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Babusch der Clown


Solange Moritz sich erinnern konnte, träumte er davon, ein Clown zu sein. Und wann immer ein Zirkus in der Stadt war, oder eine Zirkussendung im Fernsehen lief, Moritz saß gebannt im Zirkuszelt oder vor dem Bildschirm und vergaß alles um sich herum. Er kannte auch beinahe alle Clowns der verschiedenen Zirkusunternehmen mit Namen, doch am meisten liebte er „Babusch“, den Clown des sehr bekannten Zirkus „Busch und Busch“. Doch leider hatte er ihn bislang nur im Fernsehen bewundern können, denn in Moritz Heimatstadt hatte dieser Zirkus noch nie gastiert.
Moritz war zehn Jahre alt, und lebte mit seinen Eltern in einer kleinen Stadt. Sie bewohnten ein hübsches Haus mit Garten, Moritz besaß einen Hund, den er natürlich „Babusch“ getauft hatte, und überhaupt ging es ihm recht gut, wenn er nur nicht so ein „Tagträumer“ gewesen wäre, wie der Vater ihn immer scherzhaft nannte.
Ja, Moritz war wirklich ein Tagträumer. Er konnte stundenlang auf der Wiese liegen und in den Himmel starren, und in den Wolkengebilden erkannte er immer wieder sich selbst im Clownskostüm.
Eines Tages, als Moritz aus der Schule kam, hingen überall bunte Plakate. Moritz riss vor Staunen die Augen groß auf, denn der Zirkus „Busch und Busch“ meldete sein Kommen an. Wie der Blitz rannte Moritz nach Hause, und brüllte schon im Flur: „Mama, Mama, der Zirkus mit Babusch kommt, kann ich gleich Karten besorgen?“
„Nun mal langsam, Moritz“, wehrte die Mutter ab, „wir werden schon noch Karten bekommen, du kannst dich also wieder beruhigen.“
„Na gut“, brummte Moritz enttäuscht, er wäre natürlich am liebsten gleich los gelaufen, um ganz sicher zu sein, dass sie auch wirklich den Zirkus besuchten, doch wie immer musste er warten. Nie begriffen die Erwachsenen, dass er so wichtige Dinge sofort erledigen wollte. Unwillig stapfte er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, warf dort seinen Tornister auf sein Bett und ließ sich in einen Sessel fallen. Es war ganz schön schwer, ein Kind zu sein. Dabei war er schon zehn Jahre alt, also doch kein Baby mehr. Aber anscheinend merkten die Erwachsenen das nicht.
Am nächsten Tag machte Moritz nach der Schule einen Umweg. Er ging zu dem großen Kirmesplatz um zu sehen, ob womöglich schon Zirkuswagen angekommen waren. Und tatsächlich. Jede Menge dieser Wagen versperrten Straße und Einfahrt zum Kirmesplatz. Moritz staunte, denn so viele Wohnwagen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. Vorsichtig schlich er heran, um alles genau zu bewundern. Und wer weiß, vielleicht sah er auch irgendwo in diesem Gewühle seinen geliebten Clown Babusch. Doch an diesem Tag war außer den vielen Zirkuswagen nicht viel zu entdecken, und so machte Moritz sich enttäuscht auf den Heimweg.
Doch am folgenden Tag sah alles schon ganz anders aus. Als Moritz nach der Schule zum Kirmesplatz kam, standen die Wohnwagen wohl geordnet nebeneinander am Rande des Platzes und in der Mitte wurde gerade ein Zelt aufgerichtet. Puh, war das spannend. Moritz bekam ganz rote Wangen vor lauter Aufregung. Er schlenderte an den vielen lauten Männern vorbei zu den Wohnwagen und schaute sie sich aufmerksam an. Richtig hübsch sahen sie aus. Manche hatten kleine Balkone, an deren Geländer Blumenkästen hingen. Überall an den Fenstern waren Gardinen und die Scheiben glänzten richtig in der Sonne, so sauber waren sie.
„Hier möchte ich wohnen“, sagte Moritz laut, er konnte es selbst nicht glauben, aber er hatte ein Gefühl, als sei er nach Hause gekommen.
„Du möchtest hier wohnen?“ fragte auf einmal eine Stimme hinter ihm. Moritz fuhr erschrocken herum, er hatte nämlich bisher nur die Arbeiter gesehen, die lautstark das Zelt aufbauten. Die Wohnwagen schienen menschenleer zu sein. Doch nun stand plötzlich ein älterer weißhaariger Mann neben ihm, der ihn aus leuchtend blauen Augen, die hinter einer randlosen Brille versteckt waren, freundlich anlächelte. Doch auf einmal verschwand das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes, er ging einen Schritt zurück und fragte erstaunt:
„Wer, wer bist du, und wie kommst du hierher?“ Und dabei starrte er Moritz so forschend an, dass dem angst und bange wurde.
„Ich heiße Moritz Bender und wollte mir nur mal den Zirkus ansehen“, stotterte er verlegen, und wollte weglaufen. Doch der Mann hielt ihn am Ärmel fest.
„Warte, mein Junge“, sagte er und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, „du musst keine Angst vor mir haben. Ich habe dich nur für einen Augenblick für einen anderen Jungen gehalten. Komm, wenn du willst, zeige ich dir, was du sehen möchtest.“
„Wirklich?“ freute sich Moritz, „wissen Sie, ich bin so froh, dass dieser Zirkus endlich auch einmal in unserer Stadt gastiert, denn bisher konnte ich ihn immer nur im Fernsehen bewundern.“
„So?“ sagte der Mann, „Du kennst unseren Zirkus aus dem Fernsehen. Das freut mich aber. Was soll ich dir zeigen, alles, oder möchtest du lieber Tiere oder...“
„Wenn Sie mich so fragen“, unterbrach Moritz ihn aufgeregt, „dann sage ich Ihnen gleich, dass ich am allerliebsten den Clown Babusch sehen möchte.“
„Den Clown Babusch?“ sagte der Mann erstaunt, und sah Moritz wieder so komisch an.
„Ja“, nickte Moritz, „ich will auch Clown werden, und wenn auch alle darüber lachen, aber sie werden schon sehen, eines Tages bin ich Clown, und dann bin ich genauso gut wie Babusch, oder fast so gut.“ Moritz war ganz begeistert und seine blauen Augen blitzten richtig.
„Mein Gott“, sagte der Mann, fasste sich an sein Herz, und taumelte ein wenig.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ wollte Moritz wissen.
„Doch, doch, es geht mir gut, ich bin nur manchmal etwas müde, weißt du, aber ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. Komm mit, dort drüben sollst du Babusch sehen.“ Er nahm Moritz bei der Hand und lief mit ihm zu einem Wohnwagen.
Und nun betrat Moritz zum erstenmal in seinem Leben einen Zirkuswagen, und wieder kam es ihm vor, als sei er nach Hause gekommen. Er schüttelte sich ein wenig, denn er hatte ein Gefühl, als ob er träumte. Der Mann deutete auf einen Stuhl. „Setz dich dorthin und warte einen Augenblick“, sagte er und ging durch einen Vorhang hinaus.
Moritz fühlte sich wie im Märchen, setzte sich auf den Stuhl und schaute sich staunend um.
Im Wohnwagen sah es noch schöner aus, als er sich das vorgestellt hatte, es war eingerichtet wie eine Wohnung nur etwas kleiner, und alles war blitzsauber. Die Wände waren voller Fotos. Moritz stand auf, um sich die Bilder anzusehen. Doch was war das? Er riss staunend Mund und Augen auf, denn viele Bilder eines Jungen im Clownskostüm hingen dort, und dieser Junge sah Moritz zum Verwechseln ähnlich. Moritz starrte wie hypnotisiert darauf, das konnte doch nicht sein, wie kamen solche Bilder an diese Wand? Hilflos schaute er sich um, da teilte sich der Vorhang und wer kam herein? Wirklich und wahrhaftig sein geliebter Clown Babusch. Moritz konnte vor Freude gar nichts sagen, doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes, der Clown griff mit beiden Händen in den Vorhang und rutschte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Moritz stand einen Moment wie erstarrt, doch schnell fasste er sich, hockte sich neben Babusch und sagte beruhigend:
„Hab keine Angst, lieber Babusch, mein Vater ist Arzt, den rufe ich jetzt an, und du wirst sehen, dann geht’s dir bald wieder gut.“ Zum Glück lag ein Telefon auf dem Tisch. Schnell wählte Moritz die Praxisnummer, und war auch bald mit seinem Vater verbunden.
„Papa, Papa, bitte komm schnell“, schrie er ins Telefon, „der Clown Babusch liegt in seinem Wohnwagen und kann sich nicht bewegen.“ Der Vater sagte beruhigend: „Keine Angst, mein Junge, ich komme so schnell ich kann.“ Und tatsächlich, es dauerte gar nicht lange, und Moritz sah seinen Vater mit der Arzttasche über den Platz hetzen, gefolgt von einem Krankenwagen mit eingeschalteter Sirene.
Inzwischen hatte Babusch sich wieder aufgerappelt und versuchte sich am Vorhang hochzuziehen. Doch er sank immer wieder zurück. Jetzt sah er Moritz flehend an:
„Bitte keinen Arzt“, bat er mit matter Stimme, „es geht mir gleich wieder besser.“ Er saß nun vor dem Vorhang, hatte die Knie angewinkelt, die Hände darüber gefaltet und sein Kinn darauf gelegt. Die hohe Mütze mit den dicken gelben und roten Pompons war verrutscht, und die lange rote Jacke baumelte an seinen blau behosten Beinen wie ein zweiter Vorhang herab.
Ganz schrecklich traurig sah er aus, trotz seiner dicken roten Nase und dem grell geschminkten Gesicht. Moritz setzte sich neben ihn, und streichelte zaghaft seine Hand.
„Du bist ein guter Junge“, sagte Babusch. Doch bevor Moritz antworten konnte wurde die Tür aufgerissen, und sein Vater, mehrere Sanitäter und ein Mann in Uniform stürmten herein.
„Himmel, Balthasar, was ist los?“ fragte der Uniformierte, doch er wurde von Moritz Vater ein wenig unsanft zur Seite geschoben. „Später“, sagte er, „zuerst bin ich am Zuge.“ Er öffnete seine Tasche und wollte sich zu dem Kranken herunter beugen, da sank der alte Clown erneut Boden. Dabei schaute er unverwandt auf Moritz Vater und murmelte immer wieder den Namen Nikolai.
„Papa, meint er dich?“ fragte Moritz. Der Vater antwortete nicht, sondern untersuchte den alten Mann.
„Zum Glück kein Herzinfarkt“, sagte er zu dem Uniformierten, der auf einen Stuhl gesunken war, und aus großen Augen von Moritz zu seinem Vater, und von diesem wieder zu Moritz starrte. „Der Mann muss jedoch zu weiteren Untersuchungen ins Krankenhaus“, fuhr Moritz Vater fort, und winkte die Sanitäter mit einer Trage heran. Behutsam legten sie Babusch darauf und trugen ihn zum Krankenwagen. Moritz ging neben der Trage und hielt die Hand des Mannes. „Ich komme Sie im Krankenhaus besuchen“, sagte er tröstend, der Clown lächelte dankbar, doch es sah ein wenig kläglich aus. Die Sanitäter schlossen die Türen des Krankenwagens und fuhren mit eingestellter Sirene davon.
Moritz schaute sich suchend nach seinem Vater um, und da er ihn nicht sah, aber Stimmen aus dem Wohnwagen hörte, ging er zurück.
„Es tut mir leid“, hörte er die Stimme seines Vaters sagen, „aber Sie müssen sich irren. Mein Name ist Michael Bender, mein Vater ist schon vor langer Zeit gestorben, und diese Ähnlichkeit muss ein Zufall sein.“
„An solche Zufälle glaube ich nicht“, sagte eine andere männliche Stimme, „schauen Sie sich diesen Jungen auf dem Foto an, es könnte Ihr Sohn sein.“
„Mag ja sein“, die Stimme des Vaters klang jetzt ein wenig ungeduldig, „aber ich muss zurück in meine Praxis, ich kann Ihnen beim besten Willen nichts anderes sagen...“
„Moment mal“, die andere Stimme klang nun ziemlich aufgeregt, „Bender sagten Sie? Aber natürlich, die Frau meines Bruders Balthasar war eine geborene Bender und hieß mit Vornamen Carlotta.“
Moritz war inzwischen die Stufen zum Wohnwagen hinaufgegangen und schaute durch die offene Tür ins Innere. Sein Vater stand mit der Arzttasche vor dem uniformierten Mann und schaute ein wenig verwundert zu ihm hinunter.
„Meine Mutter heißt tatsächlich Carlotta“, sagte er mit etwas rauer Stimme, „aber ich muss nun los, hier ist meine Karte, bitte rufen Sie mich an.“ Er stürmte aus dem Wohnwagen, an Moritz vorbei ohne ihn wahrzunehmen und lief mit wehendem Mantel zu seinem Auto, das er in der Nähe des Zeltes geparkt hatte. Moritz schaute ihm verwundert hinterher, sein sonst so ruhiger Vater schien ziemlich aufgeregt zu sein.
Der Mann in der Uniform saß unbeweglich am Tisch des Wohnwagens und starrte auf die Karte in seiner Hand. Moritz ging vorsichtig zu ihm, und legte die Hand auf seine Schulter.
„Sind Sie Babuschs Bruder?“ fragte er.
Der Mann fuhr herum, und als er Moritz erkannte lächelte er.
„Ja, ich bin Babuschs Bruder Bernhard“, sagte er, stand auf und zog Moritz zu der Fotowand.
„Siehst du diesen Jungen? Das ist Babuschs Sohn Nikolai. Er hat mit 16 Jahren den Zirkus verlassen und nie wieder etwas von sich hören lassen. Aber Babusch hatte noch einen zweiten Sohn, Nikolais Zwillingsbruder Michael, den hat seine Frau vor vielen vielen Jahren
mitgenommen, als sie Babusch verließ. Und auch von dem hat er nie wieder etwas gehört. Kannst du dir vorstellen, wie traurig er all die Jahre war? Und nun tauchst du heute hier auf und siehst Nikolai zum Verwechseln ähnlich, dann kommt auch noch dein Vater und sieht aus wie Nikolai, ist es ein Wunder, dass der arme Balthasar einen Herzanfall bekommt?“
„Balthasar?“ fragte Moritz, er verstand überhaupt nichts mehr.
„Ja, Balthasar Busch, genannt Babusch, der beste Clown, den es gibt, aber vielleicht ist er nur darum so gut, weil er die ganzen Jahre so einen großen Kummer hatte, ach, ich rede Unsinn. Komm, mein Junge, du...“ Er hielt inne, denn plötzlich stand Moritz Vater wieder vor ihnen.
„Wir müssen reden“, sagte er mit gepresster Stimme, „haben Sie Zeit?“
„Ja, wir müssen reden, und dafür nehme ich mir Zeit.“
Erst jetzt entdeckte der Vater Moritz.
„Was machst du denn hier?“ fragte er erstaunt, „meinst du nicht, dass Mama sich Sorgen macht, wenn du nicht pünktlich zu Hause bist?“
„Ja, aber ich will...“ stotterte Moritz.
„Jetzt willst du erst einmal nach Hause“; sagte der Vater, „und wir fahren gemeinsam, kommen Sie.“ Er nahm den Arm des Uniformierten, zog ihn aus dem Wohnwagen und zusammen stiegen sie in sein Auto. Moritz saß ganz still auf der Rückbank. In seinem Kopf wirbelte es, denn irgendwie schien heute alles durcheinander zu geraten. Ob Papa wirklich etwas mit dem Jungen auf dem Foto zu tun hatte? Oder er, Moritz? Komisch war das alles, und Moritz war gespannt, was Mama dazu sagen würde, und Omi Carlotta?
Als sie zu Hause ankamen stand Moritz Mutter schon in der Tür und hinter ihr tauchte nun auch Omi Carlotta auf, ganz blass sah sie aus, und ein wenig schuldbewusst, fand Moritz.
Bernhard Busch stieg aus und ging auf sie zu, unmittelbar vor ihr blieb er stehen und schaute sie verwundert an:
„Also doch, Carlotta, auch nach fast vierzig Jahren erkenne ich dich sofort. Warum sagt dein Sohn, dass sein Vater verstorben ist?“ Carlotta senkte schuldbewusst den Kopf.
„Nun kommen Sie erst einmal herein“, sagte jetzt Moritz Mutter zu Bernhard, der noch immer seine Uniform trug. Alle gingen ins Haus, setzten sich ins Wohnzimmer und schauten fragend Omi Carlotta an.
„Das ist eine lange Geschichte“, begann Carlotta.
„Wir haben Zeit“, sagte Moritz Vater, er sah sehr ernst aus, „es ist Mittwoch, und meine Praxis ist heute Nachmittag geschlossen, also bitte, fang an.“ Doch nun fiel sein Blick auf Moritz.
„Ich glaube es ist besser, wenn Moritz in sein Zimmer geht“, sagte er zu seiner Frau Susanne.
Moritz wollte protestieren, doch seine Mutter schüttelte den Kopf.
„Komm, mein Schatz“, sagte sie, nahm Moritz in den Arm und schob ihn zur Tür. Murrend verließ er den Raum, so eine Gemeinheit, immer wenn es spannend wurde, musste er in sein Zimmer. Die Mutter schaute ihm nach, bis er oben war, und ging zurück ins Wohnzimmer.
Moritz wartete noch ein Weilchen, schlich die Treppe wieder hinab und durch die Haustüre hinaus. Dann holte er sein Fahrrad aus dem Schuppen und radelte zum Krankenhaus. Was mit den Erwachsenen los war, wusste er nicht, aber dass die ganze Aufregung mit seinem geliebten Clown Babusch zu tun hatte, war ihm klar. Darum wollte er ihn besuchen, und wer weiß, vielleicht konnte der ihm ja sagen, wieso er in seinem Wohnwagen Fotos an der Wand hingen, die von Moritz hätten sein können.
Moritz hatte tatsächlich Glück, denn als er eine Schwester nach Babuschs Zimmer fragte, bekam er ohne weiteres Auskunft. Leise klopfte er an die Tür, und als er ein mattes „Herein“ hörte, schlüpfte er schnell hinein. Babuschs Gesicht war abgeschminkt, und er sah richtig blass und krank aus. Doch als er Moritz erkannte, hellte sich sein Gesicht auf.
„Komm zu mir, mein Junge“, sagte er, Moritz trat zögernd näher, zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich darauf. Forschend schaute er in das Gesicht des Mannes, das ihm irgendwie vertraut war.
Eine ganze Weile schauten sich der Junge und der ältere Mann an, ohne dass einer von ihnen ein Wort sagte. Wie selbstverständlich legte Moritz seine Knabenhand auf die schmale Hand des Mannes und lächelte ihn an. Babusch lächelte zurück, und Moritz hatte das Gefühl, als sei alles in bester Ordnung.
„Moritz Bender heißt du?“ fragte der Clown nach einer langen Zeit, es klang ganz ruhig, und als Moritz nickte, nickte er ebenfalls, als wollte er etwas bestätigen. Wieder schwiegen beide und jeder hing seinen Gedanken nach.
„Dein Vater heißt Michael?“ Erneut nickte Moritz und sagte dann: „Meine Omi heißt mit Vornamen Carlotta.“
„Na klar“, lachte der Clown, es klang wie befreit, „sie heißt Carlotta. Nur eine Carlotta kann so ein Chaos anrichten.“ Moritz lachte: „Ja, das sagt Papa auch immer, und zu mir sagt er, ich wäre ein Tagträumer, weil ich stundenlang auf der Wiese liege und vor mich hinträume.“
„So“, schmunzelte Babusch, “tust du das? Und was träumst du dann?“
„Ich schaue in die Wolken und sehe mich als Clown“, sagte Moritz.
„Ist das zu fassen, er schaut in die Wolken und sieht sich als Clown“, freute sich der alte Mann. Doch bevor er weitersprechen konnte, klopfte es leise an die Tür.
„Herein“, riefen Moritz und Babusch wie aus einem Mund. Die Türe wurde geöffnet und Omi Carlottas Kopf schaute durch den Spalt. „Chaos- Omi- Carlotta“, flüsterte Moritz Babusch zu. Das Gesicht des alten Mannes schien noch eine Spur blasser zu werden. Moritz wollte aufstehen, doch Babuschs Hand umklammerte ganz fest die seine. „Oh nein, bleib hier“, flüsterte er bittend.
„Moritz, was machst du denn hier?“ fragte Omi Carlotta als sie näher kam.
„Hat er nicht ein Recht hier zu sein?“ fragte Babusch und schaute Carlotta forschend an.
„Du weißt es!“ sagte Carlotta, es klang wie eine Feststellung nicht wie eine Frage. Moritz schaute von einem zum anderen. Sie schienen ihn vergessen zu haben, denn sie hatten nur Augen füreinander. Vorsichtig zog er seine Hand weg und wollte hinausgehen, da klopfte es erneut, und nun kam Papa Michael herein. Moritz sprang rasch auf und lief durch die offene Tür in den Krankenhausflur. Er war total verwirrt, ließ sich in den nächstbesten Besuchersessel fallen, und stützte den Kopf in die Hände.
„Na, mein Schatz, solltest du nicht zu Hause in deinem Zimmer sein?“ sagte plötzlich neben ihm die Stimme seiner Mutter Susanne.
„Mama“, sagte Moritz erleichtert und flüchtete in ihre Arme, „ich verstehe das alles nicht.“
„Wie sollst du das auch verstehen, Papa und ich verstehen es ja kaum“, sanft wiegte die Mutter Moritz in ihren Armen, doch er richtete sich plötzlich auf.
„Mama, sag mal, ist Babusch Papas Vater? Aber warum hat Omi immer gesagt der wäre tot, und warum...?“
„Nun mal langsam, Moritz“, sagte die Mutter liebevoll, „vor vielen Jahren sind viele Dinge passiert, warum, das wissen nur die Beteiligten. Ja, Babusch ist Papas Vater und Omi hat das aus welchen Gründen auch immer, verschwiegen, und wir müssen das respektieren. Aber es ist ja noch nicht zu spät. Papa hat seinen Vater gefunden, du hast einen Großvater, einen Großonkel und weiß der Himmel was sonst noch alles, und warum das so ist und nicht anders, soll uns im Augenblick gleichgültig sein. Freu dich darüber, und lass das warum. Ich denke, nach und nach wirst du alles erfahren, aber für heute reicht das doch, oder?“
„Ja“, sagte Moritz aus tiefstem Herzen, „das reicht, Mama, Babusch ist wirklich und wahrhaftig mein Großvater? Etwas Schöneres kann ich mir gar nicht vorstellen, darf ich zu ihm?“ Die Mutter nickte lächelnd.
„Komm“, sagte sie und nahm Moritz bei der Hand, „wir wollen mal sehen, was die anderen so machen.“ Sie gingen zu Babuschs Zimmer, öffneten leise die Tür und schauten hinein.
Und wenig später sah man einen glücklichen Moritz am Bett seines Großvaters sitzen, und alle Fragen, die ihm kurz zuvor auf der Seele gebrannt hatten, waren für den Moment vergessen.
Wenige Tage später wurde Babusch aus dem Krankenhaus entlassen, und dann konnte Moritz endlich die erste Vorstellung des Zirkus Busch und Busch leibhaftig erleben. Seine ganze Klasse war in der Vorstellung und natürlich die Eltern, Omi Carlotta und alle Freunde und Moritz wusste, dass er wirklich und wahrhaftig nichts anderes werden würde als ein Clown.
Natürlich musste er erst die Schule zu Ende bringen, das hatte er Eltern und Großvater versprochen, aber den größten Teil der Ferien würde er in Zukunft bei Großvater Babusch und Großonkel Bernhard verbringen, das wiederum hatten die Eltern versprochen.
Es war eine glückliche Zeit, die Moritz verlebte, er kam sich manchmal vor wie im Traum. Und als der Zirkus dann weiterzog, war er zwar ein wenig traurig, doch die Ferien waren ja nicht mehr weit, und bis dahin konnte er es schon aushalten.
Und noch eine Überraschung wartete auf Moritz, seine Eltern und Oma- Carlotta. Die Zeitungen hatten irgendwie Wind von der wunderbaren Familienzusammenführung bekommen, und berichteten ausführlich darüber. Und eines Tages, als Moritz aus der Schule kam, saß ein Mann im Wohnzimmer, der Papa zum verwechseln ähnlich sah. Moritz schaute staunend von einem zum anderen, da sagte Papa:
„Moritz, das ist mein Zwillingsbruder Nikolai, von ihm stammten die Fotos, die in Großvaters Wohnwagen an der Wand hingen.“
„Und du hast nicht gewusst, dass es einen Zwillingsbruder gab?“ fragte Moritz.
„Nein, Moritz, ich habe es nicht gewusst, aber Nikolai wusste, dass ich da war, nur hat er mich nicht gefunden, da Omi mir ja einen anderen Nachnamen gegeben hatte.“
„Es tut mir alles so leid“, sagte Omi- Carlotta, „doch ich dachte damals, es sei das Beste so, könnt ihr mir verzeihen?“
Papa nickte, doch Nikolai schüttelte energisch den Kopf:
„Nein, ich glaube nicht, dass ich verzeihen kann, dass ich ohne Mutter und Bruder aufgewachsen bin. Allerdings habe ich auch ein schlechtes Gewissen, ich bin damals nach einem Streit mit Vater einfach weggelaufen, und habe mich nie mehr bei ihm gemeldet. Die Zeit wird zeigen, ob vielleicht doch noch alles gut wird.“
„Das wird es bestimmt“, sagte Moritz im Brustton der Überzeugung, „jetzt, wo wir uns alle wiedergefunden haben.“ Und dann lief er zu seinem neuen Onkel, umarmte ihn strahlend und fragte:
„Hast du Kinder?“ Alle lachten und Nikolai schüttelte ein wenig betrübt den Kopf:
„Nein“, sagte er bedauernd, „ich habe noch nicht einmal eine Frau.“
„Na, da kann man ja rankommen“, meinte Moritz und verstand gar nicht, dass wieder alle lachten. Außer Omi- Carlotta, die saß ein bisschen abseits und schaute recht traurig vor sich hin.
Plötzlich stand Nikolai auf und ging zu ihr. Er legte die Hand auf ihre Schulter und sagte:
„Nun lass es gut sein, Carlotta, Moritz hat recht, die Hauptsache ist doch, dass wir uns endlich wiedergefunden haben.“
„Genau“, sagte Moritz, „und jetzt rufe ich Großvater an.“ Und das tat er dann auch, und nach einer Weile gab er den Hörer an Nikolai. Nikolai sprach lange mit seinem Vater und versprach, ihn dort, wo er jetzt mit dem Zirkus gastierte, zu besuchen.
Später wollte Moritz wissen, ob Nikolai auch bei einem Zirkus sei. Doch Nikolai schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin Sportlehrer geworden, nachdem ich mich zunächst mit Gelegenheitsjobs auf Jahrmärkten durchgeschlagen habe. Ich habe es nie bereut, denn ich liebe Sport und mag Kinder.“
„Aber ich werde Clown“, sagte Moritz, „solange ich denken kann, will ich einer werden, und dann hat Großvater wenigstens einen Nachfolger.“
„Jawoll“, lachte Nikolai und die anderen stimmten ein.
Als Moritz an diesem Abend im Bett lag, konnte er zunächst nicht einschlafen. Es schwirrten wahnsinnig viele Gedanken in seinem Kopf herum, und er konnte überhaupt nicht begreifen, dass Omi- Carlotta die ganzen Jahre nichts von Babusch und Nikolai erzählt hatte. Doch dann fiel ihm ein, was der Großvater im Krankenhaus gesagt hatte, und er musste lachen.
„So ein Chaos kann auch nur Carlotta anrichten.“ „Stimmt“, sagte Moritz laut, „Carlotta ist eben eine Chaos- Omi.“ Und mit dem Gedanken schlief er ein.

Impressum

Texte: by rosenjuleCover Dietrich von Plettenberg
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2011

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