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Verena hatte nach Sabrinas Anruf der Schwester geklingelt und um ihre Entlassung gebeten. Schwester Marlies holte den Arzt und schließlich hatte Dr. Aufderhöhe ihrer Entlassung zugestimmt, nicht ohne besorgt zu fragen, ob etwas vorgefallen sei. So ruhig wie möglich hatte Verena verneint und packte nun ihre Sachen zusammen. Als das Telefon erneut schrillte, zuckte sie richtig zusammen. Ihr Herz raste, als sie den Hörer abnahm.
„Michaelis“, meldete sie sich, eine kleine Pause und dann s e i n e Stimme, vorsichtig fragend: „Verena?“ Verena schluckte, „Ja“, sagte sie atemlos. „Verena, hier ist der größte Hornochse aller Zeiten“, „Ich weiß“, sagte sie, „Du weißt?“ „Ja, ich weiß“. „Was weißt du?“ „Dass du der größte Hornochse aller Zeiten bist!“ sagte sie heiter, und nun breitete sich plötzlich Ruhe in ihrem Inneren aus. „Wie geht es meinem Kind“; fragte sie, „kann ich es sprechen?“ „Hier ist nur mein Kind“, sagte er, „von deinem Kind weiß ich nichts.“ „Wie solltest du auch“, entgegnete sie, „wenn man sich die ersten dreißig Jahre nicht darum kümmert, kann man auch keine Ahnung haben.“ „Stimmt, du warst schon immer ein kluges Mädchen“, sagte seine Stimme, „auch, als du noch ein kleines Mädchen warst, dem ich nicht genug vertraute. Verena, ich habe geglaubt, dass du mit diesem Marko… „Ich weiß“, sagte sie, „deine Tochter glaubte das übrigens auch, und nicht nur darin seid ihr euch ähnlich.“ „Du meinst, diese bildschöne Frau hat Ähnlichkeit mit mir?“ „Ja, hat sie, leider“, „Leider? Warum leider“, „Weil sie mich so häufig an ihren Vater erinnerte“, „Und du wolltest nicht erinnert werden?“ „Ja, das wollte ich nicht“, „Warum nicht?“ „Weil es schmerzte“, „Es schmerzte? Bis wann?“ „Bis eben“, „Bis eben, und nun nicht mehr?“ Nein, nun nicht mehr?“ „Warum nicht?“ „Weil, weil, ich weiß nicht“, sagte sie, „es hat plötzlich aufgehört zu ziepen.“ Eine Pause folgte und dann fragte er leise: „Verena, können wir uns sehen?“ „Das wird sich nun nicht mehr umgehen lassen, ich packe gerade meine Sachen.“ „Um was zu tun?“ Sie lachte: „Um nach Düsseldorf zu fahren“, „Warum hast du das nicht damals gemacht, und dem alten Esel die Ohren lang gezogen?“ „Zu jung, zu verletzt, zu stolz“, sagte sie. „Verdammter Stolz“, sagte er, „Ich kenne ihn, er hat mich auch gezwickt.“ „Hat er das?“ „Ja, hat er, und nicht nur er“, „Nicht nur er? Wer noch?“ „Das möchte ich dir persönlich sagen.“ „Ok, ich komme“, „Du kommst? Wann? Halt, nein, wir kommen zu dir, du bist doch noch im Krankenhaus.“
„Hm, auch eine gute Idee, ich gehe sowieso jetzt erst nach Hause, wann kommt ihr?“
„Morgen? Wäre dir das Recht?“
„Das wäre mir sehr Recht, dann könnte ich noch zur Kosmetikerin und zum Friseur und zur Massage und Maniküre und Pediküre überhaupt, dann hätte ich genug Zeit, um mich herzurichten.“
„Du willst dich herrichten, für mich?“
„Nee, nicht für dich, für mich, ich habe dir nämlich etwas voraus. Ich habe dich vor ein paar Tagen im Fernsehen gesehen, ich weiß also, wie du jetzt aussiehst, du weißt aber nicht, wie ich nach den dreißig Jahren aussehe.“
„Doch“, sagte seine Stimme, „ich weiß es.“ Verena hielt den Atem an, „Du weißt es, wieso weißt du es?“
„Weil ich dich vor etwa sechs Monaten gesehen habe.“ „Wie bitte? Wie wo wann?“
„Das sage ich dir morgen.“ „Nein, Lutz Bergström, das sagst du mir jetzt.“ „Ok, das sage ich dir jetzt. Ich war auf dem Friedhof, auf dem deine Mutter beerdigt ist, wir waren doch an ihrem Todestag zusammen an ihrem Grab, das habe ich mir gemerkt, erinnerst du dich“ „Ich erinnere mich an alles“, „Du erinnerst dich an alles? Oh weh, kann ich dennoch kommen?“ „Du musst sogar“, „Ich muss? Ja, ich muss, oder darf ich schon heute kommen?“ „Dreißig Jahre hast du dich nicht sehen lassen, warum jetzt so eilig?“ „Sind dreißig Jahre nicht genug?“ „Was denkst du eigentlich, Lutz Bergström, denkst du, wir können ..“ „Ja, wir können“, „Wir können nicht.“ „Stimmt, wir können nicht, wir müssen“, „Was müssen wir?“ „Weitertelefonieren, ich will nie mehr aufhören.“
Verena bemerkte erst jetzt, dass Dr. Aufderhöhe und Schwester Marlies im Zimmer waren und sich verständnisinnige Blicke zuwarfen.
„Aber ich muss aufhören“, sagte sie ins Telefon,
„Oh, nein“ schrie er in ihr Ohr, und dann leise, „aber nur, wenn ich dich später noch einmal anrufen darf, zu Hause.“
„Du darfst“, sagte sie, drückte auf die Gabel und blieb mit dem Hörer in der Hand stehen.
Doch jetzt wurde die Tür ihres Krankenzimmers aufgerissen und Julia und Christoph stürmten herein.
Als sie Dr. Aufderhöhe und Schwester Marlies sahen, verlangsamten sie ihr Tempo, Julia allerdings ging sofort zu Verena und nahm ihre Reisetasche an sich.
„Gemach, gemach“, lachte Dr. Aufderhöhe, „Sie können Frau Michaelis nun mitnehmen, aber bitte nicht so stürmisch.“
Christoph war anzusehen, dass er vor Ungeduld innerlich zappelte. Verena strich ihm übers Haar und sagte:
„Kommt, wir können später über alles reden.“
Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer, einen nachdenklich schauenden Dr. Aufderhöhe zurück lassend.


In der Kaiserstraße angekommen, stellte Julia ihren Wagen direkt vor Verenas Laden ab. Christoph sprang heraus und war Verena behilflich, ebenfalls auszusteigen.
Paula Klaproth stürzte aus dem Geschäft, um Verena zu begrüßen und redete ununterbrochen auf sie ein.
„Stopp, Klappi, hör endlich auf, ich verstehe kein Wort, lass mich doch erst einmal ankommen.“
„O, verzeih“, gab Paula lachend zurück, „ich habe soviel…“ „Ruhe“, donnerte Julia dazwischen, „siehst du nicht, wie schwach Verena ist.“
„Ich bin überhaupt nicht schwach“, empörte sich Verena und versuchte vergeblich, sich von Julias Arm zu befreien.
Plötzlich kam Daniel angehüpft, den Schulranzen auf dem Rücken, der hin und her ruckelte.
Er sprang sofort in Verenas ausgebreitete Arme.
„Ein Glück, dass du wieder da bist“, strahlte der hübsche blonde Junge über das ganze Gesicht, „aber wo ist eigentlich Sabi?“
„Das wüsste ich auch gern“, knurrte Christoph, und strich Daniel liebevoll übers Haar.
„Beruhige Dich, wir reden drinnen und morgen wirst du sie unversehrt wieder sehen.“
Endlich waren sie in Verenas Wohnung angekommen, Julia machte Tee für alle, packte den mitgebrachten Kuchen aus, und richtete alles auf dem Esszimmertisch her. Schließlich, als sie sich um den Tisch gruppiert hatten, sagte Verena:
„Also, Sabrina ist in Düsseldorf bei ihrem Vater und ihren Großeltern. Ich habe vorhin mit Lutz telefoniert…“
„Was, mit dem Kerl telefonierst du? Geht das Theater jetzt von neuem los?“ unterbrach Julia entrüstet.
„Jule, bitte, er weiß jetzt erst, dass Sabrina sein Kind ist, es ist eine verzwickte Geschichte. Seid mir nicht böse, aber morgen, wenn sie herkommen…“
Julia sprang empört auf, „ich glaube das nicht, der kommt hierher? „ Daniel schaute seine Mutter erstaunt an. „Mama, warum bist du so wütend?“ Julia lachte, „nein, nein, ich bin nicht wütend, eher erstaunt, Danni“, sagte sie und zog ihn zu sich heran.
„Wieso hat Sabi jetzt auf einmal einen Vater?“ wollte Daniel wissen.
„Deine Mama wird dir das sicher gerne erzählen, aber in aller Ruhe zu Hause“, lächelte Verena, „doch jetzt geht es auf den Abend zu und für heute gab es genügend Aufregungen.“
Sofort standen alle auf, und endlich war Verena alleine. Es dauerte auch nicht lange, und das Telefon klingelte.
Es wurde ein sehr langes Telefongespräch, an dessen Ende es Verena vorkam, als habe es eine Trennung nie gegeben. Lange lag sie wach, und trotz aller sie überwältigenden Gefühle glaubte sie nicht an Wunder.
Nein, eine Beziehung zu diesem Mann würde es nicht mehr geben, wie sollte das auch gehen? Man konnte nicht einfach anknüpfen, wo man vor dreißig Jahren aufgehört hatte.
Nein, nein und abermals nein. Sie hatte ihr Leben so eingerichtet, dass es gut für sie war, sie brauchte keinen Mann, es ging ihr hervorragend, und außerdem hatte er mit keinem Wort erwähnt, ob er womöglich verheiratet war. Es war ihr auch so was von einerlei, ob oder ob er nicht, sie, Verena Michaelis hatte mit solchen Gefühlsduseleien nichts mehr am Hut.
Obwohl, ein wenig zwickte es bei dem Gedanken, er könne verheiratet sein, in ihrem Inneren wieder, doch darüber schlief sie zum Glück ein.


Fortsetzung folgt

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Texte: (c) by rosenjule cover google
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2011

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