Es war gleich am ersten Abend, als Julia ihren Kinderfreund Karl-Heinz Bernfort traf, und es tat ihr gut, dass der Freund aus Kindertagen sie verliebt anschaute. Sie schlitterte einfach in diese Beziehung, Karl-Heinz war da und bewunderte sie, und das tat ihr gut, mehr nicht, und als er ein Jahr später um ihre Hand anhielt, sagte sie ja.
Im Sommer 1964 heirateten Julia und Karl-Heinz und so wohnte sie nun wieder mit Verena in einer Stadt. Die Liebe zu Klein-Sabrina verband die Freundinnen noch mehr, und Julia nahm ihre Pflichten als Patentante der Kleinen sehr ernst.
Sie arbeitete zunächst im Architekturbüro ihres Schwiegervaters, das ihr Mann dann im Jahre 1965 von seinem erkrankten Vater übernahm, als technische Zeichnerin, hatte jedoch nur einen Wunsch, sie wollte Mutter werden. Sie war wie besessen davon, und weil es nicht klappte wurde sie immer schmaler und blasser.
„Liebling, ich habe mir überlegt, dass es vielleicht besser wäre, wenn du einmal richtig ausspannst, und vorübergehend gar nicht ins Büro kommst“, sagte Karl-Heinz Bernfort eines Tages im Jahre 1968 besorgt, „und außerdem mache ich mich ebenfalls so bald als möglich frei, damit wir eine schöne Reise unternehmen können.“
Julias Kopf zuckte hoch.
„Jetzt will er mir auch noch meine Arbeit nehmen“, dachte sie entsetzt, „vermutlich glaubt er, ich sei auch dafür untauglich. Aber ich will nicht zu Hause hocken, warum tut er mir das an?“ Sie starrte ihren Mann sekundenlang zornig an, doch in seinen Augen stand nur echte Besorgnis. Müde wandte sie sich wieder in ihrer Zeichnung zu und fragte mühsam beherrscht:
„Und ab wann meinst du, sollte ich zu Hause bleiben?“
„Auch wenn ich nur ungern auf deine Mitarbeit verzichte, denke ich doch, das Beste wäre es, ab sofort.“
„Wie du meinst“, sagte Julia, legte den Stift aus der Hand und wandte sich langsam zur Tür.
„Ich nehme mir für den Rest des Tages frei und bringe dich nach Hause“, sagte Karl-Heinz, nicht ahnend, was er in Julia ausgelöst hatte. Er liebte seine Frau von Herzen, auch wenn er spürte, das etwas zwischen ihnen stand, was er nicht begreifen konnte, aber er war beseelt von dem Wunsch, bis ans Ende seines Lebens mit ihr zusammen zu sein.
Julia kümmerte sich also fortan nur noch um ihren Haushalt, entließ gegen den Willen ihres Mannes die Haushälterin, behielt allerdings die Putzfrau, die zweimal pro Woche das große Haus sauber machte.
Doch jetzt plagten sie zusätzlich zu ihrem permanent vorhandenen schlechten Gewissen auch noch Minderwertigkeitsgefühle, und anstatt sich ihrem Mann, ihrer Freundin Verena oder sonst jemandem anzuvertrauen, vergrub sie alles in ihrem Inneren und überspielte es mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrer burschikosen Art. Und wenn sie gar zu deprimiert war, trank sie einen Weinbrand oder auch zwei, spürte wie der innere Druck sich in Nichts aufzulösen schien, und griff deshalb immer häufiger zur Flasche.
Zunächst blieb es unbemerkt, doch dann spürte sie immer öfter den besorgt fragenden Blick ihres Mannes, wenn er ihr beim Nachhausekommen einen Begrüßungskuss gab. Das deprimierte sie noch mehr, machte sie zugleich wütend und unglücklich, und trieb sie dennoch dazu, nun gerade Alkohol zu trinken. Es war ein Teufelskreis, in dem Julia sich bewegte, und das Schlimmste war, dass sowohl Karl-Heinz als auch sie darüber nicht sprachen.
Etwa dreizehn Jahre trank Julia mehr oder minder viel, und da sie nie aus der Rolle fiel, merkte nicht einmal Verena, wie hoch ihr Alkoholkonsum in Wirklichkeit war. Sie äußerte sich zwar des Öfteren besorgt über Julias Aussehen und ihren ungeheuren Zigarettenverbrauch, doch da Julia auf derartige Bemerkungen schroff und ablehnend reagierte, unterließ sie bald diesbezügliche Äußerungen.
Es hatte sich ergeben, dass Julia nun überhaupt nicht mehr im Büro ihres Mannes arbeitete, dafür half sie Verena bei Bedarf in deren kleinem Modegeschäft aus, besuchte mit ihr Messen
und war mit ihrem sicheren Gespür für Mode eine große Hilfe beim Einkauf.
Julia sprach auch mit Verena nicht über ihren brennenden Kinderwunsch und diesbezüglich Fragen überspielte sie in ihrer flapsigen Art. Doch innerlich fühlte sie sich tot unglücklich und leer, als die Jahre vergingen und sie nicht schwanger wurde. Oftmals war sie so deprimiert, dass sie glaubte, keine Kraft zum Leben mehr zu haben, an solchen Tagen war ihr Alkohol -und Zigarettenkonsum beängstigend hoch.
Es waren zwei Umstände, die Julia schließlich retteten. Zum einen war es ein Foto von ihr, dass an ihrem vierzigsten Geburtstag aufgenommen worden war, und das sie sehr erschreckte. Faltig und aufgedunsen grinste ihr eigenes Gesicht, das einer uralten Frau zu gehören schien, sie an. „Ich muss damit aufhören“, dachte sie entsetzt, und drückte mit einer hastigen Bewegung die eben angezündete Zigarette aus. Und zum anderen war es der überraschende Besuch ihres Neffen Raymond, der ihr noch deutlicher den Irrsinn ihres Handelns bewusst machte.
Alles an Raymond Bernfort war hell, sein blondes Haar, seine blauen, von dichten beinahe weißen Wimpern umrahmten Augen, ja, sogar sein Gesichtsausdruck erschien Julia nicht nur freundlich, sondern erinnerte sie an strahlende Helligkeit.
„So müssen Engel aussehen“, durchzuckte es Julia, als sie Karl-Heinz Neffen zum ersten Mal sah. Sechs Jahre war der Junge damals alt und von einer solchen Ernsthaftigkeit, dass sie sich an diesem Tag beinahe nur mit diesem Kind beschäftigte. Karl-Heinz einzige Schwester war damals mit ihrem Sohn eigens zu Julias Hochzeit aus Kanada angereist.
Neunzehn Jahre waren sie sich nicht mehr begegnet, und als Raymond kurz nach Julias vierzigstem Geburtstag unangemeldet vor der Tür stand, erkannte sie ihn sofort.
„Ich wusste es, du bist unglücklich“, sagte er, nachdem er die überraschte Julia eine Weile schweigend gemustert hatte, trat zu ihr, und schloss sie behutsam in die Arme. Julia ließ es geschehen und spürte plötzlich, dass sich in ihrem Inneren etwas löste, und ohne es zunächst selbst zu merken, begann sie zu weinen. Er hielt sie weiter in seinen Armen und sprach sanft und beruhigend wie zu einem Kind auf sie ein.
„Ich bin seit eurer Hochzeit in dich verliebt“, sagte er lachend, als sie sich wenig später im Wohnzimmer gegenüber saßen. Julia schaute entgeistert in sein attraktives Gesicht und stimmte in sein Lachen ein, als sie sah, dass er jungenhaft grinste.
„Du bist erstaunlich“, sagte sie und überließ ihm widerstandslos ihre Hände, die er liebevoll streichelte.
„Aber warum, warum bist du so unglücklich?“ fragte er sanft, „ich möchte alles wissen, denn ich verstehe es nicht. Du bist noch schöner als vor zwanzig Jahren, dein Mann liebt dich, und eine Frau wie du leidet doch bestimmt nicht darunter, dass sie bislang nicht Mutter wurde, oder?“
„Doch, tut sie“, entgegnete Julia, sie wunderte sich selbst, denn alles, was sich in den letzten Jahren in ihr aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn und sprudelte beinahe ohne ihr Zutun aus ihr heraus.
Schweigend hörte Raymond zu, während sein Blick unverwandt auf sie gerichtet war.
„Und was quält dich sonst noch?“ fragte er, als Julia nach einer Zigarette griff, sie anzündete und sich danach einen Weinbrand eingoss.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie, „oder vielleicht doch, mir haftet nämlich ein Makel an“, sie begann zu lachen, „stell dir vor, meine erste große Liebe hat mich nach einjähriger Freundschaft ohne ein Wort verlassen, und ich habe das bis heute nicht verkraftet. Irgendwie bin ich nicht normal, oder was sagst du dazu.“
„Hast du mit deinem Mann darüber gesprochen?“
„Nein, ich habe mit niemandem darüber gesprochen, es weiß auch niemand, dass diese Liebe überhaupt existiert hat. Weißt du, Raymond, ich glaubte nicht recht daran, dass dieser wunderbare Mann mich wirklich lieben könnte. Ich war immer der Meinung“...
„Dieser wunderbare Mann?“ unterbrach Raymond sie ärgerlich, „dieser wunderbare Mann ist ein erbärmlicher Feigling, so geht man nicht mit seinen Mitmenschen um. Hör zu, Julia, du bist ein wunderbarer Mensch und dieser Kerl war deiner nicht wert. Bitte, streich ihn aus deinem Leben, beginne endlich zu sehen, was das Leben an Schönem bereithält, und hör auf, dich kaputt zu machen. Warum lässt Karl-Heinz zu, dass du so unglücklich bist, und warum lässt er zu, dass du solche sinnlosen Dinge tust?“ Sein eindringlicher Blich löste sich von Julias Gesicht, ging zu der brennenden Zigarette, die sie in der Hand hielt und blieb schließlich an dem gefüllten Cognacschwenker hängen, den Julia im Begriff war an die Lippen zu setzen.
„Warum Karl-Heinz das zulässt?“ fragte sie unwillig und setzte mit einer abrupten Bewegung den Schwenker zurück auf den Glastisch.
„Warum fragst du so etwas? Warum fragst du nicht, warum ich das zulasse? Mein Mann ist nicht mein Kindermädchen, ich bin schon lange volljährig und für meine Handlungen einzig und allein selbst zuständig. Und überhaupt, du platzt hier einfach herein, überrumpelst mich, und entlockst mir Dinge, die ich noch niemandem erzählt habe. Was willst du eigentlich?“ Julias Augen blitzten, sie war verwirrt und zugleich wütend auf ihn und sich selbst, und als sie jetzt in sein sanftes Gesicht sah, wusste sie einfach nicht mehr weiter. Ein neuer Tränenstrom nahm von ihr Besitz, sie ließ sich zurück auf die Couch fallen, barg das Gesicht in beide Hände und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie vermochte nichts dagegen zu tun.
„Wein nur“, sagte er ungemein zärtlich strich immer wieder über ihren Rücken und murmelte tröstende Worte zunächst in deutsch und dann in englisch. Das beruhigte Julia auf merkwürdige Weise. Sie hielt auf einmal inne und binnen weniger Augenblicke verwandelte sich ihr Weinkrampf in erlösendes Lachen. Sie hob den Kopf und schaute ihn verwundert an.
„Du bist wirklich erstaunlich“, sagte sie mühsam, denn genauso heftig wie vorhin das Weinen übermannte sie nun das Lachen.
„Du aber auch“, sagte Raymond, und nun lachten sie beide laut und anhaltend, und Julia spürte, wie froh und leicht sie sich fühlte, und war sich plötzlich sicher, dass sie es schaffen würde, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Fortsetzung folgt
Texte: (c) by rosenjule
cover google
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2010
Alle Rechte vorbehalten