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Benni und Spatzenliesel

Die Klassenlehrerin Frau Bender hatte heute ihrer Klasse einen neuen Mitschüler vorgestellt. Leonhard Klaasen war sein Name, und eigentlich fanden Benni und sein Freund Daniel den Neuen recht nett, doch sie trauten sich nicht, ihn anzusprechen, denn der Junge schien irgendetwas mit seinem rechten Bein zu haben, er humpelte nämlich ein bisschen. Ob das nur auf Grund einer Verletzung so war, oder ob er immer ein wenig hinkte, wussten sie nun nicht, und wie gesagt, weder Benni, Daniel noch sonst jemand aus der Klasse traute sich, Leonhard anzusprechen.
Am Nachmittag des gleichen Tages langweilte Benni sich. Die Hausaufgaben waren fertig und er hätte so schön mit seinem Freund spielen können, doch Daniel musste zum Geburtstag seiner Großmutter und so hatte er natürlich keine Zeit. Benni ärgerte sich über sich selbst, vielleicht hätte er den Jungen doch ansprechen sollen, er war doch sonst nicht so feige. Ein wenig traurig holte er nun sein Rad aus dem Schuppen und radelte einfach los. In der Nähe des Waldes stellte er das Rad an einen Baum und setzte sich unter die alte Eiche, die zu seinem Lieblingsbaum geworden war. Unwillig starrte er in den blauen Himmel, als plötzlich ganz in seiner Nähe eine helle Mädchenstimme zu singen begann:

Die Spatzenliesel man mich nennt,
ein jeder hier im Wald mich kennt,
wohin ich geh, wo ich auch steh,
stets Spatzen sind in meiner Näh’,
und das macht mir viel Freud,
zu aller aller Zeit.

Im kleinen Haus am Waldesrand,
gar vielen Leuten wohlbekannt,
da wohne ich mit Reh und Katz,
viel Blumen und dem kleinen Spatz,
und das macht mir viel Freud,
zu aller aller Zeit.

Im Garten viele Beeren sind,
die gerne isst ein jedes Kind,
voller Rosen ist die Gartentür,
doch auch and’re Blumen blühen hier,
und das macht mir viel Freund,
zu aller aller Zeit.

Benni staunte, denn jetzt tauchte zwischen den Bäumen ein kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen auf. Das trug ein grünes Jäckchen, darunter einen bunt geringelten Pulli, eine rote Hose und blaue Turnschuhe, zu denen die kleine blaue Tasche, die es umgehängt hatte, haargenau passte. In der Hand hielt die Kleine eine braune Papiertüte, aus der sie unzählige Spatzen fütterte, die um sie herum schwirrten. Das war ein so fröhliches Gezwitscher und ein so hübscher Anblick, dass Benni staunend da saß und keinen Ton heraus brachte.
Jetzt entdeckte das Mädchen Benni und lief strahlend auf ihn zu.
„O hallo, wie schön, dass ich dich treffe. Ich freue mich sehr über jeden Besuch, denn außer meinen Tieren verirrt sich selten einmal jemand hierher. Willst du mit zu meinem Häuschen kommen? Es ist ganz in der Nähe, und wir könnten im Garten ein Picknick machen. Ach, bitte, komm doch mit, ja?“
„Ja, gerne“, sagte Benni, „mir ist sowieso langweilig, und über deine Gesellschaft freue ich mich sehr.“
„Dann komm, ich muss mich nur ein wenig beeilen, denn zu Hause wartet ein Reh auf mich, das muss ich versorgen.“
„Ein Reh musst du versorgen?“ fragte Benni erstaunt, „kann es denn nicht alleine für sich sorgen?“
„Nein, im Moment kann es das nicht. Ich fand es vor ein paar Tagen mit gebrochenem Bein im Wald und nahm es mit zu mir, um es zu pflegen. Sicher ist es bald wieder ganz gesund und kann dann wieder im Wald herum laufen.“ Spatzenliesel wandte sich zum Gehen und Benni folgte ihr.
Es dauerte auch gar nicht lange, und sie standen vor einem kleinen Haus, das ein wenig versteckt hinter hohen Büschen stand.
Es war ein allerliebstes Häuschen, weiß angestrichen und mit grünen Fensterläden. Der kleine Garten war umgeben von einem weißlackierten Holzzaun, der fast von blühenden Blumen verdeckt war, und um das schmiedeeiserne abgerundete Tor rankten wunderschöne Rosen.
„Hier wohnst du?“ fragte Benni bewundernd, „das ist ja vielleicht schön. Sind deine Eltern nicht zu Hause?“
„Ich habe keine Eltern“, sagte Spatzenliesel, „ich lebe hier ganz alleine.“
„Ganz alleine?“ Benni konnte es nicht glauben, „aber geht das denn?“
„Natürlich geht das“, lachte Spatzenliesel, „ich habe keine Eltern und auch keine Verwandten mehr, also lebe ich alleine. Aber nun lass uns hinein gehen, das heißt, du kannst schon mal am Gartentisch Platz nehmen, ich will mich zuerst um mein Reh kümmern.“
„Nee, ich will mich nicht an den Tisch setzen, sondern ich komme mit, und schaue mir das Reh an.“
„Noch besser“, lachte Spatzenliesel, und gemeinsam gingen sie hinter das Haus, wo ein kleiner abgezäunter Verschlag war, in dem ein Reh mit verbundenem Bein lag.
Spatzenliesel öffnete das Türchen, ging hinein und füllte eine Schale mit Futter und in eine andere goss sie frisches Wasser. Das Reh schaute ihr mit großen Augen zu und zeigte keinerlei Angst.
„Ich komme mir vor, als ob ich träume“, sagte Benni, und dann gingen sie gemeinsam ins Haus, in dem alles klein und zierlich war, genau so, als ob das Haus extra für ein Kind gebaut worden wäre.
Spatzenliesel nahm ein Tablett, stellte Gläser und Teller hinauf und wollte es Benni reichen, da hörten sie plötzlich eine laute Stimme rufen:
„Ho, ho, ho, mein Esel, lauf schnell.“ Benni und Spatzenliesel stürzten zum Fenster und sahen gerade noch einen merkwürdigen Wohnwagen, den ein Esel zog, durch den Garten rumpeln. Auf dem Kutschbock des Gefährts saß ein Junge mit einer Peitsche in der Hand. Aber wie sah das draußen aus? Die eine Seite des Zaunes war nach innen niedergewalzt, mitten durch die Blumenbeete führten tiefe Fahrspuren und an der anderen Seite war der Zaun nach außen niedergedrückt, und überall lagen abgeknickte Blumen und Sträucher.
Benni überlegte nicht lange, sondern rannte hinaus und hinter dem komischen Gefährt her. Doch bevor er ihn eingeholt hatte, sah er Wagen, Esel und Junge gefährlich schwanken und in einen Graben stürzen.
„Schadet dir gar nichts, du Gartenzerstörer“, sagte er ärgerlich, lief aber doch hin, um zu schauen, was da passiert war.
„Bitte hilf mir“, stöhnte der Junge, der unter seinem Wagen lag, während der Esel sich bereits befreit hatte und nun wie ein begossener Pudel am Rand des Grabens stand.
„Helfen soll ich dir?“ sagte Benni, „na schön, aber nur, wenn du zurück kommst, und hilfst, Spatzenliesels Garten wieder in Ordnung zu bringen.“
„Ja, natürlich helfe ich“, sagte der fremde Junge kleinlaut, „eigentlich wollte ich ja nichts kaputt machen.“
„Und warum tust du dann so etwas?“ fragte Benni kopfschüttelnd, am liebsten hätte er den Knaben unter seinem Wagen liegen lassen.
„Weil, weil... ach, das verstehst du ja doch nicht“, sagte der Junge und jetzt liefen Tränen seine Wangen hinunter. Benni verstand nun gar nichts mehr, zuerst ramponierte dieser Kerl Spatzenliesels Gartenzaun und nun lag er wie ein Häufchen Elend unter seinem komischen Wagen und heulte?
„Bitte hilf mir endlich, ich schaffe es alleine nicht“, sagte der Junge jetzt. Benni sprang die Böschung hinab und versuchte, ihn hinaus zu ziehen, doch das war nicht möglich, also hob er den Wagen an.
„Nun sieh zu, dass du darunter weg kommst, lange kann ich das Teil nicht halten“, stöhnte er. Plötzlich war Spatzenliesel da, zog an den Schultern des Jungen und mit vereinten Kräften gelang es, ihn herauszuziehen. Benni ließ den Wagen los.
„Ein Glück, dass du gekommen bist“, sagte er prustend zu Spatzenliesel, „lange hätte ich den Wagen nicht mehr halten können.“ Japsend ließ er sich in das Gras der Uferböschung fallen.
„Kannst du gehen, Jonas?“ fragte Spatzenliesel den Jungen, der nickte.
„Du kennst den Kerl?“ fragte Benni entrüstet, und zu Jonas gewandt fragte er zornig:
„Warum hast du das getan? Wie kann ein Mensch nur so gemein sein?“
„Lass mal gut sein, Benni“, sagte Spatzenliesel, „ich glaube, ich weiß, warum, aber lass uns erst versuchen, den Wagen herauszuziehen.“ Und schon sprang sie die Böschung hinunter und machte sich an dem kleinen Wohnwagen zu schaffen. Benni und Jonas sprangen hinterher und glücklicher Weise gelang es ihnen, den Wagen aufzurichten und nach oben zu ziehen. Der Esel hatte sich nicht von der Stelle gerührt und ließ sich widerstandslos vor den ziemlich lädierten Wagen spannen.
„Das hast du nun davon“, sagte Benni, als er ihn genau in Augenschein genommen hatte, „der Schornstein ist abgeknickt, und die Tür hat einen Riss, doch zum Glück sind alle vier Räder in Ordnung, allerdings hat dein Kutschbock den Sitz verloren. Aber ich denke, das ist alles zu reparieren. Doch jetzt geht es erst einmal zu Spatzenliesels Häuschen und dann erzählst du, wieso du so einen Mist gemacht hast.“
Jonas antwortete nicht, sondern schaute wie ein Häufchen Unglück von einem zum anderen.
„Ich wüsste auch gerne, warum du meinen Zaun umgefahren hast“, sagte Spatzenliesel, als sie zu ihrem Haus zurück fuhren. Jonas saß schuldbewusst mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf auf seinem Wagen.
„Ich weiß auch nicht, was heute mit mir los war“, sagte er zögernd, „eigentlich wollte ich nichts Böses tun, aber dann war ich so wütend, weil mich keiner leiden kann.“
„Na, so ein Quatsch“, sagte Benni, „wenn dich keiner leiden kann, dann doch sicher, weil du anderer Leute Gärten zerstörst.“
„Nein, Benni, warte mal“, sagte jetzt Spatzenliesel. „ich glaube, das ist bei Jonas ein bisschen anders. Normaler Weise macht er so etwas nicht. Hat dich wieder jemand ‚Hinkebein’ gerufen?“ Jetzt wurde Jonas Gesicht ganz rot.
„Ja“, nickte er, „es wollte wieder einmal niemand mit mir spielen. ‚Hau ab, Hinkebein’ haben sie hinter mir her gerufen. Da bin ich traurig und wütend in meinen Wohnwagen gestiegen und habe weder nach rechts noch nach links geschaut. Ja, und plötzlich war ich mit meinem Wagen in deinem Garten. Ich bekam einen ziemlichen Schrecken, als ich das merkte und bin dann so schnell wie möglich gefahren, damit keiner sah, dass ich das gemacht habe. Na, ja, und dann landete ich in dem Graben.“
Sie waren inzwischen an Spatzenliesels Haus angekommen.
„Wir bringen jetzt erst einmal den Zaun in Ordnung, und danach kümmern wir uns um deinen Wohnwagen, aber nur, wenn du versprichst, dass du so etwas nie wieder tust.“ sagte Benni, irgendwie tat Jonas ihm leid.
„Nein, ich mache das nie wieder“, versprach Jonas, sprang von seinem Wagen, suchte darin herum und fand schließlich einen kleinen Werkzeugkasten. Mit vereinten Kräften reparierten Benni und Jonas nun den Zaun, während Spatzenliesel sich um die Blumen kümmerte. Es dauerte auch gar nicht lange und der Schaden war behoben, und die Jungen konnten den Wohnwagen genauer ansehen. Zum Glück war auch hier der Schaden nicht zu groß, sodass sie alles wieder hinbekamen.
Inzwischen hatte Spatzenliesel den großen Gartentisch gedeckt und so kamen sie doch noch zu ihrem Picknick.
„Hast du wirklich keinen Freund?“ wollte Benni von Jonas wissen.
„Nein, weil ich humple, will niemand etwas mit mir zu tun haben“, sagte Jonas leise.
„Ich schon“, lachte Benni, „denn wenn jemand alles so toll reparieren kann, kann man ihm ja gar nicht böse sein, nicht wahr, Spatzenliesel.“
„Genau“, nickte die, „und außerdem haben viele Menschen irgendeine Macke, nur meistens sieht man die nicht, dann dürfte ja niemand Freunde haben.“ Sie hielt die linke Benni und die rechte Hand Jonas hin, die Jungen schlugen ein, und so besiegelten sie ihre Freundschaft.

„Bin ich froh, dass ich nicht humpeln muss“, dachte Benni, als er wach wurde. Er war doch tatsächlich wieder einmal unter seiner Eiche eingeschlafen. Er nahm sich vor, am nächsten Tag mit dem neuen Mitschüler Leonhard zu sprechen, denn er fand ihn recht nett. Fröhlich pfeifend setzte er sich auf sein Rad und fuhr nach Hause.


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Texte: Copyright by rosenjule Cover by Google
Tag der Veröffentlichung: 19.04.2011

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