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Der normale Alltag


"Wieder mal so ein Tag ohne Perspektive", dachte ich mir.
Dann klingelte es an der Tür.
„Hallo mein Freund“, sagte eine Stimme. „Wie geht es dir?“
„Beschissen„, antwortete ich.
„Siehst du, gute Freunde wissen wie es dem Anderen geht“
„Bitte mich doch herein“.
„Nein danke. Früher warst du zu lange und zu oft bei mir.“
„Habe ich dir nicht immer geholfen?“
„Ja schon, am Anfang.“
„Na siehst du, ich will dir doch nur helfen““
„Mir helfen? So wie damals?“
„Ja, so wie damals, als du voller Depressionen warst.“
„Ich erinnere mich noch gut daran. Du warst ein schlechter Freund.“
„Wieso ein schlechter Freund? Hab ich dir nicht geholfen, deine Sorgen für den Augenblick zu vergessen?“
„Ja, für den Augenblick. Danach hast du mich beherrscht.“
„Dich beherrscht? Wie meinst du das?“
„Ich konnte nicht mehr ohne dich sein. Du warst ständig da. Ich hatte nichts anderes im Sinn als dir nahe zu sein.“
„Wir hatten doch auch schöne Zeiten, oder?“
„Sicherlich hatten wir die, bis zu dem Zeitpunkt als aus der Freundschaft ein inniges Verhältnis wurde. Du hättest mich fast getötet.“
„Ich habe das Gefühl, dass du mich hasst.“
„Dich hassen? Nein. Du bist mir gleichgültig geworden. Such dir andere Freunde, die dich mögen. Ich brauche dich nicht mehr!“
„Du wirfst mich hinaus? Einen Freund, der dir immer treu war?
„Nein, ich werfe dich nicht hinaus. Ich bitte dich zu gehen, denn ich mag nicht mehr mit dir zusammen sein.“
Nachdem ich die Tür geschlossen habe, fragte meine Frau: „Mit wem hast du da geredet?“
„Mit einem ehemals guten Freund“, sagte ich.
„Wie hieß er?“
„Alkohol“, sagte ich und war zufrieden, dass ich ihn nicht in mein Haus gelassen hatte.
Ich muss immer daran denken, dass er immer wieder anklopft, der vermeintlich gute Freund.


Ich hasste ihn nicht, denn es gibt sehr viele Menschen, die mit ihm umgehen können.
ICH konnte es nicht. Also liess ich es.
Er begegnete mir überall. Er wechselte sein Aussehen.
Er versteckte sich in Speisen und Getränken





Kapitel 1

Ich war kaum 14 Jahre alt, als meine Mutter an Darmkrebs erkrankte. Die Situation war hoffnungslos und der Krebs nicht heilbar. Sie lag 1 Jahr zu Hause und wurde von unserer Nachbarin mit Morphium vollgespritzt, damit die Schmerzen erträglicher für sie waren. Es war schwer für mich, meine Mutter, die in meiner Kindheit alles für mich und meine Geschwister getan hatte, dass es uns gut geht, so leiden zu sehen.
Eines Tages zeigte sie mir ihre große Wunde in Form eines künstlichen Darmausgangs. Entzündet und feuerrot. Es tat mir so leid für sie. Das Ganze war für mich sehr niederschmetternd. Wie gerne hätte ich ihr geholfen.
Wir wussten nicht, wie lange sie noch zu leben hatte. Zu dieser Zeit musste ich tagsüber meine Arbeit für meine Lehrstelle verrichten und abends wieder nach Hause, um meine Mutter leiden zu sehen. "Lieber Gott", dachte ich mir, "womit hat sie das verdient?"
Kurz vor Ihrem Tod sagte sie mir, dass mein Vater nur mein Stiefvater sei. Mein richtiger Vater sei im Krieg in Russland verschollen gewesen und meine Mutter dachte, dass er tot sei. Deshalb suchte sie sich einen neuen Mann, um in dieser schlechten Zeit über die Runden zu kommen. Zu dieser Zeit erblickte ich das Licht dieser Welt. Eine Welt, die als ich diese Nachricht erfuhr, für mich wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Der Mann, den ich wie einen Vater geliebt hatte, war nur mein Stiefvater. Weinen konnte ich damals nicht, es fühlte sich an wie in einem Alptraum.
Eines Tages erreichte mich bei meiner Lehrstelle ein Anruf, in dem mir mitgeteiltwurde, dass Mama im Sterben liege. Ich war verzweifelt und wollte sie nicht sterben sehen. Ich ging absichtlich langsam zur Bushaltestelle, damit ich den Bus verpasste. Stattdessen ging ich ins Kino und nahm den nächsten Bus.
Als ich dann endlich zu Hause ankam war alles schon vorbei. Sie war gestorben. Sie sah so friedlich aus. Das Gesicht, das sonst von Schmerzen gezeichnet war, sah endlich zufrieden aus. Sie war damals 45 und eine sehr schöne Frau.
Bis zur Beerdigung lag sie, wie es früher üblich war, zu Hause in einem Sarg aufgebahrt. Ich ging öfters zu ihr, berührte ihren Körper und fühlte die Kälte, die von ihr ausging. Es war wie in einem schlechten Traum. Sie durfte einfach noch nicht gehen. Ich war erst 14. Nach ihrer Bestattung entstand eine Leere in mir, die ich manchmal mit Alkohol auffüllte.
Mein Stiefvater war mir vom Vater zu einem Freund geworden, der mir alles gab. Er selbst war auch nicht gesund. Lange Jahre im Bergbau hatten seine Lunge zerstört. Silikose. Meine Mutter hatte lange Jahre dafür gekämpft, dass Silikose als Berufskrankheit anerkannt wird. Jetzt, wo sie tot war, gaben ihr die öffentlichen Stellen recht.
Ich kann verstehen, dass mein Vater- ich sage Vater, obwohl er nur mein Stiefvater war- nicht alleine bleiben wollte. Ein Jahr, nachdem Mutter verstorben war, hatte mein Stiefvater eine neue Frau gefunden, die sich jedoch mit mir nicht verstand. Nach einigen Monaten erklärte mir mein Vater, dass ich ausziehen müsse. Seine neue Frau war ihm wichtiger. Für mich, gerade mal 14 Jahre alt, brach erneut eine Welt zusammen. Jetzt hatte ich nicht nur meine Mutter, sondern auch meinen Vater verloren.
Schon am nächsten Tag brachte er mich in ein Lehrlingswohnheim. Das sollte mein neues Zuhause für die Zeit meiner Lehre bei der Telekom werden. Von nun an war ich auf mich alleine gestellt.
Besonders die ersten Abende dieses neuen Lebens waren schrecklich. Ein fremdes Bett, eine neue Umgebung und eine unbeschreibliche Angst vor der Zukunft. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Probleme mit dem Alkohol, aber mein Weg war vorgezeichnet. Ich versuchte noch mehrmals mit meinem Stiefvater zu sprechen, doch ich hatte keinen Erfolg. All mein Flehen und Betteln half nichts. Seine Neue sagte: “wenn er zurückkommt, gehe ich!“ Was sollte er tun. Damals überkam mich eine Einsamkeit, die ich nie zuvor so gekannt hatte. Ich verfluchte meine Mutter, die mich so jung alleine gelassen hatte und die doch nichts dafür konnte. Zu diesem Zeitpunkt entstanden meine Lebensängste.
Im Laufe der Zeit merkte ich, dass es mir leichter fiel, alleine zu leben, wenn ich Alkohol trank. Die Wochenenden verbrachte ich in Bars und Bordellen, um mir die Einsamkeit zu vertreiben. Freunde hatte ich keine. Nur Saufkumpanen. Mit Frauen hatte ich nichts am Hut, da ich zu schüchtern war. Ich merkte nicht, dass dies der Beginn der Abhängigkeit war. Ich war schon voll im Alkoholismus. Ich trank!!!!! Es war schön, sich die Schüchternheit weg zu trinken. Ich fühlte mich locker und stark. Trotdem begannen zu diesem Zeitpunkt bereits meine Gedanken an Suizid. Ich kam mir nutzlos vor, ohne Freunde, ohne Familie. Ich hatte nichts. Es ist mir heute noch schleierhaft, wie ich meine Gesellenprüfung geschafft hatte.
Zu meiner restlichen Verwandtschaft hatte ich keinen Kontakt Die wohnten alle einige 100 km weit weg. Als dieses Gefühl der Einsamkeit mich fast zerstörte, rief ich meinen Halbbruder an, der in der Nähe von Saarbrücken wohnte. Ich verstand mich zu dieser Zeit mit seiner Frau nicht, fand aber, dass sie das kleinere Übel im Vergleich zu meiner Einsamkeit sei. Mein Halbbruder gab mir ein Zimmer bei ihm. Auch bekam ich sofort Arbeit bei der Telekom, bei der ich meine Lehre absolviert hatte. Ich war nun happy, weil ich ein Zuhause gefunden hatte.
Die Freude dauerte jedoch nur kurze Zeit. Bald fühlte ich mich wieder als das fünfte Rad am Wagen. Tagsüber ging ich meiner Arbeit nach und abends war wieder Kneipe angesagt.
An einem dieser Abende hatte ich ein sehr einschneidendes Erlebnis. Die Wirtin eines kleinen Gasthauses, die immer sehr nett zu mir war, sagte aus heiterem Himmel: „Ich bin deine Tante und die junge Frau dort drüben ist deine Schwester“. Ich dachte, dass mich der Schlag trifft. Sie stellte uns vor und wir beiden waren so verdutzt, dass wir kaum ein Wort herausbrachten. Wir erzählten uns viele Dinge aus unserem Leben, bis sie sagte, dass sie an die Bushaltestellte müsse, da ihre Mutter ankommt. Ich kannte die Linie und sagte, dass der Bus immer große Verspätung habe. So ließen wir uns noch ein wenig Zeit, und ich begleitete sie später zur Haltestelle. Dort angekommen schien der Bus zwar schon gekommen zu sein, allerdings ohne die Mutter. Aus der Ferne näherte sich ein kleiner Mann, der schimpfend auf meine Halbschwester zulief und ihr anschliessend ins Gesicht schlug. Ich ahnte dass es sich dabei um meinen Vater handeln musste. Ich fragte ihn, ob er mich kenne. Diese Frage verneinte er. Als ich ihm meinen Namen sagte, wurde er kreidebleich und meinte, dass meine Mutter gelogen habe und er nicht mein Vater sei. In diesem Moment sah ich rot, packte ihn am Kragen und drohte ihm an, dass ich ihn totschlagen würde, wenn er noch einmal lüge oder meine Halbschwester schlage.
Viel später erfuhr ich, dass er danach tagelang nichts geredet hätte. Ich hatte darauf noch einmal versucht mit ihm zu reden. Doch er drohte, den Hund auf mich zu hetzen. Das war mein Erlebnis mit meinem Vater. ich habe nie mehr etwas von ihm gehört, außer dass er einige Jahre später verstarb.
Zu dieser Zeit war ich sehr viel mit GIs zusammen, amerikanischen Soldaten, die in der Nähe stationiert waren. Wir machten sehr viele Mutproben, die wie folgt aussahen: Die Unterarme wurden ganz eng zusammengelegt. Dazwischen eine brennende Zigarette. Wer den Arm wegzog, musste die nächste Runde bezahlen. Wir bezahlten meist etwa gleich viel. Die Narben auf meinen Unterarmen zeugen heute noch von diesem Unsinn.
Es waren nicht nur die Narben auf den Armen, es waren auch die Narben auf meiner Seele, die mehr und mehr wurden, ohne dass ich es merkte. Ohne Alkohol war das Leben unerträglich. Er war zu meinem ständigen Begleiter geworden, ein vermeintlich guter Freund in allen Lebenslagen.
Ich sehnte mich so sehr nach einer Familie und einer Frau, die mich liebt. Aber ich war zu sehr mit dem Trinken beschäftigt. Mein Leben bestand nur aus Schlafen, Arbeiten, Saufen und dann wieder Schlafen. Ein Kreislauf, der sich täglich wiederholte.
Zu dieser Zeit lernte ich eine 10 Jahre ältere Frau kennen. Sie gefiel mir sehr, passte aber nicht in ihr Familienbild. Darum soff ich mir wieder meinen Frust weg und hatte das "Ich-armeSau- Gefühl".
In der Disco stand ich sehr oft am Toilettenfenster und wollte mich hinunterstürzen. Ich konnte nicht mit und auch nicht ohne Alkohol sein. Die Einsamkeit zermürbte mich immer mehr. Das Leben hatte seinen Sinn für mich verloren. Ich dachte nicht, dass es jetzt noch schlimmer kommen könnte. Aber es wurde schlimmer. Nämlich als ich kurz vor meiner Prüfung zum Beamten, meinen Musterungsbescheid und bald darauf der Einberufungsbescheid zur Bundeswehr kam. Jetzt musste ich mich unterordnen. Es war aus mit der Freiheit. Doch bald merkte ich, dass das Leben bei der Armee gar nicht so schlecht war. Ich musste mich nicht ums Essen oder die Wäsche kümmern. Geld war zwar wenig, aber zum Saufen reichte es.
Nach der Grundausbildung übernahm ich immer mehr Wochenendwachen. Die brachten wieder Geld zum Saufen. Ich brauchte immer mehr, um eine Wirkung zu erzielen.
Während dieser Militärzeit musste ich auch zu einem Lehrgang nach Bayern. Dort war ich an den Wochenenden in Kneipen und Discos anzutreffen. Hier lernte ich meine jetzige Frau kennen. Ich verliebte mich und hoffte auf eine Familie.
Jetzt, wo ich jemanden hatte, der für mich da war, kam meine große Eifersucht. In jedem sah ich einen Widersacher und ich trank immer mehr. Zu meinen Minderwertigkeitsgefühlen kam jetzt noch das Selbstmitleid dazu. Nur unter Alkohol fühlte ich mich wohl.
Nach meinem Lehrgang musste ich noch einmal für 3 Monate in meine alte Kaserne zurück. Dort war fühlte ich mich wieder fremd, weil alle meine alten Saufkumpane in der Zwischenzeit entlassen worden waren. Wieder war ich ohne einen Menschen, der mich liebt. Ich soff mir meinen Frust täglich weg. Ich wusste nicht, dass sich Probleme nicht ertränken lassen. Dass Probleme schwimmen können. Sie kamen immer wieder hoch.
Meine Vorgesetzten hatten sicherlich keine Freude an mir. Ich bekam ein Disziplinarverfahren nach dem anderen aufgebrummt. Endlich kam dann der Tag der Entlassung. Ich hatte mir einen Hut und einen Stock gebastelt wie es für Reservisten so üblich war.
Die Fahrt zu meiner Freundin dauerte 2 Tage, was für mich zwei Tage Dauerrausch bedeutete. Wie muss ich bei der Ankunft ausgesehen haben und welch erbärmlichen Eindruck musste ich hinterlassen haben. "Jetzt fängt mein neues Leben an", dachte ich mir, als ich aus dem Zug stieg.

Impressum

Texte: Copyright Hans E Rohe Alle Rechte an Texten und Bildern liegen beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meiner Familie und meiner Selbsthilfegruppe

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