Später, als Raymond sich auf den Weg machte, um Karl-Heinz im Architekturbüro aufzusuchen, räumte Julia das Wohnzimmer auf.
„Pfui Teufel“, sagte sie plötzlich laut, nahm den gefüllten Aschenbecher, entleerte ihn mit angeekeltem Gesicht und warf alles, was an Zigaretten vorhanden war, ebenfalls in den Müll. Dann riss sie den Barschrank auf und wollte alles an Flaschen herausholen, um deren Inhalt in der Toilette zu entleeren, doch plötzlich hielt sie inne.
„Nein“, sagte sie laut, „ich werde das Zeug nicht weggießen, es kann stehen bleiben, bis es verschimmelt.“ Sie klappte die Tür des Schrankes wieder zu, eilte in ihr Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel.
„Julia Bernfort, geborene Wagner, bist du Alkoholikerin?“ fragte sie und studierte ihr Gesicht so eindringlich wie seit Jahren nicht mehr. Es sah wirklich nicht gut aus, die Haut war grau und großporig und die Wangen wirkten schwammig und aufgedunsen. Auf ihrer Nase entdeckte sie einige rote Äderchen, und die Halspartie war schlaff. Zudem hatten sich zwei tiefe Kerben in ihre Mundwinkel gegraben. Auch das dunkle Haar sah matt und glanzlos aus, die Augen waren dunkel umrandet und von einem Kranz winziger Fältchen umgeben.
„Wenn du nicht aufpasst, verlierst du dein gutes Aussehen und wer weiß, dazu noch den lieben guten Karl-Heinz“, grinste Julia ihrem Spiegelbild zu und spürte einen feinen Schmerz in der Herzgegend, „nein, das wird nicht geschehen“, fuhr sie laut fort, „ich liebe ihn, das weiß ich jetzt, und alkoholabhängig bin ich nicht, auch das weiß ich, folglich kann das Zeug da unten bleiben.“
Es war, als habe sie neue Kraft bekommen. Sie lief ins Bad, ließ Wasser in die Wanne laufen und holte das Telefon aus ihrem Schlafzimmer.
Als sie im schaumigen warmen Wasser lag, wählte sie Verenas Nummer.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte sie, als die Freundin sich meldete, „und außerdem bitte ich dich um Verzeihung.“
„Nanu“, lachte Verena, „meine starke Julia braucht Hilfe? Schon zugesagt. Und was bitteschön könnte ich dir zu verzeihen haben?“
„Ich habe dir nicht genug vertraut, und das ist unverzeihlich. Doch davon später. Kann ich in einer Stunde zu dir kommen?“ Julias Stimme klang so ungewohnt ernst, dass Verena erschrak.
„Ist etwas passiert? Natürlich kannst du kommen, am besten sofort.“
„Nein, nein, ich liege im Augenblick in der Badewanne, doch spätestens in einer Stunde tauche ich bei dir auf. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es ist nichts Schlimmes geschehen, eher etwas Erfreuliches. Nimm dir nur ein wenig Zeit für mich, ich muss eine Menge loswerden.“
„Alle Zeit der Welt, meine Süße“, sagte Verena.
„Was wäre ich ohne dich“, erwiderte Julia, „bis gleich.“
Etwa eine Stunde später saßen sich die Freundinnen in Verenas gemütlichem Wohnzimmer gegenüber.
„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, sagte Julia zögernd, „ich weiß auch nicht, warum ich solange geschwiegen habe, und nun schau dir das Ergebnis an. Vor dir sitzt eine Säuferin, die auf dem besten Wege war, sich selbst zu vernichten, und weißt du, was das Idiotischste an der Geschichte ist? Mein Neffe Raymond, und ein Foto, ein simples Foto von meinem vierzigsten Geburtstag haben mich den Irrsinn meines Handelns erkennen lassen.“
Julia holte tief Luft und fuhr dann immer schneller werdend fort:
„Verena, vier Kinder wollte ich haben, vier schöne Söhne, und was ist daraus geworden? Nichts, gar nichts, nicht ein einziges Kind kann ich bekommen, dabei bin ich körperlich gesund, ob es an meiner Seele liegt? Denn die ist nicht gesund, die ist irgendwie verkorkst, weiß der Geier warum. Aber ich hätte längst etwas tun müssen, eventuell kann man auch sie heilen, man muss nur etwas tun. Oh, ja ich tat etwas ich gab ihr Alkohol, damit sie mich in Ruhe lässt und nicht immer wieder martert. Ich bin verrückt, Verena, verstehst du, ich bin verrückt. Ein Wunder, dass Karl-Heinz sich nicht längst von mir getrennt hat. Die letzten Jahre müssen entsetzlich für ihn gewesen sein. Aber der Mensch sagt nichts, schaut mich nur immer besorgt an und schweigt. Meine Güte, was bin ich für ein Ungeheuer. Aber glaub mir, es war wie ein Zwang, ich konnte mich niemandem anvertrauen, obwohl es mich fast umgebracht hat, aber nun ist es vorbei, ich weiß, dass es vorbei ist, und dass Willy Mayer mich ohne ein Wort verlassen hat, schmerzt auch nicht mehr, denn er ist ein Feigling und ich mag keine Memmen. Weißt du, es kommt mir manchmal so vor, als könnten wir nichts, aber auch gar nichts selbst entscheiden, sondern es geschieht alles mit uns, weißt du, was ich meine? Nein? Ich verstehe es auch nicht so recht. Aber eins weiß ich, ich bin wie erlöst, und das nur, weil ich mir fest vorgenommen habe, mit dem Wahnsinn aufzuhören.“
Julia schnappte nach Luft und Verena schaute die Freundin fassungslos an.
„Mein Himmel, Julia, was bin ich für eine Freundin, wenn ich nicht gesehen habe, dass du dich jahrelang dermaßen quälst. Du musst nicht mich um Verzeihung bitten, sondern ich dich.“
„Quatsch“, sagte Julia bestimmt, „ich ließ doch nicht einmal dich an mich heran, im Gegenteil, wenn du meinen Zigarettenkonsum ansprachst, wurde ich meistens zickig. Kein Wunder, dass du schließlich den Mund gehalten hast.“
Verena schaute die Freundin aufmerksam an:
„Wer ist Willy Mayer? Wieso weiß ich nichts davon, dass es diesen Menschen in deinem Leben gab, und wie kommt er dazu, dich ohne ein Wort zu verlassen?“
Julia lachte, sie fühlte sich wirklich wie befreit.
„Willy Mayer war meine erste große Liebe, ich habe aber niemandem davon erzählt, weil ich nicht glauben konnte, dass dieser wunderbare Mensch sich ausgerechnet in mich verliebt hatte, und du siehst, ich hatte Recht.“
„So ein Blödsinn, wenn er wirklich ein so wunderbarer Mann gewesen wäre, hätte er sicher anders gehandelt, aber nun möchte ich die ganze Geschichte hören.“
Und Julia erzählte, und spürte mit jedem Satz, wie sich diese Last in Luft aufzulösen schien.
Ruhig und geduldig hörte Verena zu, nur ab und zu schüttelte sie den Kopf, und als Julia geendet hatte, nahm sie sie in die Arme.
„Mein Himmel, der Kerl ist wirklich ein Feigling, sei froh, dass du ihn los bist. Aber etwas anderes beschäftigt mich vielmehr, meinst du nicht, dass du eine Therapie brauchst? Meiner Unterstützung kannst du jederzeit sicher sein.“
„Eine Therapie?“ unterbrach Julia sie lachend, „nein, wirklich nicht, ich brauche keine Entziehungskur, wenn du das meinst. Mein Alkoholkonsum war während der letzten Zeit, gelinde gesagt, recht hoch, doch ein Alkoholproblem habe ich nicht.“
„Hast du nicht?“ echote Verena zweifelnd.
„Nein, habe ich nicht“, entgegnete Julia bestimmt, „ab heute trinke und rauche ich nicht mehr, so einfach ist das, der Spuk ist vorbei. Wenn ich nun trotzdem deine Hilfe brauche, so nicht, weil ich Angst habe, wieder zur Flasche zu greifen, sondern um mich zu vergewissern, dass ich auch weiterhin mit meinen Sorgen und Nöten zu dir kommen kann, vielleicht in nächster Zeit ein wenig mehr, als die Jahre zuvor. Ich denke, das ist alles, was ich brauche, dich und deine unglaubliche Fähigkeit zuzuhören, und für andere da zu sein.“
„Du übertreibst“, wehrte Verena ab, „allzu weit scheint es mit dieser Fähigkeit nicht her zu sein, denn warum hast du sie in der Vergangenheit nicht öfter in Anspruch genommen? Lag es vielleicht an mir?“
„Nun mal langsam“, sagte Julia kopfschüttelnd, „bitte lass meine Vergehen meine bleiben, Dich trifft absolut keine Schuld, da sei sicher. Sag’ mir lieber, was ich mit meiner linken Hand machen soll, wenn sie keine Zigarette mehr halten muss.“
„Du Verrückte“, lachte Verena, „da werden wir sicher etwas finden. Aber weißt du, Jule, wir können uns glücklich schätzen, dass wir einander haben, findest du nicht auch?“
„Und ob ich das finde“, strahlte Julia, sprang von ihrem Stuhl auf und lief zur Freundin, um sie herzlich zu umarmen.
Karl- Heinz Bernfort konnte es nicht fassen, bereits seit sechs Monaten traf er Abend für Abend eine strahlende Julia an, die weder nach Alkohol noch nach Zigaretten roch. Auch durch das Haus schien ein frischer Wind zu wehen, denn nicht die Spur von Zigarettenrauch lag in der Luft. Die Gardinen waren weiß und duftig, und der Nichtraucher Karl- Heinz Bernfort freute sich jeden Tag ein wenig mehr aufs nach Hause kommen.
„Du wirst immer schöner“, sagte er eines Abends voller Bewunderung zu seiner Frau, und fügte dann zögernd hinzu:
„Ich habe wohl als Ehemann total versagt. Möchtest du, dass wir endlich darüber reden, was dich all die Jahre so unglücklich gemacht hat?“
Julia schaute ihn überrascht an, richtig schuldbewusst sah er aus, und plötzlich wusste sie, wie viel Sorgen er sich während der letzten Jahre gemacht hatte.
„Ja“, nickte sie, „reden müssen wir schon miteinander, ich habe nämlich eine…“
„Hör zu, Julia“, unterbrach sie Karl- Heinz, „Bevor du weiter sprichst möchte ich dir sagen, dass ich mir überlegt habe, also, ich weiß doch, wie sehr du dir ein Kind wünschst, vielleicht sollten wir eins adoptieren?“
„Du weißt, wie sehr ich mir Kinder wünsche? Aber du, möchtest du nicht auch gerne ein Kind?“
„Komm, setz dich zu mir.“ Karl- Heinz zog seine Frau zur Sitzecke und setzte sich neben sie auf die Couch.
„Liebling“, sagte er weich, „ich mag Kinder, sehr sogar, aber es ist nicht so wichtig für mich. Ich habe meine Frau, die ich von Herzen liebe und ich übe den Beruf aus, den ich, seit ich denken kann, ausüben wollte. Was will ich mehr?“
„Aber ich dachte“, stotterte Julia verblüfft.
„Was dachtest du?“
„Es ist ein Kreuz mit dir, Karl- Heinz Bernfort, früher, wenn ich davon sprach, dass ich möglichst vier Söhne haben wollte, warst du immer meiner Meinung, und nun, nachdem ich mich jahrelang wegen unserer Kinderlosigkeit gegrämt habe, erklärst du mir, dass sei nie ein Thema für dich gewesen? Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“
„Hast du mich je danach gefragt?“
„Nein“, lachte Julia kopfschüttelnd, „ich habe dich nie danach gefragt. Wir sind schon ein seltsames Pärchen. Jeder grämt sich insgeheim. Du dich darüber, dass ich heimlich unheimlich trinke, und ich, weil ich glaubte, keine Kinder bekommen zu können. Und nun stellen wir fest, dass das ganz und gar unnötig war.“
„Unnötig? Nein, unnötig waren meine Sorgen wohl nicht, wenn es nun zum Glück auch vorbei ist. Es ist doch vorbei?“ Ängstlich waren seine Augen auf sie gerichtet.
„Ja, wenn du meine Trinkerei meinst, die ist vorbei, endgültig, und rauchen werde ich auch nicht mehr. Das könnte ich mir auch gar nicht mehr erlauben.“
„Gar nicht mehr erlauben? Wie meinst du das? Bist du etwa krank? Da fällt mir ein, du hattest ja heute einen Arzttermin. Julia, bitte, was ist los?“
„Es ist ein Wunder“, sagte Julia andächtig, und sah dabei so schön aus, dass Karl- Heinz sie fasziniert anstarrte, „jetzt, da ich mich endlich damit abgefunden habe, dass wir kinderlos bleiben, bin ich schwanger.“
„Bist du schwanger“, wiederholte Karl- Heinz ohne den Sinn der Worte zu erfassen. Julia nickte mit leuchtenden Augen und allmählich dämmerte es auch ihm.
„Nein“, sagte er mit rauer Stimme, „das träume ich. Das kann nicht wahr sein. Julia, was redest du da? Weißt du, wie gefährlich so etwas in deinem Alter sein kann? Wenn dir nun etwas passiert?“
„Du bist verrückt! Du machst dir Sorgen um die Gesundheit deiner Frau, anstatt dich auf dein Kind zu freuen. Starr mich nicht so an, es ist alles in bester Ordnung. Nun komm schon, hab ein bisschen Vertrauen, mir passiert nichts, dessen bin ich sicher.“
„Ich glaube das nicht, nein, ich glaube das nicht.“ Karl- Heinz ließ sich in einen Sessel fallen und starrte seine Frau entgeistert an.
„Wenn du nicht sofort sagst, dass du dich freust, verlasse ich dich auf der Stelle“, meinte sie schließlich lachend.
„Also gut, ich freue mich, aber erst, wenn das Kind da ist. Mehr kannst du im Moment nicht von mir erwarten.“ Und nun endlich nahm er seine Frau behutsam in die Arme.
Die Nachricht von Julias Schwangerschaft schlug wie eine Bombe ein. Meta und Hans Michaelis kamen am Tag nach dem Anruf zu Besuch, um sich persönlich von Julias Wohlergehen zu überzeugen.
Verena und Sabrina freuten sich von Herzen und Julia erkor Mutter und Tochter zu künftigen Paten.
Tante Hedwig, die mittlerweile vierundachtzig Jahre alt war, sprach nun nicht mehr davon, bald ihrem Mann Wilhelm folgen zu wollen, sondern nur noch von dem „Kleinen“, den sie unbedingt noch kennen lernen wollte.
Und am neunzehnten November 1983 wurde die zweiundvierzig Jahre alte Julia tatsächlich Mutter eines kleinen blonden Jungen, dessen Anblick Meta fassungslos machte, hatte sie doch das Gefühl, als sei ihr kleiner Markus ein zweites Mal zur Welt gekommen.
Julia hingegen glaubte große Ähnlichkeit mit ihrem Mann und dessen Neffen Raymond erkennen zu können, und dieser Meinung schloss sich ihre Schwägerin Gisela, Karl- Heinz Schwester an. Gisela war eigens zur Geburt ihres Neffen aus Kanada angereist.
Der kleine Daniel wuchs zu einem hübschen und freundlichen Kind heran und war die ganze Freude seiner Eltern. Eine sehr enge Beziehung entwickelte sich zudem zu seiner Großtante Meta, die von ihm allerdings nur „Ahne“ genannt wurde. Es blieb allen ein Rätsel, wie der kleine Kerl auf diesen Namen gekommen war.
Fortsetzung folgt
Texte: (c) by rosenjule
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Tag der Veröffentlichung: 29.12.2010
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