmöglich wurde und sie in den Ruhesitz Staffelsee übersiedelte. Frau M hatte eine sehr starke Persönlichkeit, die den Umgang mit ihr nicht immer leicht machte. Sie wusste sehr genau, was sie wollte – und erreichte es auch fast immer. Wenn man sie länger kannte und ein paar Minuten Zeit hatte, verstand man auch, was sie sagte. Die Worte kamen sehr gequetscht und monoton aus ihrem Mund. Da sie ihre Hände auch noch ein wenig gebrauchen konnte, machte sie sich oft mit einem Stift und einer Buchstabentafel verständlich. Manchmal war sie äußerst streng, wenn man irgendeine Kleinigkeit anders ausführte als sie es wollte. Doch ihr ausgeprägter Sinn für Humor ließ einem in kniffeligen Situationen immer noch Raum für Versöhnung. Ihre Augen waren herrlich blau und kullerrund und wenn sie lachte, klang das ungefähr so, als hätte man einer überdimensionalen Quietschpuppe ins Kreuz getreten. Frau M konnte dann über das ganze Gesicht strahlen und in solchen Momenten hätte ich sie am liebsten in den Arm genommen. Was heißt hätte, manchmal tat ich es und das genoss sie es für einen kurzen Moment, bis die Abwehr kam und sie schnell ablenkte. Das Essen musste man ihr pürieren, dann konnte sie es auch alleine essen und vor allem schlucken. Auch hier war sie konsequent: Lag auf dem Teller lieblos zusammen gemischtes Zeug, das am Rand noch verschmiert war, warf sie einen angeekelten Blick darauf und schaute zur Seite. Kollegen, die das zu spüren bekamen, änderten ihre Methode sehr rasch oder Frau M legte grundsätzlich weiterhin an solchen Tagen eine Fastenkur ein. Die Glocke. Zimmer Nummer 124. Frau F. Mit bleischweren Beinen und Aggression in der Seele, die sich adäquat zum Geschrei von Frau F steigerte, öffnete ich die Tür. Frau F saß zusammengefallen im Bett, hielt einen Becher in ihren stark zitternden Händen und mit der Monotonie einer Parkinsonkranken schrie sie 37mal hintereinander: „Hilfe, ich verbrenne! Schwester Monika, so helfen sie mir doch, ich verbrenne!“ – „Frau F bitte hören Sie auf, zu schreien!“ – „Aber ich verbrenne doch!“ Auf ihrem Nachttisch stapelten sich 15 bis 20 Becher. Der Inhalt: Tee von gestern Morgen, Kaffee von gestern Nachmittag, Saft von gestern Abend – und das Gleiche noch mal von heute. Im letzten schwamm eine gelbliche Flüssigkeit, sagen wir, eindeutiger Herkunft. Frau F meinte manchmal, dass sie es schaffen würde, aus der Hocke in ein winziges Becherlein zu pinkeln. Als meine Beschwichtigungsversuche fehlschlugen, wand ich mich der Bechersammlung zu, um aufzuräumen. Ein gellender Schrei ließ mich zusammenzucken. „Was ist denn jetzt schon wieder?“ – „Sie dürfen das nicht wegräumen!“ – „Doch, das steht ja schon seit gestern hier herum!“ – „Ich will das aufheben und überhaupt wollen Sie ja eh nur die schönen Becher klauen, genauso wie meinen BH!“ – „Frau F, was soll ich denn mit Ihrem BH? Schauen Sie doch her, der wäre doch viel zu groß für mich!“ Als sie weiter hartnäckig darauf bestand, ich hätte ihren BH geklaut, entgegnete ich resigniert: „Also gut, Frau F, Sie haben mich ertappt! Ich stehle mich hier so durch und eröffne dann mit diesen tollen Sachen ein Second-Hand-Shop in Murnau!“

Vor lauter Schreck vergaß sie ihr Geheule - der Verbrennungstod hat sie noch einmal verschont – und sie holte tief Luft. Genau sah sich mich an, interpretierte mein schiefes Grinsen richtig und grinste zurück. In diesem Moment verrauchte leider mein ganzer Zorn, denn wenn Frau F auf ihre meist äußerst griesgrämige Miene ein Lächeln zauberte, konnte man einfach nicht mehr widerstehen. Man hielt es schlichtweg nicht für möglich, dass dieses eben noch brüllende, schreiende, am ganzen Leib zitternde, kleine Ungeheuer ein so bezauberndes Lächeln zustande bringen würde. Als ich ihr diesbezüglich ein Kompliment machte, richtete sie sich sehr kokett in ihrem Bett auf, zupfte ihr Nachthemd zurecht und fragte, wimpernklimpernd: „Finden Sie?“ Ihre Stimmung ausnutzend, fragte ich mit liebenswerter Stimme, ob es ihr viel ausmache, wenn ich vielleicht einen einzigen Becher…? Kurzes Misstrauen, aber dann, jovial: „Na gut, sie kriegen sogar drei, aber nur, wenn sie sie in meinem Bad spülen, sonst verschwinden alle wieder.“ Gottergeben bemühte ich mich in dasselbe und starte die Säuberaktion. Wieder auf dem elendslangen Gang, in Richtung Waschmaschine, vernahm ich Frau Ns lautstarkes Jammern. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten, war psychisch stark verändert und benahm sich wie ein Kleinkind, nach dem Motto: „Wenn sich keiner um mich kümmert, schrei ich halt.“ Besänftigte man sie wie ein Baby, dann war sie selig und erzählte stolz von früher. „Wo i no Metzgersfrau war, da hab`i ganze Kuaviertel (1/4 Kuh) alleine geschlept, mei, des warn no Zeiten… und jetzt lieg i soo da.“ Im Zimmer neben ihr drückte jemand die Glocke. Ich konnte mir schon denken, wer. Ich ging hinein und schaute nach. Es war Sommer und die großen Balkontüren standen offen, leider war natürlich auf die Weise der Akustik in den Zimmern kein Einhalt zu gebieten. „Ja, Frau S, was gibt’s denn?“ – „Stopf dera do drüben doch an Waschlappen ins Maul! Des hält ja kei Mensch aus!!“ – „Frau S, verstehens halt, die Frau ist krank!“ – „Ja, ja, i bin auch krank und plär net de ganze Tag in der Gegend rum! Wenn i bloß laufe kennt, i tät scho rüberrumpeln und dera s´Maul zuhalte. Oder i schie`se doch ins Bad und mach de Tür zu, dann kann se schreie, bis ihr Gosch franzig is!“ Bei dieser Idee leuchtete Frau Ss Gesicht beglückt auf – sie gefiel sich eben in der Rolle des Menschenfressers. Ich antwortete, mit charmant vorwurfsvoller Mimik: „Aber Frau S, so bös sind sie doch gar net?“ Mit ihrem grauschwarzen Bubi-Kopf und den Haselnussaugen versucht sie weiterhin, äußerst grimmig zu und bedrohlich zu erscheinen. „Was gibt’s n heut zum Fresse?“ – „Schweinsbraten mit Gemüse und Kartoffeln, Nachspeise Pudding.“ – „So? Den Dreck kannst selber fresse, aber den Pudding bringst mir“, befahl sie mit liebenwürdigem Lächeln. Ergeben nickte ich, erntete dafür ein nachsichtiges, aber entschiedenes Lächeln und entfernte mich… Vom anderen Ende des Ganges kam eine völlig entnervte Kollegin humpelnd auf mich zu, ein Essen- und Geschirrpuzzle balancierend und fluchte verhalten vor sich hin. „Was ist denn passiert?“, fragte ich vorsichtig. „Auf nichts kannst dich mehr verlassen“, explodierte sie. „Sonst pinkelt Herr S immer in die Keksdose im Schrank.“ Mir schwante schon fürchterliches. „Aber heute hat er eine neue Variante entdeckt, nämlich einfach auf den Boden! Ich blöde Kuh renn mit meinem Tablett rein, rutsch voll aus und schlittere durchs Zimmer, auf meinem Hintern.“ Nun sah ich auch den nassen Kittel und fing, fast gegen meinen Willen, fürchterlich an, zu lachen. Zunächst konnte das meine Kollegin überhaupt nicht komisch finden, aber auf meine Bemerkung hin, das Klo bei Herr S sei wohl überflüssig, kicherte sie doch los. Schließlich waren wir beide der Meinung, mit Humor packe es sich doch noch am besten. So vergingen die Tage, mehr oder weniger spannend und je nach Laune des Chefs hatte man wenigstens ab und zu einige Tage am Stück frei, um ein bisschen abzuschalten. Ja, selbstverständlich war auch das nicht, denn wenn man im Intrigenspiel wieder mal den Kürzeren gezogen hat, dann folgte der Dienstplanhammer: Spätdienst bis 21:00 Uhr – Frei – Frühdienst ab 6:00 Uhr – Spatdienst – Frühdienst – Frei usw. Das zermürbte sehr auf die Dauer. Man überlegte dann schon, ob man sich im Sinne der Anpassung verkaufen sollte, oder ob man diesen Irrsinn noch weiter durchhalten konnte. Vor kurzem ist eine alte Dame gestorben und ich versuchte, mir die Zeit zu nehmen, sie sozusagen noch ein Stück zu begleiten. Wie gesagt, ich versuchte es. Einige meiner Kolleginnen hatten nur wieder gar kein Verständnis dafür, mich an dem Bett der sterbenden Frau sitzen zu sehen. Auch für mich war es sehr schwierig. Ich hatte es auch für mich zur Aufgabe gemacht, zu lernen und den Mut zu haben, bis zum Schluss bei einem Sterbenden zu bleiben. Mit 17 Jahren, als ich als Helferin in einem Krankenhaus anfing, lag auf meiner Station eine junge Frau, 35 Jahre. Ich hatte mich ein wenig mit ihr angefreundet. Sie hatte zwei kleine Kinder und war glücklich verheiratet. Eines Abends, als ich gerade die alte Frau, die mit ihr im Zimmer lag, für die Nacht herrichtete, erschreckte mich ein panischer Schrei bis ins Innerste. Er kam von dieser jungen Patientin. Sie röchelte, wurde ganz weiß im Gesicht und schaffte noch „ich krieg keine Luft mehr“ zu sagen und sank in tiefe Bewusstlosigkeit. Ich raste rufend und schreiend durch die Station, bis mich endlich die leitende Schwester hörte. Sofort alarmierte sie den Arzt und sie brachten die Patientin auf die Intensivstation. Zwei qualvolle Stunden wartete ich noch, man sagte mir, die Frau sei auf dem Weg zur Besserung. Aber irgendeine Stimme in mir erklärte mir, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Um 22:30 rief man mich an, ich solle helfen, die Patientin in ihrem Bett auf die Station zurückzubringen. Erleichtert brachte ich diese dumme Stimme in mir zum Schweigen. Eine Kollegin kam mir schon mit dem Bett entgegen und meinte: „Fass mit an, am Fußende.“ Und da starrte ich auf einen Fuß. Einen Fuß mit rot lackierten Nägeln. Er war nicht zugedeckt und hatte eine seltsam gelbe Farbe. Entsetzt wanderten meine Augen zu dem anderen Fuß – das gleiche Bild. Wie ferngesteuert blickte ich in Richtung Kopfende. Der Kopf der jungen Frau war mit einem Laken zugedeckt. Ein Monster kroch mir die Wirbelsäule hinauf, hinterließ einen Eisklumpen in meiner Seele und stoppte mein Denkvermögen. Damals, 1973, kümmerte man sich auf Station nicht so sehr um das eingefrorene Seelenleben einer jungen Praktikantin und so stand ich nach Dienstschluss alleine vor der Klinik. Gott sei Dank konnte ich meine Freundin erreichen und verständnisvoll brachte sie mit mir nach einem Kneipenbesuch einige Kilometer Spaziergang hinter sich, bis das Morgengrauen erschien. Alles andere hätte ich in dieser Nacht gekonnt, nur nicht alleine in meinem Zimmer sein. Nun, 10 Jahre später, wollte ich nicht mehr vor dem Tod weglaufen und setzte mich zu der alten Frau. Wieder war kein Verständnis von Kollegen da. Mit Gesichtern, die diese Meinung unterstrich, oder gleich mit konkreten Bemerkungen, es gäbe Leute, die nur zu faul zum Arbeiten wären und dafür sogar bei einer Sterbenden säßen, gingen sie an dem Zimmer vorbei. Dabei einen inneren Frieden zu finden, der der Frau helfen sollte, war nicht leicht. Als nun gar die Putzfrau sich neben mich stellte, mit Cola-Dose und Wurstbrot in der Hand und mir erklärte, die Dame solle sich jetzt gefälligst mit dem Ableben beeilen, damit sie hier saubermachen könne, war meine Stimmung endgültig im Keller. An solchen Tagen pflegt man sich ja selbst in seiner miesen Stimmung entgegenzukommen, hat die Schnauze voll von jedem und allem und zieht natürlich weiterhin Ereignisse auf dieser Basis magisch an. Als ich den Motor meines Wagens anließ, um nach Hause zu fahren, blinkte die Benzinlampe auf. Na gut, dachte ich, warten bis 14:00 Uhr, 20 D-Mark bei der Bank holen, tanken und schnell nach Hause. Aber: Das Kindermädchen war nicht informiert, Telefon hatte ich keins. Hoffentlich wartet sie, bis ich komme, denke ich mir. Als endlich die Bank öffnete, wunderte ich mich über das verschlossene Gesicht der Dame am Schalter. Wie zur Erklärung deutete sie mir in der höflich-liebenswert-kalten Art, die ärmlichen Kindern wie mir gebührte an, ich möge mich zum Chef bemühen. Noch ziemlich arglos ging ich zu ihm, und er erklärte mir, noch eine Spur kühler, man würde keine Lastschrift mehr annehmen, keinen Überziehungskredit mehr gewähren – kurzum, man streiche alles Entgegenkommen. „Begründung?“ – „Die Bankauskunft Ihres Mannes.“ – „Auch keine zwanzig, oder wenigstens zehn Mark zum Tanken mehr?“ – „Nichts!“ Bevor ich losheulte, ging ich schnell. Ich fuhr zu meiner Freundin nach Seehausen, fertig, voller Hass, kraftlos. Jeder Zigaretten- oder Kaugummiautomat grinste mich an. Die Idee, so ein Ding nachts zu knacken, kam mir furchtbar konkret in den Sinn. Meine Überzeugung stand dagegen, meine Freundin fing mich noch mal auf, umarmte mich, gab mir zwanzig Mark. „Geschenkt!“ Mit einem winzigen Optimismus fuhr ich heim. Die Kinder, sie zwangen mich zum Durchhalten, jede Minute, sie spürten mein Durchhängen. Wie zum Beweis, wie sehr sie mich mochten und brauchten, gab es ein Küsschen, ein liebes Wort (meine Tochter Eva: „Gell, Mama, i bin auch die lieber Bub!“). Eine volle Hose, die am Popo kniff, ein Kieselstein im aufgeschlagenen Knie, der drückte bis zur Rotznase, die geputzt werden wollte. Meine Ehe schlingerte trotz aller Bemühungen ihrem Ende entgegen. Als ich trotz akutem Geldmangels mit meinen Kindern und einer Freundin nach Italien floh, da fiel mir auf, ich vermisste meinen Mann kaum mehr. Ein Pflichtanruf, ich erreichte ihn nicht, tat nicht mehr weh. Auf der Rückfahrt feierten wir Manuels dritten Geburtstag, den ich beinahe vergessen hätte, mit einem Riesenbecher Eis. In Österreich. Wieder zu Hause, zerschlug mein Mann die noch vorhandenen Gefühlsteile zu Splittern, er kam erst einige Tage später. Er glaubte ohnehin nicht, ich könnte mich gegen ihn entscheiden, nach fünf Jahren Treue in jeder Richtung war er sich meiner sehr sich er und die Kinder waren sein Pfand. Die letzten Wochen dieser Beziehung waren furchtbar. Ich saß nach 15 bis 18 Stunden Arbeit abends alleine in der Küche, fror, eingehüllt in drei Decken. Auch in der Küche stellte ich die Heizung ab, wenn die Kinder im Bett waren, um zu sparen. Ich dachte im Kreis und dabei fiel mir die Decke auf den Kopf. Es gab keine Lösung, außer der, mich von ihm zu trennen. Der Brief lag fertig vor mir. Morgen, ja morgen schicke ich ihn ab! Ich fuhr nach Murnau, das habe ich in letzter Zeit schon öfter getan. Ich hielt es nicht mehr aus in dieser Einsamkeit in mir und um mich herum, einschließlich der lauernd abwartenden und skandallüsternen Haltung der Menschen hier. Diese vorgehaltenen Hände beim Tratschn mit dem schrägen Blick auf mich, das süß-saure Lächeln, wenn man nicht mehr ausweichen kann, die ätzend- Natürlich sahen sie alle, wenn ich wegfuhr, meine schlafenden Kinder alleine ließ. Es brauchen ja nur ein bis zwei Stunden zu sein, sage ich zu mir, sie werden hoffentlich nicht wach, und – ja, sie sind ja nicht alleine, haben sich gegenseitig. Bitte, Kinder, schlaft, ich komme ja gleich wieder, nur jetzt, jetzt muss ich ein paar Menschen sehen, die von nichts wissen, mit denen man irgendeinen belanglosen Blödsinn reden kann oder nur ein Bier trinken und den anderen zuhören… Ich hoffte, dass Wolfgang da sein würde, mein Kollege aus dem Altenheim. Dem ging es gerade auch nicht so gut, nach einer beendeten Beziehung. Es war verrückt, wenn wir beide uns treffen, war es einfach gut. Ich mag ihn sehr. Nur darf ich es nicht zeigen! Sich jetzt zu verlieben, belehrte ich mich selbst, wäre der allergrößte Fehler. Erstens aus Prinzip und zweitens wegen der Kinder. Oder umgekehrt. Jedenfalls war mir klar, dass es mit drei kleinen Kindern für mich keine feste Beziehung mehr geben wird. Verkaufen würde ich mich auch nicht. Punkt. Aus. Fertig. Als ich an diesem Abend aus der Bar ging, umarmte mich Wolfgang und küsste mich ganz kurz auf den Mund. Einfach so. Völlig überrascht, da ich mir nicht sicher war über meine Gefühle zu mir, verließ ich ihn und fühlte mich mit 28 Jahren und als Mutter von drei Kindern unbeschwert glücklich und segelte auf rosa Wolken mit tausenden von Schmetterlingen im Bauch nach Hause.


Die Liebe (allerdings sollte das noch drei Jahre dauern)

Als ich eines Tages mich auf dem Balkon meiner „Lieblingsbeschäftigung“, dem Wäscheaufhängen widmete, sah ich gegenüber einen Mann die Straße vom Altenheim herunterkommen. Ich schätzte ihn auf etwa 30 Jahre, er trug einen weißen Pflegeranzug, hatte dunkelbraune halblange Locken und einen kupferroten Bart. Wahrscheinlich erstarrte ich in meiner Bewegung, denn meine Seele war damit beschäftigt, ihm zuzufliegen, - nur so kann ich dieses beeindruckende Gefühl beschreiben, dass mich kurze Zeit vollkommen im Bann hielt, bis mein Verstand sich leider wieder in den Vordergrund drängte und mir arg zusetzte: „Du bist ja völlig durchgeknallt! Zwei kleine Söhne, beim dritten Kind schwanger, verheiratet (wenn auch nicht mehr besonders glücklich), und DAS!!“. Ja, ja schleunigst gab ich meinem Verstand recht, der Mann hatte mittlerweile das Haus gegenüber betreten, ich zog mich ebenfalls in die Wohnung zurück und verstaute diese verrückte Gefühlsanwandlung an den Rand meines Unterbewusstseins… Einige Tage später musste die Sympathie zu diesem Mann auch meinen Ältesten erfasst haben. Er spielte im Hof, ich sah alle paar Minuten nach ihm, da hupte kurz ein Auto. Alarmiert raste ich zum Balkon, um zu sehen, dass Daniel, freundlich lächelnd vor dem Auto dieses Mannes stand und sich auch per Hupe nicht überreden lies, diesen Platz zu verlassen. Also rannte ich mit meinem Bauch die Treppe hinunter, um dieses Verkehrshindernis von der Straße zu pflücken. Der Mann und seine Freundin ( warum ärgerte es mich, sie zu sehen??? ) amüsierten sich königlich über Daniel, während mich beim Blick durchs Autofenster wildes Herzklopfen befiel…… Einigermaßen durcheinander trug ich meinen widerspenstigen Ältesteten nach oben und schob auch dieses neue Gefühl weit weg.

In der folgenden Zeit war ich sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt, brachte eine süße Tochter zur Welt und war auch schon, drei Tage nach ihrer Geburt, für sechs Wochen von meinem Mann alleine gelassen. Er hatte die große Illusion, in der Schweiz als Broker das schnelle Geld zu verdienen und war durch nichts von diesem Gedanken abzubringen. In dieser Zeit erfuhr ich auch, dass er schon ein halbes Jahr lang keine Miete mehr bezahlt hatte und wir die Wohnung räumen sollten. Außerdem war mein Mann in dieser Sache ins Garmisch-Partenkirchener Amtsgericht, etwa 30 km von uns entfernt, geladen. Eine Freundin nahm meine Kinder (2 ½, 1 Jahr und 2 Monate)und mich im Auto mit nach Garmisch. Als auf dem Weg zum Gericht vom Kinderwagen ein Bein abbrach, ich zwei Kinder tragen und das dritte an der Hand halten musste, war ich kräftemäßig und nervlich einigermaßen am Ende, als ich vor dem Richter stand. Dieser Mensch war nun auch nicht besonders freundlich, gestand uns aber immerhin zu, noch ein halbes Jahr in der Wohnung bleiben zu können, wenn wir die laufende Miete bezahlen würden. Vor lauter Erleichterung hätte ich ihn am liebsten umarmt, - bedankte mich aber dann doch nur sachlich und trat den Rückweg an,- diesmal mit dem Zug…….

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Tag der Veröffentlichung: 24.07.2009

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