Am Pont Mirabeau stieg er, allein wie immer, in den 62er.
Von der Arbeit kommend war er die Avenue de Versailles entlanggeschlendert, hatte die Brücke überquert, dabei die Freiheitsstatue und den Eiffelturm in der Abendsonne angeblickt, und leise in sich lächelnd daran denken müssen, dass er noch nie näher als auf einige hundert Meter an diesen Stahlkoloss herangekommen war, obwohl er sich seit nun schon fast fünfundzwanzig Jahren – er erinnerte sich noch gut daran, das erste Mal daran gedacht zu haben nachdem er seine Eltern verloren hatte – vage vorgenommen hatte einmal dorthin zu gehen und die Monstruosität dieser gottlosen Kathedrale der Schwerindustrie, die so ganz die Antithese ihrer erddunklen Herkunft zu seien gewillt scheint, auf sich wirken, ja vielleicht sich von deren Mächtigkeit vorübergehend erschlagen zu lassen, bevor er, seine Ebenbürtigkeit zu beweisen, vielleicht langsam die Stufen emporstieg, vielleicht auch den Fahrstuhl nahm bis zur Plattform, um die Aussicht auf seine Stadt zu genießen. Nein. Springen würde er nicht. Nicht er.
Natürlich kannte er den Blick von dort oben bis ins kleinste Detail und wusste es zu genießen, wenn er die Stadtteile, Denkmäler, Parks, Gebäude mit Namen zu belegen wusste, nachts, wenn er schlief, tagsüber, bei der Arbeit, wenn er die Augen schloss, sich entspannte, nachdem er sich kräftig gestreckt und dann langsam in den Schreibtischsessel hatte zurücksinken lassen, die Füße auf dem Tisch; wie oft war er dann dort oben in der Abendsonne und genoss das Sein.
Er hatte jetzt das verschlossene Busgesicht aufgesetzt, daß es ihm gestattete relativ selten von den Alten angesprochen zu werden, die, so glaubte er fest, den Bus nur nahmen, um irgendwo mit Menschen in einem Raum zusammengeschlossen zu sein; Vorwand um ein Gespräch einzuleiten, dass seinen Namen nicht verdiente: Sture Monologe, Missbrauch der Wortschwallopfer im Psychomüll isolierter Massenmenschen einer Metropole. Horror dreimal pur.
Immerhin ist ein Busticket billiger als ein sogenannter Arztbesuch, dessen Wartezimmer – zentraler, möglichst auszudehnender Bestandteil im Zeitbudget des Ganzen – den gleichen Obliegenheiten dient und in einem eigentümlichen Widerspruch zum Verhalten älterer Menschen in Warteschlangen, beim Bäcker, im Supermarkt oder im Postamt steht, wo sie sich andauernd vordrängen und von einer wahrhaft rotzfrechen Unverfrorenheit sind.
Bis zur Place de la Convention hatte er sich auf einen Sitzplatz vorgekämpft, eine Broschüre aus der abgeschabten Aktentasche gekramt, die schon seinem Vater treu gedient hatte, und es sich so bequem wie möglich eingerichtet für den Rest der Fahrt, als er, bei der Abfahrt von der Haltestelle, plötzlich mehrere Personen wie auf Kommando im Chor: "La porte! Die Tür, bitte!", rufen hörte. "Eine Dame möchte noch aussteigen!"
"Pfff", kam es über seine Lippen. Wieder so eine, die nicht weiß, was sie will!
Mit einem Teil seiner Wahrnehmung konzentrierte er sich auf die Reaktion des Fahrers, während er nach außen hin absolut teilnahmslos blieb und in seiner Broschüre weiterzublättern und zu lesen schien. Es befriedigte ihn heimlich, als der Bus sich in den Verkehrsstrom schob ohne auf die Zurufe reagiert zu haben. Die nächste Haltestelle war nur einige hundert Meter entfernt, und als der Bus von dieser abfuhr, blickte er diskret nach draußen, um zu sehen, ob er wohl erraten würde, wer von den wenigen hier ausgestiegenen Fahrgästen die Frau gewesen sein mochte, die an der letzten Haltestelle so unmöglich langsam gewesen war. Sicher eine Alte.
Er sah zwei junge Männer… und dann tatsächlich eine alte, gebeugte, abgemagerte, fast glatzköpfige und zudem schlecht frisierte Frau in einem fürchterlich blau-weiß pepunkteten Haushaltskittel. Na siehste!
Der Verkehr stockte, und so konnte er die Frau mit dem Blick verfolgen, wie sie langsam durch die Autoschlangen auf die andere Straßenseite hinüberschlurfte, um auf den Gegenbus zu warten, der sie eine Haltestelle zurückbringen würde. Insgesamt hatte sie durch ihre Unachtsamkeit, ihre mangelnde Energie, vielleicht eine halbe Stunde verloren. Geschieht ihr recht,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Alban Azaïs
Bildmaterialien: Alban Azaïs
Lektorat: Alban Azaïs
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0942-3
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