Cover

Hans und Meta Michaelis erfreuten sich bester Gesundheit. Sie hatten die gut gehende Bäckerei an einen ehemaligen Mitarbeiter verpachtet, und machten die lange erträumten Reisen. So hatten sie das ehemalige Ostpreußen besucht, waren in Danzig und Berlin gewesen, hatten wunderschöne Tage auf Rügen verbracht und machten immer neue Reisepläne.
Außerdem hatte Meta sie in einer Senioren- Tanzgruppe angemeldet und Hans hätte nie für möglich gehalten, dass ihm das Tanzen soviel Spaß bereiten würde.
Es war Dienstagvormittag als Sabrina die Großeltern anrief.
„Meta, wie geht es dir“, fragte sie, als Meta den Hörer abgenommen hatte.
„Oh, gut, meine Süße, Opa und ich planen eine Donaureise, von Passau nach Budapest.“
„Wie schön“, sagte Sabrina, „aber könntet ihr euch vorstellen, zu Mutti zu fahren?“
„Aber ja, immer, nur, wir waren letzte Woche bei ihr im Krankenhaus, da ging es ihr doch recht gut. Ist etwas passiert?“
„Nein, nein, sie ist seit gestern wieder zu Hause, aber es wäre gut, wenn ihr dennoch kommen könntet, wir treffen uns dann alle bei Mami. Morgen?“
„Warte, Hahans, können wir morgen zu Verena fahren?“ rief Meta nach hinten.
Hans kam sofort vom Wohnzimmer in den Flur.
„Ist etwas passiert?“ fragte er in den Hörer, den Meta ihm gegeben hatte
„Nein, nein, jedenfalls nicht Schlimmes, aber es wäre schön, wenn wir uns morgen sehen könnten, ich fahre heute wieder zurück.“
„Du fährst heute zurück? Wo bist du denn?“ wollte Hans erstaunt wissen.
„Morgen Opalein, morgen.“ „Ok“, sagte Hans und legte nachdenklich den Hörer auf.
„Was ist denn da los? Das Kind hat es so dringend gemacht? Na warten wir es ab. Fährst du?“ fragte er seine Frau, „na klar“, lachte Meta, sie war inzwischen 71 Jahre alt, aber flott wie eh und jeh. Hans mit seinen 78 Jahren fuhr am liebsten nur noch die ihm vertrauten Straßen und so oblag es Meta, die weiteren Ziele mit dem Auto anzusteuern.
Meta freute sich, hatte sie doch ein Anliegen, dass sie lieber vor Ort mit Julia und Karl- Heinz besprechen wollte, sie hoffte nämlich, dass Daniel mit ihnen eine oder zwei Wochen während der Sommerferien verreisen dürfe.

Es war ein Mittwoch, dieser denkwürdige 8.Mai 1991.
Verena war schon in aller Frühe munter und wunderte sich, dass sie trotz aller Aufregungen doch noch gut geschlafen hatte und sich jetzt frisch und ausgeruht fühlte.
Sie blieb noch einen Moment liegen und schaute durch das offene Fenster in den verhangenen Himmel. Ein kräftiger Wind riss die grauen Regenwolken auseinander und durch die Wolkenfetzen lugte plötzlich die Sonne hervor. Alles war auf einmal hell, bevor neue Wolken nachströmten und den hellen Strahl verdeckten. Doch dieser kurze Moment hatte genügt, um ein Lächeln auf Verenas Gesicht zu zaubern.
Sie stand fröhlich auf und betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel.
„Sei nicht albern“, sagte sie zu sich selbst, und war doch recht zufrieden mit dem Bild, das der Spiegel zurückwarf.
Barfuß ging sie in ihre Kochecke und stellte die Kaffeemaschine an. Nach der Morgentoilette holte sie die Zeitung herein, und frühstückte in aller Ruhe.
Ein Artikel in der Zeitung fiel ihr gleich ins Auge:

„Der seit zehn Jahren geltende Ausnahmezustand in Ägypten wird erneut verlängert.“

Verena las den Artikel durch und wurde daran erinnert, dass sie damals mit Entsetzen von der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar As Sadat gelesen hatte. War das wirklich schon wieder zehn Jahre her? Mein Himmel hatte sie eine Angst ausgestanden, dass Lutz womöglich in den Unruhen zu Schaden kommen könnte. Sie wusste zwar nicht, ob er in den 1980er Jahren noch in Ägypten gewesen war, aber alles, was mit diesem Land zu tun hatte, brachte sie automatisch mit ihm in Verbindung.
Sie musste über sich selbst lachen, immer wieder Lutz, dieser Mensch hatte sich einfach nicht aus ihrem Leben vertreiben lassen.
Schließlich legte sie die Zeitung zusammen, räumte alles weg, zog den Mantel an und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen, um zum Einkaufen zu fahren.

Zwei Stunden später stellte Verena ihren Wagen vor ihrem Geschäft ab, öffnete den Kofferraum, um ihre Einkaufstüten zu entnehmen, da hupte es hinter ihr. Sie dreht sich um und sah erstaunt, dass Meta auf dem Parkplatz direkt neben ihrem Wagen Halt machte.
„Betriebsversammlung“, schoss es durch Verenas Kopf, sie ging lächelnd zu ihrem Vater, der jugendlich forsch auf seine Tochter zustürmte.
„Ist das schön“, sagte er und nahm sie vorsichtig in die Arme.
„Keine Angst, Papa“, lachte Verena „ich bin nicht zerbrechlich. Aber was treibt euch denn hierher?“
„Ein Befehl meiner Enkelin“, gab Hans Michaelis zurück. Jetzt kam Meta freudestrahlend und mit ausgebreiteten Armen auf Verena zu.
„Die Tüten nehme ich“, sagte sie nach der Begrüßung energisch, im gleichen Moment bog auch Julia in die Kaiserstraße ein. Neben ihr saß Karl- Heinz, der lachend sagte:
„Keine Angst, Verena, ich muss weiter, aber wenn es dir recht ist, komme ich später noch einmal vorbei. Ich muss doch sehen, ob es meiner Lieblingsschwägerin gut geht.“
Verena nickte, Karl- Heinz, der schnell auf den Fahrersitz gewechselt war, fuhr winkend davon, da bog Sabrinas Fahrzeug in ihre Einfahrt ein.
Verena verhielt den Schritt, denn dem Wagen ihrer Tochter folgte ein fremdes Auto mit Düsseldorfer Kennzeichen. Sabrina sprang aus ihrem Wagen, rannte zu Verena uns riss sie fast um. Verena taumelte, und konnte sich im letzten Moment am Kofferraum ihres Wagens festhalten.
„Mama, Mama“, schrie Sabrina und umarmte die Mutter stürmisch.
Verena umklammerte die Tochter, während sie schemenhaft wahrnahm, dass sich eine männliche Gestalt näherte. Sabrina sprang zu den Großeltern und Verena wandte den Kopf zur Seite, da stand er vor ihr. Ihre Augen trafen sich und Verena spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Regungslos standen sie voreinander und schauten sich an, es war, als habe die Welt aufgehört sich zu drehen, als gäbe es weder Autolärm noch andere Menschen, atemlose Stille umgab sie, ihrer beider Augenpaare saugten sich förmlich am Gesicht des anderen fest und niemand sagte etwas.
„Ich habe nie aufgehört, sie zu lieben, sie ist so schön, so schön so schön“, raste es durch Lutz Kopf.
„Er ist es, er ist es, er ist es“, dachte Verena und hielt den Atem an, „und wenn er hundert Jahre alt wäre, ich würde ihn immer erkennen. Und auch in hundert Jahren werde ich ihn lieben.-- Aber reiß dich zusammen, sonst fällst du noch um.“ Sie umklammerte so fest ihren Kofferraumdeckel, dass es schmerzte. Sie beachtete den Schmerz jedoch nicht, denn sie sah eine flehentliche Bitte in seinen Augen: „Schick sie alle weg, bitte, schick sie weg“, las sie darin. Dass alle sie verwundert beobachteten, merkten sie nicht, da rief Julia:
„Was wird das hier? Verena, bitte, sieh zu, dass du in deine Wohnung kommst, darf ich dich daran erinnern, dass du gerade aus dem Krankenhaus gekommen bist?“
Wie erwachend schüttelte Verena sich, jetzt kam Lutz auf sie zu und reichte ihr beide Hände.
„Endlich, Verena“, sagte er, das klang so zärtlich, so liebevoll, dass Tränen in ihre Augen schossen. Doch sie entgegnete zunächst gar nichts, sondern nahm einfach seinen Arm.
„Das ist mein kleiner Laden“, sagte sie „und darüber ist meine Wohnung. Wollen wir ein Stück gehen?“ Lutz nickte, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen. Verena wandte sich an ihre Lieben:
„Geht in meine Wohnung, Schlüssel habt ihr ja, wir kommen später nach.“
Sie drehte sich um und mit weit ausholenden Schritten steuerte sie mit Lutz den Weg zum nahe gelegenen Park an.
Verblüfft sahen alle den Beiden nach.

Verena und Lutz hatten indes den Park erreicht und gingen, ohne ihr Tempo zu verringern um den kleinen See herum. Sie schauten sich nicht an, sondern marschierten schweigend ein zweites Mal um den See, doch als Verena ihren Arm wegziehen wollte, hielt Lutz die Hand einfach fest und sagte, ohne sie anzuschauen:
„Wage es nicht.“ Verena musste lachen doch auch sie schaute weder nach links noch nach rechts. Als die dritte Umrundung anstand, blieb sie plötzlich stehen und prustete, denn nach dem Krankenhausaufenthalt hatte ihre Kondition doch erheblich gelitten. Normaler Weise umrundete sie beinahe täglich in aller Frühe den See mindestens fünf Mal im Laufschritt.
Auch Lutz war stehen geblieben, plötzlich lagen seine Hände auf ihren Schultern und langsam zog er sie nah an sich heran.
Verena legte den Kopf an seine Brust und spürte Frieden, unendlichen Frieden in sich aufsteigen. Schweigend blieben sie so stehen und sowohl Verena als auch Lutz hatten das Gefühl, als seien sie endlich angekommen.
Plötzlich schob er sie ein wenig zurück und sagte mit heiterem Gesichtsausdruck:
„Die Silberhochzeit können wir noch schaffen. Wir müssen uns aber beeilen.“
Verena fühlte sich jäh aus ihrer Versunkenheit gerissen und sagte unwillig:
„Nimm mich sofort wieder in den Arm.“ Erneut schlossen sich Lutz Arme um sie, doch nun murmelte er in ihr Haar:
„Ich bin fast 55 Jahre alt, in 25 Jahren bin ich 80, das kann klappen. Und du bist sowieso ein kleines Mädchen, das hundert wird.“
„Ich will aber nicht heiraten“, murmelte Verena, er roch so gut, sie fühlte sich geborgen in seinen Armen, alles war wie es sein sollte, sie wollte nur so stehen bleiben.
„Das hast du nicht zu entscheiden“, sagte er zärtlich, „außerdem kann ich kochen.“
Verena glaubte sich verhört zu haben, „was kannst du?“ fragte sie.
„Ich kann kochen“, sagte Lutz stolz, „und zwar richtig gut.“
„Und du meinst, das wäre ein Grund, dich zu heiraten?“
„Na, klar doch, was sollte es sonst für einen Grund geben?“ meinte er und hob sie einfach hoch.
„Du bist noch immer so leicht wie vor dreißig Jahren“, sagte er streng, „da wird es Zeit, dass ich endlich dafür sorge, dass du genug zu essen bekommst.“
„Ich bekomme genug zu essen, außerdem habe ich nicht die Absicht, mich mästen zu lassen. Lass mich runter.“
„Nö“, lachte er, „erst, wenn du versprichst, mich sofort zu heiraten.“
„Nein, das werde ich nicht“, sagte sie fest und sehr bestimmt.
Vorsichtig stellte er sie auf den Boden zurück. Sein Gesicht war jetzt ganz ernst.
„Du willst mich nicht heiraten?“ fragte er erschüttert, „hast du mich denn gar nicht vermisst?“
„Ich habe dich jeden Tag meines Lebens vermisst“, sagte sie und Tränen schossen in ihre Augen, „aber ich will nie mehr jemanden so vermissen.“ Verena wandte sich ab und ging stolz und aufrecht Richtung Parkausgang.
Lutz schaute ihr betroffen nach, war dann mit wenigen Schritten bei ihr und zwang sie, stehen zubleiben.
„Verena“, seine Stimme war unglaublich liebevoll, „du hast Recht, ich bin nach wie vor ein Trottel. Ich komme nach vielen Jahren angerannt, und will da wieder anfangen, wo wir aufgehört haben. Ich verstehe erst jetzt, wie idiotisch das ist. Aber, ich muss jetzt nicht wieder aus deinem Leben verschwinden, oder?“
Verena lächelte:
„Nein, Lutz, das musst du nicht“, sie legte die Arme um seinen Hals, „ich bin glücklich, dass du da bist, und alles andere wird sich zeigen.“
„Alles andere wird sich zeigen“, wiederholte Lutz, „aber etwas muss ich dir noch sagen, ich liebe dich, ich liebe dich mehr, als ich sagen kann.“
Verena sagte gar nichts, sie schaute ihn nur an und in diesem Blick lag soviel Liebe, dass für Lutz keine Frage mehr offen blieb.

Doch dann kam alles ganz anders. Als Verena und Lutz zu Verenas Häuschen kamen, stand ein weiterer Wagen mit Düsseldorfer Kennzeichen vor der Tür.
„Wer mag das sein?“ wollte Verena wissen.
„Das ist mein Freund Werner Hellweg“, sagte Lutz verblüfft, „der hat unserer Tochter gesagt, dass sie wahrscheinlich schwanger…“ er hielt inne, „ach, du weißt es noch nicht?“
Verena konnte es nicht glauben, sie starrte ihn entgeistert an und begann dann zu lachen.
„Es ist ein Kreuz mit dir, Lutz Bergström, kaum tauchst du auf, stürmen Neuigkeiten en masse auf mich ein, aber das sage ich dir, wenn das stimmt, dann will ich keine unverheiratete Großmutter sein.“
„Nicht?“ fragte er leise, „das heißt, wir könnten doch…“
„..eventuell Silberhochzeit miteinander feiern“, nickte sie glücklich.


Fortsetzung folgt

Impressum

Texte: (c) by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /