Cover

Vorwort

Erzählung nach einer wahren Begebenheit

 

 

 

„Kinder,

die nicht geliebt werden,

werden Erwachsene,

die nicht lieben können“.

 

 

 

Dieses Buch widme ich meinen über alles geliebten Kindern

Michaela, Martin und Nicole.

Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Eure Liebe und Euer Verständnis.

Ihr seid die besten Kinder, die man sich wünschen kann.

Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen, gemeinsam konnten wir ihr,

wenn auch mit einigen Blessuren, entkommen. Ohne Euch und Eure Liebe hätte ich niemals die Kraft gehabt, das Erlebte zu verarbeiten und zu vergessen.

Ich liebe Euch und bin stolz auf Euch.

Es macht mich stolz, Eure Mutter zu sein.

Eure Mama

Mit 16 plötzlich Mutter

 

Wenn Träume Bilder werden

 

Mary schnupperte an einem Glas Champagner, genussvoll inhalierte sie den markanten Duft, um dann genüsslich einen Schluck davon zu trinken. Sie hielt das Glas gegen das Sonnenlicht und sah die kleinen Champagnerperlen im Licht der Sonne tanzen. Es schien so, als ob sie der Sonne zuprostete, um ihr für diese schönen Augenblicke ihres Lebens zu danken. Zufrieden und glücklich lehnte sie sich in ihrem bequemen Liegestuhl zurück. Wie schön das Leben doch sein konnte, dachte sie und schloss für einen Moment die Augen.

Bisher hatte sie das Leben von einer ganz anderen Seite kennen gelernt. Plötzlich schoss es ihr durch den Kopf, es war nicht der preiswerte Champagner, den Mary zurzeit genoss nein, diesen edlen Tropfen, den sie hier genießen konnte, kostete eine einzige Flasche davon neunzig Euro im Spirituosen Geschäft. Einem Preis, bei dem es Mary schwindelig wurde. Nie in ihrem Leben hat sie je eine Sekunde daran gedacht, so luxuriös das Leben in vollen Zügen genießen zu können. Nie hatte sie im Traum daran gedacht einmal so edle Getränke zu sich nehmen zu können, oder überhaupt so ein Leben führen zu können. Überhaupt war sie hier nur von purem Luxus umgeben, ein Luxus, wie sie ihn nur aus Klatschzeitungen oder dem Fernsehen kannte. Sie blickte noch einmal nachdenklich in das Glas, um dann das edle Getränk genussvoll herunter zu spülen. Sie fühlte, wie sie mit einem Schluck all ihre Sorgen hinunter spülte. Der Champagner verursachte so ein schönes, zartes prickeln in ihrem Mund, so als würden Millionen von kleinen Perlen zerplatzen. Mary kannte nur die herkömmlichen Sektsorten, wie sie jedermann trank und die erschwinglich im Preis waren. Dieser Preis, den man für eine Flasche verlangte, war für sie einfach unerklärlich.

Der Wunsch wurde in ihr wach, dass sie aus diesem Traum nie mehr aufwachen wollte, was auch passierte.

Es gab Zeiten in ihrem Leben, da wäre sie froh gewesen, wenn sie noch ein paar Euro in der Tasche hatte, um das Leben bestreiten zu können, indem sie ihren Kindern und sich die nötigsten Grundnahrungsmittel hätte kaufen können. Nur allzu oft kam es vor, dass sie nicht wusste, wie sie ihre Kinder ernähren soll.

Wie oft saß sie und weinte bittere Tränen, weil das Leben es nie gut mit ihr gemeint hat. Ihr Leben bestand daraus, zu Kämpfen um nur zu überleben. Zu überleben, für ein Leben, das eigentlich für sie nicht so richtig lebenswert war. Und nun das??

Mary lag in ihrem Liegestuhl auf der großen nichteinsehbaren Terrasse der sechshundert Jahre alten Finca in der Nähe von Santa Eularia auf Ibiza. Wenn dieses Haus erzählen könnte, Mary wäre eine gute Zuhörerin gewesen. Schade, die dicken Mauern blieben stumm. Hier fühlte sich Mary endlich als Mensch, hier war sie glücklich und zufrieden. Keine Sorgen, keine Probleme, das Leben war plötzlich schön und all ihre Sorgen waren plötzlich so weit von ihr entfernt. Sie hoffte, für immer unerreichbar entfernt. Nichts konnte sie von diesem schönen Ort vertreiben.

Mary war eine kleine Frau, 160 cm war ihre Körpergröße vom Kopf bis zu den Füßen, eigentlich fand sie, dass sie sehr klein war, aber was sollte es, wenn jemand sie auf ihre kleine Körpergröße ansprach, pflegte sie immer keck zu kontern: „Leckerbissen sind immer klein“, und schon hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Nach allem was sie im Leben erlebte, hatte sie nie ihren Humor verloren. Sie war immer fröhlich und stets in der Lage, so ganz spontan einen gefüllten Saal, beinahe wie ein Profi zu unterhalten. Ja, sie hatte einige Qualitäten, von denen kaum jemand etwas ahnte. Eigentlich hatte sie ihren Traum als Clown in einem Zirkus erfüllen wollen. Wie so viele Dinge, die man sich im Laufe eines Lebens erträumt und dann doch wieder fallen lässt.

Auch träumte sie in einer stillen Stunde, wie jedes kleine Mädchen, davon, dass irgendwann einmal ein richtiger Prinz auf seinem Pferd sich in ihre Richtung verirren würde und sie einfach entführt in das Land ihrer Träume. Träume sollten niemals sterben.

Es gab Zeiten, da sah man ihr die dreiundfünfzig Jahre, die sie sich durch dieses Leben geschlagen hatte, nicht an. Doch es gab auch Tage in ihrem Leben, da traute sie sich nicht in den Spiegel zu schauen, sie hatte dann immer den Eindruck, sie habe die Sechzig lange überschritten. Mary trug ihre kurzen blonden Haare wild wie ein Mopp in alle Richtungen mit viel Haar Gel gestylt. Sie verstand es gut, etwas aus ihrem Typ zu machen. Für sie war Hygiene und gutes, gepflegtes Aussehen immer sehr wichtig. Ihre leicht gebräunte, faltenfreie, sehr samtige Haut schimmerte in der Sonne wie in leichter Kakaobutter gewendet. Ja die Sonne der Mittelmeerinsel tat ihr wirklich gut. Ihre blonden Haare gaben einen guten Kontrast zu ihrer leicht gebräunten Haut ab. Es war wieder einer dieser Tage, an denen Mary sich wie eine zwanzigjährige fühlte.

Jedenfalls sah man ihr nicht an, dass sie schon Großmutter von vier Enkelkindern war.

Ihre wunderschönen blauen Augen leuchteten wie zwei blaue Opale, irgendwie strahlten sie besonders hell, wenn die Sonne auf ihr Gesicht fiel.

Und hier auf Ibiza schien die Sonne den ganzen Tag.

Mit ihrer Figur stand sie ein wenig auf Kriegsfuß, sie wusste, sie hatte einige Kilos zu viel. Leider konnte sie einem guten Essen nie widerstehen. Zu gerne aß sie am liebsten das, was sie auch selber zubereitete. Und sie wusste nur zu gut, dass sie viele Menschen um sich herum hatte, die ihre Kochkünste nur Allzugerne genossen. Wenn sie einmal wieder die Gewissensbisse plagten, versuchte sie diese geschickt mit Ausreden zu vertreiben. Da unterschied sie sich nicht von den anderen Menschen, die täglich mit ihrem Gewicht in Kampfstellung gehen.

Was sollte sie sich auch weiterhin mit diesem Problem befassen, einen Mann wollte sie sowieso nicht mehr haben, für den gab es gar keinen Platz mehr in ihrem Leben. Denn so wie es zu dem Zeitpunkt war, war es einfach nur schön und lebenswert. Sie wurde gerade vor sechs Wochen zum zweiten Mal geschieden, sie hatte die Nase von den Männern gestrichen voll. Nein, ein Mann hatte in ihrem jetzigen Leben keinen Platz. Wenn es Sonja, die Freundin ihrer Tochter der Besitzerin des Luxus, in den Sinn kam, musste Mary am nächsten Tag für ein paar Tage nach Deutschland zurück fliegen und sich um das schöne alte Landhaus auf der Insel Spiekeroog kümmern. Sie sollte nur einmal nach dem Rechten sehen, und dann wenn sie meinte, wieder nach Ibiza zurück kehren. Auch hier wartete wieder ein Auto der Luxusklasse auf sie, mit dem sie die Straßen in Deutschland unsicher machte. Hier war sie zu Hause, und hier konnte sie so schnell fahren wie sie wollte, für Mary gab es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen, sie fuhr einen Flitzer, von dem sie meinte, dass er sehr gut zu ihrem Typ passte. Und das wollte sie nun auch mit jeder Sekunde genießen. Sie fuhr nicht aggressiv, eben so, wie es die Straßenverhältnisse erlaubten, und was der Flitzer hergab. Und wo die „Blitzer“ standen, dass wusste sie innerhalb kurzer Zeit. Immer wieder hoffte sie, dass dieses Leben, dieser Traum, nie enden würde. Sie führte ein Leben, wie es im Paradies nicht schöner sein konnte.

Ihr Blick fiel auf den strahlend blauen Himmel über ihr, in sehr großer Höhe sah sie ein Flugzeug in Richtung Süden fliegen. Ein langer Kondensstreifen nahm die Verfolgung auf. Wohin es wohl unterwegs war? Nach Saudi- Arabien, Thailand, oder Australien? Wohin auch immer, schöner als hier konnte es für Mary an keinem Ort der Erde sein.

Ein leises Geräusch welches Mary hinter sich vernahm, riss sie aus ihren Träumen. Ein paar kleine Geckos gewannen Zutrauen zu Mary und näherten sich ihr natürlich in gebührendem Abstand. Irgendwie faszinierten diese kleinen Minikrokodile Mary sehr. In welche Zeit wohl ihr Stammbaum zurück führte? Mit der Zeit hatte sie die Kleinen so weit, dass sie ihr sogar einen Keks aus ihrer Hand fraßen, um dann wieder ganz schnell in das für sie sichere Gemäuer einer im spanischen Stil gemauerten Wand zu verschwinden.

Sie sah sich um, und ihr wurde klar, dass sie sich allein auf diesem großen Anwesen befand, auf dem sie sich geborgen und wohl fühlte in ihrer Haut. Hier war sie glücklich, hier war sie jemand. Nicht mehr das kleine unscheinbare Mädchen aus Kindertagen, und nicht mehr die kleine junge Frau und Mutter dreier Kinder, die sie allein nach ihrer Scheidung nach zehn Jahren Ehe allein und unter vielen Entbehrungen groß gezogen hat.

Ein Porsche Targa Cabrio mit Tankkarte im Handschuhfach stand vor der Tür, wartete nur darauf dass sie einstieg und einfach los fuhr. Aber wenn man etwas hat, es gewohnt ist, wird es langsam uninteressant. Und zum Anderen kannte sie Ibiza zwischenzeitlich wie ihre Westentasche. Oft dachte sie daran, wie die neidischen Blicke der Männer sie verfolgten, wenn sie mit diesem Traumwagen unterwegs war. Dann bestätigte sich immer wieder ihre Meinung: „Sage mir was für ein Auto du fährst und ich sage dir, was für ein Mensch du bist und welche Chancen du hast“. Sie wusste nur zu gut, dass jeder Mann davon träumt, einmal einen Porsche zu besitzen oder ihn wenigstens einmal fahren zu können. Sie als Frau hatte die Chance und das Gefühl allein verursachte ein großes Glücksgefühl in ihr. Sie liebte es schöne Autos fahren zu können. Doch nie vergaß sie die Augenblicke in ihrem Leben, in denen sie alte klapprige Autos für ein paar hundert Euro ihr Eigen nannte. Aber auch zu diesen Zeitpunkten in ihrem Leben war sie froh, überhaupt beweglich gewesen sein zu können.


Sie zog es vor allein zu sein, die Stille hier vor Ort zu genießen. Beinahe greifbar befand sich ein Teich, der nur durch eine hohe Hecke an der Terrasse getrennt war. Fröhlich und lautstark machten sich die kleinen Frösche bemerkbar. Mary liebte diese kleinen Tiere und die quakenden Laute, die sie von sich gaben. Es war, als wollten sie sagen: „Unser Glückskind ist wieder hier“. Ja wie ein Glückskind fühlte Mary sich. Oftmals setzte sie sich an den Rand des Teiches, um diese kleinen grünen Wesen ein wenig beobachten zu können. Wenn sie sich ganz still und bewegungslos verhielt, kam der eine oder andere auch an die Oberfläche. Sie fand diesen kleinen Froschteich immer sehr faszinierend, es zierten Seerosen und allerlei Wasserpflanzen die wunderschöne Wasseroberfläche. So konnten ihre kleinen Freunde sich immer sehr erfolgreich verstecken. Mary war natürlich sofort mit dem Fotoapparat zur Stelle, um die kleinen im Bild festhalten zu können.

 

Eigentlich wollte sie jeden Moment den sie hier auf der Insel verlebte für die Zukunft festhalten. Schon früh am Morgen stieg sie aus dem Bett, um die herrlichen Sonnenaufgänge zu fotografieren. Danach setzte sie sich auf einen Teil der Terrasse, die wunderschön überdacht war und genoss in Gedanken versunken ihren Morgenkaffee. Was der neue Tag wohl wieder bringen mag.

Sie hatte so ein großes Glück hier die Zeit verbringen zu können, das machte sie sich mit jedem Augenblick klar.

Die Finca gehörte Sonja, sie war eine gute Freundin von Marys Tochter Nelli. Sonja wusste schon seit einiger Zeit, dass es Mary nicht so gut ging, und dass sie große gravierende Probleme hatte. Also fasste sie kurzerhand den Entschluss, Mary nach Ibiza einzuladen. Hier ließ sie sie schalten und walten und natürlich achtete sie auch darauf, dass es Mary gut ging. Liebevoll nannte Sonja Mary immer „Muttern“, so wie es auch Elisabeth, ihre Tochter immer zu sagen pflegte. Sonja verlor auf tragische Weise durch eine schwere Krankheit ihre Mutter. So hatte sie vielleicht einen kleinen Ersatz in Mary gefunden.

Sonja war von der Körpergröße vielleicht einen Kopf größer als Mary. Sie trug ihre schwarz gefärbten Haare immer zu einer frechen Frisur, die sehr gut zu Sonja Gesamtbild passte. Natürlich trug Sonja die teuersten und schönsten Kleidungstücke. Da wurde in der Boutique nicht gefragt:

„Was kostet das“?

Da hieß es nur: „Das und das gefällt mir, bitte einpacken“.

Mary hatte diese Einkäufe mit Sonja oft erlebt, und sich immer gefragt, wie kann es sein, dass man so ein Leben führen kann, ohne überlegen zu müssen, habe ich überhaupt genug Geld dabei. Sonja hatte es. Mary war beeindruckt von diesem Leben, welches Sonja führte. Immer wieder fragte sie sich, wie man solch ein Glück haben konnte.

Sonja war verheiratet, ihr Mann lebte, wenn man so will auch sein eigenes Leben. Er sorgte für die Beschaffung des Geldes, und Sonja durfte es nach Herzenslust ausgeben. Seine Quellen hatte er im Import/Export von Kleidungsstücken namhafter Hersteller. Er bereiste die Welt, war selten zu Hause.

Das Zuhause war eine wunderschöne alte Stadtvilla mitten im schönsten Wohngebiet von Hannover, in der Nähe des Zoos, die er liebevoll nach seinen Wünschen umbauen ließ. Es fehlte ihnen an nichts dort. Am meisten faszinierte Mary hier, dass Mike sogar den Weg von der Straße zum Haus mit einer Heizung versehen ließ, so dass im Winter der Gehweg nicht gefrieren konnte. Anfangs fand Mary dass das sehr verschwenderisch sei, doch, wie sagt man: „Den seinen gibt’s der Herr im Schlaf“. Wenn er es gut fand. Und er es sich leisten konnte, warum nicht?

Gerne erinnert sich Mary noch an ein Erlebnis, als sie Weihnachten 2002, draußen war es bitterkalt und die Straße so glatt wie Spiegel. Sonja rief bei Mary an, um sie für den Heiligen Abend zu sich nach Hause einzuladen. Sonja wusste, dass Mary die Weihnachtsfeste immer sehr still und zurück gezogen verlebte. Sie wollte nichts mit diesem Fest zu tun haben, da es sehr traurige Erinnerungen in Mary hervorrief. Gegen Sonja Überredungskünste jedoch kam Mary nicht an.

So kam es, dass Mary sich am späten Nachmittag des Heiligen Abend auf den Weg machte um ein paar Stunden mit Sonja, ihrem Mann Mike, sowie der Mutter von Mike, Rainer so heißt der Vater von Sonja, der Schwester Conny und dem Bruder Ralf, sowie Marys Tochter Elisabeth zu verbringen.

Es wurde wieder ein rauschendes Fest. Im großzügigen Flur der Villa stand ein riesengroßer Tannenbaum, seine Spitze reichte bis unter die Decke. Und die war, wie es in so alten Villen üblich ist, bestimmt fünf Meter hoch. Wunderschöne Stuckarbeiten ließen die Decken noch prachtvoller erscheinen. Ein riesengroßer Kronleuchter durchflutete den Raum. Er hatte eine für Marys Verhältnisse erschlagende Wirkung. Normalerweise hängen solche Lüster nur in Schlössern. Es war beeindruckend schön. An der einen Wand hing ein riesiger Barockspiegel, in welchem man sich und seine Bewegungen gut kontrollieren konnte. Mary erwischte sich dabei, dass sie ständig in diesen Spiegel schauen musste, sie fühlte sich ein wenig wie eine Prinzessin aus dem Märchenbuch. In diesem Haus, das merkte Mary sehr schnell, war alles größer und schöner als sie es jemals gesehen hatte. Hier in diesen Räumlichkeiten konnte man einfach nur glücklich sein.

Der Baum wurde immer am ersten Adventsamstag liebevoll von Sonja und ihren Freundinnen mit altem Antiken Baumschmuck behängt. Natürlich floss auch hier der Champagner in Strömen. Es war jedes Mal ein sehr schönes Zusammentreffen, von dem man noch lange danach sprach.

An diesem Abend hatte Mary das erste Mal eine Begegnung mit echtem russischem Kaviar. Mike präsentierte stolz die kleine Dose, die ein Vermögen gekostet haben muss. Man reichte dazu einfache Pellkartoffeln, mit Creme-Fraiche. Es kostete Mary viel Überwindung, diese kostbare Spezialität zu probieren. Aber als sie dann den letzten Zweifel in sich beiseite gedrängt hatte, fand sie großen Gefallen an der Vorspeise. Dazu den edlen Champagner, das war wirklich ein Traum, niemals hatte sie geglaubt, diese Spezialität so genießen zu können. Oft fragte sie sich, womit sie das hier alles verdient hatte, was mit ihr geschah. Es wurde insgesamt ein wunderschöner Abend. Mike ließ es sich nicht nehmen, sich selbst in die Küche zu stellen. Er bereitete Gänsebraten mit Rotkohl und so allerlei schönen Sachen zu. Mary konnte es den ganzen Abend nicht fassen, dass sie heute Kaviar gegessen hatte.

Für sie waren die Dinge, die an diesem Abend noch folgten, dann keine große Überraschung mehr. Der Höhepunkt des Abends war allerdings für Mary, die Begegnung mit den edlen Fischrogen. Sie hatte die Bilder vor Augen, wie diese gewonnen werden, und das verursachte Gänsehaut in ihr, aber sie verwarf jeden Gedanken daran sehr schnell. Gerne und oft dachte sie an diesen schönen Abend zurück. Immer, wenn sie in solchen Gedanken fernab der Realität war, huschte ein kleines Lächeln durch Marys Gesicht.

Mary kümmerte sich liebevoll um das Wohlergehen von Sonja und ihren Gästen auf Ibiza. Sie war eine sehr begnadete Köchin und liebte es stundenlang in der Küche zu stehen, um wieder ein neues Mal zaubern zu können, was die Gäste immer sehr erfreute. Markus und Denis, zwei junge Männer, die sehr erfolgreich ein großes Immobiliengeschäft auf Ibiza führen, waren sehr oft die Gäste des Hauses. Jedes mal, wenn es am Abend noch irgendwelche Reste vom Essen übrig blieben, baten sie inständig darum, dass Mary ja nichts davon in den Müll entsorgte, sie wollten am drauf folgenden Tag wieder kommen und die Reste dann verzehren.

Putzen musste Mary in diesem Haus nicht, dafür kam immer eine Frau aus dem Ort, die das übernahm. Encarna, so hieß diese Haushaltshilfe, war eine Frau von vierzig Jahren. Sie war voller Lebensfreude, so kam es, dass Mary und Encarna sich mit Händen und Füssen verständigen mussten, und sich von Tag zu Tag sympathischer wurden. Mary sprach nur ein paar Worte Spanisch, Encarna keine Wort Deutsch oder Englisch. Das wilde Durcheinander war oftmals sehr belustigend für die beiden. Encarna war eine Frau, die so viele Ähnlichkeiten mit Mary hatte. Ihr Ehemann war sehr krank, so dass Encarna allein für den Lebensunterhalt für die kleine Familie aufbringen musste. Sie hatte zwei kleine Kinder zu versorgen, und natürlich auch ihren kranken Ehemann. Wenn sie am Nachmittag dann nach Hause fuhr, war nicht etwa ausruhen angesagt, nein sie arbeitete weiter in einen Restaurant als Küchenhilfe. Zum Glück hatte sie in Sonja eine Frau gefunden, die nicht nur ihren Reichtum für sich allein behielt. Sie steckte Encarna des Öfteren einen extra Obolus zu.

Die jungen Leute waren heute wieder einmal zu einem Bootsausflug nach Formentera gestartet, der kleinen Schwesterinsel von Ibiza. Mary lehnte es ab mitzufahren, da sie genau wusste, wie diese Törns aussahen. Champagner bis zum Abwinken.

Die Yacht mit der sie unterwegs waren, konnte wegen der Größe nicht bis zum Strand, wo sich das Restaurant befand, heranfahren. Also wurden sie kurzerhand mit einem kleinen Motorboot abgeholt, welches sie sicher zum Strandrestaurant brachte. Dort wurden ausgiebig die besten und teuersten Speisen verzehrt. Es war immer sehr lustig diese kleinen Reisen zur Schwesterinsel von Ibiza. Man traf dort regelmäßig die Schönen und Reichen dieser Welt. Für Mary hatten diese Reisen ihren Reiz bereits nach kurzer Zeit verloren. Sie wusste, dass sie eigentlich ja gar nicht dazu gehörte. Sie hatte andere Prioritäten das Leben zu genießen.

Sie wollte die Ruhe hier einfach nur genießen, allein zu sein mit sich und der friedlichen Umgebung. Sie genoss die Stille, die Sonne, die ungemein schöne Landschaft, den riesigen Garten in dem tausende von wunderschönen Blumen blühten. Hin und wieder hörte sie in der Ferne einen Hund bellen. Das waren die einzigen Geräusche, die sie daran erinnerten, dass sie eigentlich ganz allein dort war.

Und plötzlich war alles wieder da! Die lange mühevoll verdrängte Vergangenheit! Bittere Vergangenheit. Mit einem Mal, ganz plötzlich, war alles wieder da! Dieser ganze Schmerz! Diese Traurigkeit! Dieses Gefühl ersticken zu müssen. Ersticken am eigenen Schmerz! Diesem unermesslichen Schmerz, den man vergessen musste um zu überleben. An den man bloß nicht denken durfte! Niemals! Und jetzt? Jetzt war es plötzlich wieder da, dieses quälende und bohrende Gefühl! Diese Hoffnungslosigkeit! Diese Verlorenheit!

Mary atmete tief durch, sie versuchte die Gespenster der Vergangenheit aus ihrem Kopf zu verdrängen. Von diesem früheren Leben wollte sie nichts mehr wissen.

Niemand sollte etwas von Marys Verzweiflung bemerken, dieses unwohle Gefühl überkam Mary oft, wenn sie ganz alleine war und sie die Angst überkam, das dieses alles irgendwann einmal ein Ende haben könnte, und sie zurück in ihr altes Leben zurück kehren müsste. Denn von diesem Leben konnte sie nicht genug bekommen. Und außerdem – war sie der Meinung, sie habe es endlich einmal verdient.

Oftmals holte sie die Vergangenheit ein, die sie so sehr gefesselt hielt. Wie oft hatte sie von einem Leben, wie diesem geträumt, wie gesagt, geträumt. Nie im Leben hatte sie geglaubt, dass sie einmal in ihrem Leben so von Luxus umgeben sein würde. Sie schloss die Augen und schon tauchten wieder alte Erinnerungen auf.

Sie versuchte sich zu beruhigen, atmete tief durch und blickte in den schönen blauen Himmel, an dem nicht eine Wolke zu entdecken war. Und wieder nahm sie voller Genuss einen Schluck aus ihrem Champagnerglas, der sie beruhigen sollte.

Sie lag am Pool und überlegte ob sie nicht eben einmal ein paar Runden in dem türkisblauen Wasser drehen sollte.

Mary entschloss sich in ihrem Liegestuhl liegen zu bleiben und nur zu träumen, von der Zeit, die noch vor ihr lag, aber auch an die schwere Zeit, die jetzt endlich hinter ihr zu liegen schien. Sie versuchte zu vergessen, einfach nur nach vorne schauen, was nicht immer gelang. Ihre Gedanken trugen sie wieder in ihr altes Leben, von dem sie froh war, dieses endlich hinter sich gelassen zu haben. Sie konnte nicht dagegen an, immer und immer wieder versuchte sie zu vergessen, aber vergessen fällt sehr schwer.

 

 Das Leben im Armenhaus

Es begann im April 1949, vier Jahre nach dem der Zweite Weltkrieg beendet war, wurde Mary als sechstes Kind ihrer Familie geboren. Sie muss es wohl sehr eilig gehabt haben auf diese Welt zu kommen, denn bis ins Krankenhaus hat es ihre Mutter nicht mehr geschafft. So kam sie, nach den Erzählungen ihrer Mutter, zu Hause auf dem Küchentisch zur Welt. Hilfestellung leistete ihr nur eine Krankenschwester aus dem Dorf, in dem sie nordöstlich von Hannover lebten. Nach späteren Aussagen ihrer Mutter, Vater und Geschwister soll sie ein süßes kleines Baby gewesen sein. Klein, zierlich und so zerbrechlich, vielleicht etwas größer als eine normale Puppe. Im Kinderwagen hat man sie angeblich nicht wieder finden können. Marys Vater hat später immer erzählt, dass sie, Mary, das Beste sei, was er noch zustande bekommen habe, er war immer mächtig stolz auf seinen kleinen Nachkömmling.

Mary hatte ihren Namen einer Krankenschwester zu verdanken, die zu Kriegszeiten den Eltern sehr geholfen haben soll. Die Mutter erzählte ihr einmal, dass diese Frau so ein liebenswerter Mensch gewesen sei, dass sie sich entschloss, wenn sie jemals noch einmal einem Mädchen das Leben schenken werde, sie den Namen dieser Krankenschwester tragen soll. Mary war sehr froh über die Auswahl dieses Namens, denn es stand noch zur Wahl der Name „Helma“, und der hätte ihr nun überhaupt nicht gefallen

Die ersten Erinnerungen an ihre Kindheit sind jene, als sie in die Schule kam. Sie war sehr traurig darüber, dass ihre Mutter sie nicht an ihrem ersten Schultag begleitet hat. Die Mutter blieb lieber zu Hause und überließ das Kind ihrem Schicksal. Eine Nachbarin begleitete Mary anstelle der geliebten Mutter, da ihre Tochter ebenfalls mit ihr gemeinsam eingeschult werden sollte. Bewaffnet mit einem bereits abgelegten Schultornister, dem man die Jahre schon ansah und der von einem ihrem Geschwister abgelegt wurde, schickte man sie nun hinaus in das Leben. Zum Schreiben hatte sie eine alte Schiefertafel, an welcher ein kleiner bunter Lappen angebunden wurde. Dieser flatterte immer außerhalb der Schultasche, so konnte er, wenn er einmal zu nass gemacht wurde an der Luft gut trocknen. Er wurde dazu benutzt, die Schriften und Malereien auf der Tafel zu entfernen. So kam es dann auch einmal vor, dass man am nächsten Tag in der Schule, wenn die Hausaufgaben vorgezeigt werden sollten, ein Teil davon nicht mehr vorhanden war, es war verwischt und unleserlich geworden. Als sie dann in der zweiten Klasse anfing in Hefte zu schreiben, begann eine neue Ära.

Marys Mutter ging nie unter Menschen, sie war nur zu Hause, heute weiß Mary warum. Sie litt ihrer Meinung nach, unter starken Depressionen, sehr oft war sie traurig und Mary sah sie oft weinen. Vielleicht war es der Umstand, wie sie lebte. Mit Sicherheit hatte sich die Mutter auch ein anderes Leben gewünscht. Sie lebten sehr beengt in diesem kleinen Häuschen, welches aus drei Räumen und einer Küche bestand. Ein Badezimmer gab es nicht. Und fließendes Wasser konnte nur über eine sehr betagte alte Pumpe in der Küche nach oben befördert werden, die bei Frost im Winter jedoch auch manchmal ihren Geist aufgab.

Der Vater wickelte dann bei sehr starkem Frost die gute alte Pumpe in alten Lumpen ein, so dass er die Hoffnung hatte, sie würde den starken Frost überstehen. Die Ofenheizung schaffte es dann auch kaum sie wieder aufzutauen. Im Winter waren die Scheiben der Fenster immer zugefroren. Obwohl es sehr kalt und ungemütlich gewesen ist, erfreute Mary sich immer über die schönen Eisblumen am Fenster.

Eines hatte Mary das Leben schon früh gelehrt, wenn du arm geboren bist, wirst du immer bis an dein Lebensende ein armes Luder bleiben. Eine reelle Chance bekommt man nicht wirklich. Man wird von den anderen Menschen einfach ausgegrenzt, so jedenfalls hat Mary damals ihr Leben empfunden. Die Menschen, die vom Tellerwäscher plötzlich zum Millionär werden, sind so selten wie ein Sechser im Lotto. Dass sie viel später in ihrem Leben einen „Sechser im Lotto“ landen werde, war für sie nur ein Traum. Eher würde sie von einem Blitz getroffen werden. Ja sie träumte viel die kleine Mary. Oft hat sie sich einfach nur eine kleine Traumwelt aufgebaut, aus der sie niemand vertreiben konnte.

Es gibt ein Sprichwort, welches ihre Mutter immer gerne zum Besten gab:

„Sag mir mit wem du umgehst, und ich sage dir wer du bist“.

Marys Lebenserfahrungen haben sie gelehrt:

“Sag mir in was für eine Familie du geboren bist, und ich sage dir was aus deinem Leben wird“.

Ihre Großeltern hat Mary leider nie kennen gelernt, sie wollten wahrscheinlich auch nichts mit der Familie zu tun haben. Und Mary wünschte sich immer eine Oma und einen Opa zu haben, wie die anderen Kinder auch. Es überkam sie immer eine Traurigkeit, wenn sie hörte, wie die anderen Kindern voller Stolz von ihren Großeltern berichteten. Jedenfalls was sie wusste, und was sie immer sehr traurig stimmte, hatte sie nur aus den Erzählungen ihrer Mutter. Und diese Erzählungen passten nun einmal nicht in Marys Traumwelt. Der Großvater väterlicherseits soll in Lüchow-Dannenberg Anfang des 19. Jahrhunderts eine Schmiede gehabt haben. Mit der Auswahl seines Sohnes, nämlich die Heirat mit ihrer Mutter, hat er wohl nie so richtig wahr haben wollen, er wollte keine Katholikin in seiner Familie haben. Also wurde ihre Familie einfach aus dem Stammbaum entfernt. Die Großmutter väterlicherseits soll im Alter von 37 Jahren an einer Lungenentzündung verstorben sein.

Marys Mutter erzählte einmal, dass ihre Mutter wiederum eine Ungarin gewesen sein soll, diese Frau hat Marys Mutter dann als 13. Kind geboren, die Geburt muss wohl irgendwelche Komplikationen bereitet haben, denn die Großmutter verstarb bei der Geburt. So hat also ihre Mutter niemals ihre Mutter kennen gelernt. Ihr Vater hat dann irgendwann noch einmal geheiratet. Diese Frau verkörperte, so gaben es die Erzählungen ihrer Mutter wieder, die wahre Stiefmutter. Sie muss sehr unter ihr gelitten haben. Zu Lebzeiten ihrer Mutter, musste Mary ihr sehr oft zusichern, wenn einmal wieder das Gespräch darauf kam, dass sie niemals Stiefmütterchen auf das Grab der Mutter pflanzen werde.

Man sagt, Träume sterben nie.

Marys Träume sind gestorben, bevor sie überhaupt geboren waren. Dabei hatte sie wie alle kleinen Mädchen so viele Träume. So träumte sie immer davon, den Mann zu finden, der sie so nimmt wie sie war, der nicht danach trachtete ob sie aus reichem Hause kam. Der sie nicht ablehnte, weil sie aus einem Armenhaus war, mit dem sie Kinder haben wollte, und mit dem sie glücklich und zufrieden leben konnte, wie es ihre Eltern trotz Armut immer gewesen sind. In ihrem Träumen malte sie sich immer ein kleines Häuschen mit einem kleinen Garten. Eigentlich fand sie, war dies nicht zu viel verlangt, viele andere Menschen haben dieses auch erreicht, nur ihre Familie nicht. Was Mary niemals verstanden hat, war, dass eigentlich nach dem Krieg alle Menschen wieder bei Null anfangen mussten, aber viele doch irgendwie schneller wieder zu Reichtum und Ansehen gekommen sind, sie hatten ein kleines Häuschen, eine schöne Wohnungseinrichtung, und waren sogar in der Lage in Urlaub zu fahren. Urlaub kannte Mary überhaupt nicht, sie war niemals verreist, wo sollte sie auch hin, es wollte sie niemand haben. Was hatten ihre Eltern bloß falsch gemacht, dass es ihnen in jedem Fall schlechter ging als den anderen Menschen im Ort. Ihr Traum war es immer das Meer zu sehen. Die salzhaltige Luft zu atmen und dabei die Wellen beobachten, wie sie an die Felsen schlagen. Den frischen Wind um die Nase wehen lassen und einfach nur ohne Sorgen leben.

Oft dachte sie daran, wie es wäre, wenn ihr Leben so verlaufen wäre, wie sie es sich immer erträumt hat. Schon als Kind träumte sie diesen Traum. Sie wollte nie so leben, wie es ihre Eltern taten - in Armut und ohne jede Anerkennung.

Wenn sie so darüber nachdachte, haben ihre Eltern im Gegensatz zu ihr überhaupt nichts von ihrem Leben gehabt.

Ihre Mutter stand jeden Morgen als erste auf und machte erst einmal ein richtiges Feuer im Ofen, damit es halbwegs erträglich für die Familie wurde.

In der Küche, war der Boden mit einfachen Mauersteinen gefliest, so dass es im Winter immer sehr kalt in diesem Raum gewesen ist. Hinzu kam noch, dass man, wenn man von draußen aus der Kälte herein kam, sofort in der Küche stand. Einen Flur oder einen Zwischenraum, der die klirrende Kälte abfing, gab es nicht.

In der Ecke befand sich ein großer gemauerter Waschkessel, in welchem ihre Mutter immer einmal in der Woche die große Wäsche machte. Dazu wurde die Wäsche am Tage zuvor mit reichlich Soda eingeweicht, und am nächsten Tag wurde der Kessel mit ordentlich viel Holz, dass sie im Sommer aus dem Wald holten, angeheizt. Egal wie das Wetter auch war sogar bei Regen und Schnee, am Montag war bei Mama Maria Waschtag. Wenn das Wetter es nicht zuließ, und die Wäsche draußen nicht zum Trocknen aufgehängt werden konnte, spannte die Mutter eine Wäscheleine kreuz und quer durch das so genannte Wohnzimmer. Als Kind hasste Marydamals schon diese ungemütlichen Herbst- und Wintertage, weil sie ja wusste, dass dasbisher schon nicht gerade gemütliche Zimmer, nun noch weniger attraktiv und gemütlich werden würde.

Bis zum Trocknen der Wäsche vergingen immer so ein bis zwei Tage. Das bedeutete Einschränkungen in jeder Bewegung. Da ihre Mutter ja auch immer penibel darauf achtete, dass ihre so weiß gewaschene Wäsche ja nicht wieder unansehnlich wurde. Wenn sich dann auch noch unverhofft Besuch einstellte, wünschte Mary sich immer, es würde sich der Boden auftun und sie würde für alle Zeit darin verschwinden. So wollte sie eigentlich nie, dass irgendjemand von außen sieht, wie spartanisch sie doch in ihrem kleinen Häuschen eigentlich lebten. So kam es auch nie dazu, dass einmal Mitschüler zu Besuch kamen, um mit Mary zu spielen, zu sehr schämte sie sich für ihr Zuhause. Sie hatte immer panische Angst davor, dass einer Ihre Klassenkameraden entdecken würde, wie bescheiden sie mit ihrer Familie lebte.

Ein Zimmer für sich allein hatte Mary nicht. Bis zu ihrem 12. Lebensjahr schlief sie im Schlafzimmer der Eltern mit. Sie durfte immer in der Mitte des Bettes liegen, so konnte sie sich immer ganz nah an ihre Mutter kuscheln. Das war es was Mary immer sehr genossen hat. Sie liebte es, den Duft inhalieren zu können, den nur eine Mutter hat.

Der einzige freie Raum stand ihrem Bruder Bernard zur Verfügung, der nach dem Scheitern seine Ehe wieder bei den Eltern eingezogen war. Er machte allen das Leben zur Hölle. Vertrank sein ganzes Geld und wenn nichts mehr da war, randalierte er. Schon als kleines Kind haben Mary diese Erfahrungen geprägt. Einmal, es war an einem Silvesterabend, hatte er so viel getrunken, dass er mit einem Luftgewehr rumballerte und drohte, alle abzuknallen. Marys Vater ging entschlossen auf ihn zu und ehe sich der große Bruder versah, verpasste der Vater ihm zu seiner Überraschung eine Ohrfeige, nahm ihm das Luftgewehr aus der Hand und verließ den Raum. Wie mag es in Eltern aussehen, wenn man solche Erfahrungen mit dem eigenen Kind macht. Mary hat von diesem Tag an ihren Bruder immer gemieden, niemals hat sie ihm verzeihen können, was er da mit seinem Verhalten angerichtet hat.

Er war eben immer das Sorgenkind der Eltern gewesen. Sie hatten sicherlich viele schlaflose Nächte seinetwegen.

Mary nahm sich seit diesem Vorfall vor, niemals ihren Eltern Kummer zu bereiten. Irgendwann sollten sie stolz auf sie sein können, sie hatten es verdient, auch einmal ein Erfolgserlebnis zu haben. Sie sollten zumindest ihretwegen niemals traurig und enttäuscht sein. Jeden Tag arbeitete sie daran, versuchte ihnen auch ab und an einmal eine kleine Freude zu bereiten, jedenfalls versuchte sie es.

Zweimal hat sie erlebt, dass ein kleines Ferkel vom Bauern gekauft wurde, welches die Mutter dann mit viel Liebe groß gefüttert hat, um diese wenn es groß genug war, einfach zu schlachten. Beide Schweine hatten sogar einen Namen. „Hansi“. Mary hat von diesem Fleisch nie etwas essen können. So konnte sie einfach nicht begreifen, wie man ein Tier so liebevoll großziehen kann, es sogar liebevoll streichelt, um es dann aufzuessen.

Zumal „Hansi“ jedes Mal so etwas wie ein kleiner Kamerad für sie gewesen war.

Immer, wenn der Termin anstand, dass ihr kleiner Freund sterben sollte, ist sie weggelaufen. Irgendwohin am anderen Ende des Dorfes, doch die Todesschreie der Schweine holten sie überall ein.

Schon als kleines Kind musste sie oft ins Dorf, um dort einzukaufen. Sehr oft wurde vom Kaufmann angeschrieben, was sie kauften. Die meiste Zeit war kein Geld im Haus. Das Geld welches der Vater als Elektriker verdiente, reichte nie. Immerhin waren sie sechs Kinder, sechs Kinder die ernährt werden wollten. So erinnert sie sich noch mit Grauen daran, wie ihre Mutter sie, vielleicht, weil sie die Kleinste gewesen ist, zu irgendwelchen Bauern schickte um zu fragen, ob sie nicht für ein paar Schwarten übrig haben, davon kochte die Mutter dann immer einen kräftigen Eintopf. Oftmals waren noch kleine Schinkenreste dabei, über die sich die Mutter immer besonders freute. So meinte sie dann immer die Menschen meinten es eben gut mit ihrer Familie. Wenn man sich dann aber die guten Spenden etwas näher betrachtete, stellte man schnell fest, dass die großzügigen Spenden voller Maden waren. Doch Marys Mutter haute so etwas nicht um, sie legte die bewohnten Fleischteile in Salzwasser ein, so dass die Viecher dann irgendwie es nicht überlebte haben. Von den so genannten tollen Schinkenresten wurde dann wiederum ein deftiger Eintopf gekocht.

Am fiesesten fand Mary dann immer die Scheinheiligkeit der edlen Spender. Sie glaubten wunder nicht was für ein gutes Werk sie vollbracht hätten. Sie sollen heute noch elendig dafür in der Hölle schmoren, wenn es sie wirklich geben sollte. Das wünschte Mary sich jedes Mal.

Am meisten nervte Sie das Getue von Tante Gertrud. Sie war die Patentante ihrer älteren Schwester Waltraud. Tante Gertrud trug in Marys Phantasie immer so etwas wie einen „Heiligenschein“. Sie hielt sich wahrscheinlich selbst immer für die Mutter Maria. So wollte sie immer, dass Mary und ihre Geschwister fromm und gehorsam sind. Wenn sie sie mit ihr sprach, schloss sie immer dabei ganz andächtig die Augen. Mary fand sie damals als Kind schon lächerlich und fragte sich oft, was das solle? Zu ihrem lieben Gott beten und dankbar dafür sind, dass sie ein Leben hatten. Aber was war das denn für ein Leben für welches sie noch dankbar sein konnte. Schon damals kamen ihre ersten Zweifel, ob es diesen Gott überhaupt gibt. Er war wahrscheinlich überall, nur nicht bei ihrer Familie. Oft kam so etwas wie blanke Wut in ihr hoch, weil Mary dieses verlogene Getue als sehr nervig und scheinheilig empfand. Aber sie verhielt sich freundlich und entgegenkommend der Tante gegenüber, da sie ja nicht ohne eine Schwartenspende nach Hause kommen wollte.

Wenn Geld da war, kauften sie ein wenig Fleisch in der Freibank ein, das war halbwegs erschwinglich, welches dann auch wieder zu einer guten Suppe verarbeitet wurde. In den späteren Jahren wurde dann die Fleischauswahl etwas üppiger. Da kam dann am Sonntag schon mal ein guter Braten auf den Tisch. Mary musste sich damals als Kind schon immer davor ekeln, so hat sie dieses Fleisch auch niemals angerührt. Von da an träumte sie ihren Traum von einem schöneren, besseren lebenswerten Leben, eines das nicht von Armut und Entbehrungen geprägt sein sollte.

Der Vater hielt ein paar Kaninchen in einem kleinen selbstgebauten Stall. Liebevoll wurden diese Tiere versorgt. Mary hielt sich sehr oft an diesem Stall auf, um den kleinen Hasen ein paar Streicheleinheiten zu geben. Der Schock kam jedoch, als sie die toten Tiere an den Hinterbeinen aufgehängt, mit aufklaffendem Bauch an der Wand hängen sah. Sie wurde einmal Zeugin dieses Schlachtfestes und hatte nie Verständnis dafür, dass der Vater zu so etwas fähig gewesen ist. Aber die Not ließ ihm keine andere Wahl.

Sehr gut konnte sich Mary noch an Tante Lilo erinnern. Tante Lilo war eine sehr gute Freundin ihrer Mutter. Sie war mit einem Amerikaner verheiratet und lebte wohl einige Zeit Anfang der 50er Jahre mit ihrem Mann in Deutschland. Die Mutter lernte Tante Lilo damals im Krankenhaus kennen, als wieder eines ihrer Kinder geboren wurde. Es entwickelte sich wohl eine große intensive Freundschaft, denn in den 50er Jahren kam Tante Lilo mit ihrem Mann und ihrem Sohn Udo nach Deutschland, um der Familie einen Besuch abzustatten. Nie hat Mary vergessen können, als diese elegante und toll gekleidete Frau aus dem Auto stieg. Sie war eben eine richtige Amerikanerin, so wie man sie aus den alten amerikanischen Filmen kannte, sie hatte die Eleganz und die Schönheit der Grace Kelly für Mary, so hatte sich das Treffen von Tante Lilo in Mary Kopf eingebrannt. Ob sie wirklich so schön gewesen ist, wie sie sie mit ihren Augen sah, kann sie heute nicht mehr sagen. Für Mary war sie die tollste Frau, die ihr bis dahin begegnet war, sie war einfach eine tolle Lady. Noch heute kommt sie ins Schwärmen, wenn sie nur daran denkt. Wie oft träumte Mary davon auch so ein Leben führen zu können. Doch für Mary war alles nur ein Traum. Ein unerreichbarer Traum wie eine Flug zum Mond. Einer von vielen, der sich niemals erfüllen würde. Aber genau dieser Traum war es, der Mary hoffen ließ.

Seit sie nun dieser Tante begegnet war, verschlang sie im Fernsehen, als sich die Familie endlich einen leisten konnte, die amerikanischen Spielfilme. In jeder Ava Gardner, Audrey Hepburn, Marilyn Monroe und Rita Hayworth sah sie ihre Tante Lilo. Sie nahm sich immer wieder vor, so zu werden wie sie. Doch leider fühlte sie sich wie eine hässliche Ente, die sich wahrscheinlich niemals zu einem Schwan entpuppen würde. Ihr Traum jedoch begleitete sie ein Leben lang, bis heute hat sie es nicht geschafft, sich davon frei zu machen, es ließ sie einfach nicht mehr los .

Im Gegensatz zu ihrer Mutter, war Tante Lilo eine elegante Dame.

Sie war genau das Gegenteil von den Frauen, wie sie bei Mary im Dorf lebten. Mary kannte ihre Mutter nur mit einer Kittelschürze bekleidet. Wenn sie wirklich mal mit dem Vater fort ging, was sehr selten vorkam, trug sie noch ihr Kopftuch. Schon damals hatte Mary sich als Ziel gesetzt, sie möchte einmal so werden, wie ihre Tante Lilo es in Marys Erinnerungen war. In ihrem ganzen Leben war sie das Vorbild, das Mary so sehr vermisste und prägte. Für Mary hatte Tante Lilo immer etwas von einer Prinzessin. Aus ihren Gedanken hat sie sie nie ganz verloren, was hätte sie darum gegeben, sie noch einmal zu sehen. Aber irgendwie war sie plötzlich aus ihrem Leben verschwunden, aus ihrem Kopf jedoch nie. Auch ihre Mutter hatte keine Antwort darauf, was aus Tante Lilo geworden sein könnte. Irgendwie war plötzlich der Kontakt abgebrochen. Wahrscheinlich hatte es Tante Lilo auch zu Ansehen und Reichtum gebracht, so, dass sie auch von Mary und der Familie nichts mehr wissen wollte.

Für Mary war es schon sehr früh klar, so ein Leben, wie es ihre Mutter lebte, kam für sie niemals infrage, niemals wollte sie so ein Leben führen. Marys Leben sollte einmal ganz anders verlaufen, das hatte sie sich fest vorgenommen. Ihre älteren Schwestern gingen alle nach der Schulentlassung in einen Haushalt. Sie taten das, was Mary niemals wollte. Für andere Leute den Dreck weg machen. Sie fühlte sich zu etwas besserem berufen.

Wenn sie nur an die Hänseleien der anderen Mitschüler dachte, kam noch diese blanke Wut und Verzweiflung in ihr hoch. Wie oft wurde sie einfach grundlos von den anderen verprügelt und so hatte sie niemand der ihr hilfreich zur Seite gerückt wäre. Sie musste ihre Kämpfe allein austragen. Ihre Angst davon, in die Schule gehen zu müssen, wo man doch nur wieder auf Prügel hoffen konnte, wuchs mit jedem Tag. So kam es dann, dass Mary schon früh von einem besseren Leben träumte, einem Leben, das sich lohnte zu leben. Dieser Wunsch verstärkte sich von Tag zu Tag mehr in ihr, wilde Wut kam in ihr hoch, wenn sie daran dachte, wie man sie behandelte. Überall ließ man sie spüren, dass ich das kleine hässliche Mädchen aus dem Armenhaus war, das man zwar duldete, aber nicht akzeptierte.

Als sie die dritte Klasse besuchte und die anderen Kinder mit ihren Häusern, Bauernhöfen und Hab und Gut prahlten, ging sie eines Tages sehr deprimiert nach Hause. Irgendwie war es ihr nicht verborgen geblieben, dass die Elternhäuser ihrer Mitschüler sehr viel komfortabler ausgestattet waren als diese zerbrechliche Hütte, in der sie lebten. Ja das war sie wirklich. Man hatte den Eindruck, sie würde jeden Tag zusammenbrechen. Die Mauern waren alt und teilweise kaputt, das Dach war undicht,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Veronika Eger
Bildmaterialien: Veronika Eger
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2722-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen Kindern Michael, Martin und Nicole. Ich danke Euch für Eure Liebe.

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