Goldregen
Dänemark, Juni 1947, nur noch zwei Tage und es geht zurück nach Deutschland. Mehr als zwei Jahre waren wir hier im Flüchtlingslager, eingezäunt und bewacht von deutschen und dänischen Wachtposten. Und in Deutschland gab es keine Zäune und keine Posten mehr? Wir Kinder könnten überall hingehen? Obst aufsammeln, schwimmen gehen ohne Begleitung, so frei wie die Vögel am Himmel?
Ich war sehr aufgeregt, denn endlich sollte ich meinen Vater wiedersehen, an den ich kaum eine Erinnerung hatte. Da, wo er jetzt war, in einem Dorf im Rheinland, würde es auch genügend Brot geben, und Hunger, nein, den hätten wir dann nicht mehr. Dort kann jeder so viele Teller zu Mittag essen, wie er will, das hatte er mir geschrieben. Auch Kuchen bekäme ich, er würde mir einen großen Kuchen zum Empfang backen.
Diesen Brief hatte ich meinen Freundinnen vorgelesen, und zwei Mädchen weinten, denn nicht alle hatten das Glück, so schnell nach Hause zu kommen. Nach Hause? Wo war das, eigentlich kamen wir ja aus Danzig, von dort hatten wir fliehen müssen, ob wir dann wieder dorthin zurückkehren würden? Immer, wenn ich meine Mutter oder Tante Mia danach fragte, zuckten sie die Achseln und wurden ganz traurig. Na ja, mir wars egal, Hauptsache, ich sah endlich meinen Vater wieder
Zum Abschluss wollten wir noch einmal schön spielen. Vater, Mutter, Kind. Ich war mal wieder das Kind und die Mutter zauberte ein schönes Mittagessen. Wo die wohl die Erbsen her hatte? Ein bisschen komisch schmeckten die ja, aber, sie waren ja auch nicht wirklich gekocht, unsere Spielmutter hatte ja nur so getan, als sie die kleine verbeulte Dose auf zwei Steine gesetzt hatte, um die Erbsen angeblich zu kochen.
Irgendwann war mir komisch, ich fiel einfach um und schloss die Augen, weil die Sonne mich so blendete. Und dann bekam ich Bauchkrämpfe und musste erbrechen, mir war so schlecht, dass ich dachte, jetzt müsste ich sterben, ohne meinen Vater wiedergesehen zu haben.
Ich brach und brach, und schrie immer wieder nach meinem Vater:
“Werner, Du musst Vati Bescheid sagen, er muss kommen, weil ich jetzt sterbe, Wernerchen, bitte, ich will einmal noch Vati wiedersehen.“
„Du wirst nicht sterben, Julchen“, sagte mein Bruder und hielt mich ganz fest. „Was soll ich ohne meinen kleinen Oberbefehlshaber machen? Brich den ganzen Mist aus, aber wehe du stirbst.“
Irgendwann fiel ich in Ohnmacht, aber die Lagerärzte gaben mich nicht auf, und Stunden später, als ich langsam wieder zu mir kam, sah ich alle an meinem Bett sitzen, Werner, meine Mutter, Tante Mia und Cousine Hannelore.
„Es war so heiß“, füstertete ich, „ich war bei Vati im Rheinland, aber das liegt in Afrika.“
„Egal wo es liegt“, sagte meine Mutter, „die Hauptsache ist, ich muss Deinem Vater nicht ohne sein Julchen unter die Augen treten."
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2011
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