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"Ich liebe ihn, ich liebe ihn wie verrückt“, äußerlich ganz ruhig stand Verena im Eingang des Geschäftes, das sie gerade verlassen hatte, und konzentrierte sich auf das Gefühl, das Lutz Bergströms überraschender Anblick in ihr ausgelöst hatte. Jetzt kam er direkt auf sie zu, Verena hielt den Atem an, doch noch immer hatte er sie nicht entdeckt, sondern strebte mit weit ausholenden Schritten über die Fahrbahn. Fasziniert starrte Verena ihm entgegen, während ihr Herz heftig klopfte. Sie liebte alles an diesem Mann, seine aufrechte, unbekümmerte Haltung, seinen federnden Gang, den Ausdruck seiner blauen, von dichten dunklen Wimpern umrahmten Augen, die sie liebevoll, und immer ein wenig amüsiert zu betrachten pflegten, seine kühne Nase, das Grübchen in seinem Kinn und seinen ausdrucksvollen Mund.
Verena atmete tief ein, sie war glücklich, und zum ersten Mal seit sie ihn kannte, sicher, dass ihrer Beziehung das Trennungsjahr nichts anhaben konnte.
Er war jetzt auf gleicher Höhe wie sie und hatte sie noch immer nicht bemerkt.
„Hallo, Lutz“, sagte sie fröhlich. Überrascht blieb er stehen, seine Augen weiteten sich und nahmen wieder diesen besonderen Ausdruck an, während ein freudiges Lächeln sein Gesicht wie ein Sonnenstrahl erhellte.
„Verena, mein Mädchen, soeben habe ich an dich gedacht.“ Mit wenigen Schritten war er bei ihr, hob sie wie ein Kind hoch, und drehte sich mit ihr im Kreis.
„Lass mich sofort herunter, du Verrückter“, rief sie lachend, und zappelte mit ihren langen, blau behosten Beinen, „ich bin bereits achtzehn Jahre alt, und möchte respektvoll behandelt werden. Außerdem habe ich einen Entschluss gefasst, den ich dir mitteilen möchte.“
„Einen Entschluss gefasst?“ behutsam stellte er sie auf den Boden zurück, umschloss sie mit beiden Armen und zog sie nahe zu sich heran. Ganz ernst war sein Gesichtsausdruck jetzt, „heißt das, du heiratest mich noch vor meiner Abreise und begleitest mich nach Ägypten?“
„Nein, das natürlich nicht“, wehrte Verena lachend ab, „aber wenn du noch willst, nach deiner Rückkehr.“
„Und ob ich noch will, habe ich ein Glück“, und wieder wurde Verena hoch gerissen und durch die Luft gewirbelt, so dass wildfremde Menschen stehen blieben und ihnen schmunzelnd zuschauten.
„Guten Tag, Lutz“, eine rothaarige, ziemlich stark geschminkte junge Frau stand plötzlich vor ihnen und schaute sie spöttisch lächelnd an.
„O, hallo, Carola“, lachte Lutz unbefangen, „das trifft sich gut. Hier stelle ich dir meine zukünftige Frau vor. Liebling, das ist Carola Fahrenholt, eine alte Freundin von mir. Carola, das ist Verena Michaelsen, die ich gleich nach meiner Rückkehr heiraten werde.“
Er stellte Verena vorsichtig auf die Erde und schüttelte die Hand der Frau herzlich.
„Heiraten?“ fragte die rothaarige Schönheit langsam und bedachte Verena mit einem prüfenden Blick, während sie ihr mit herab gezogenen Mundwinkeln lässig die Hand reichte. Verena ergriff sie und schaute die Frau aufmerksam an. Grüne schräggeschnittene Augen musterten sie feindselig, das schmale Gesicht mit der feinen Nase hatte eine porzellanweiße Haut und wirkte beinahe edel, was allerdings durch den vollen, grellrot geschminkten Mund abgeschwächt wurde. Lange goldene Ohrringe, die unter dem üppigen rotgelockten Haar hervorlugten, gaben dem Aussehen der Frau etwas zigeunerhaftes, und die Kleidung, eine knappe, grüne, tiefausgeschnittene Bluse ohne Ärmel sowie ein schwingender bunter Rock verstärkte diesen Eindruck noch. Die schlanken braunen Beine waren unbestrumpft, und die Füße steckten in hochhackigen Sandaletten, die die rotlackierten Zehnägel freigaben. Verena schätzte sie auf Ende zwanzig.
„Ja, heiraten werde ich dieses Mädchen“, lachte Lutz unbekümmert, was Carola Fahrenholt regelrecht zusammenzucken ließ. Sie war eine Spur blasser geworden und starrte Verena erneut mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Seit wann heiratet man Schulmädchen?“ fragte sie spöttisch, doch Verena merkte, dass ihre Stimme dabei ein wenig zitterte.
„Schulmädchen ist gar nicht falsch“, grinste Lutz, „Verena geht tatsächlich zur Schule, und schickt sich an, eine Kollegin von dir zu werden. Sie besucht nämlich Cora Rossbergs Schauspielschule.“
„Ach“, meinte die Dame, „dann hast du sie also kennen gelernt, als du die Reportage über diese Schule machtest?“
„Nein, umgekehrt“, lachte Lutz, „die Reportage wurde ihretwegen gemacht, nicht wahr, mein Schatz?“
Verena nickte langsam zu seinen Worten, sie fühlte sich wie in einem Stück, dessen Text ihr nicht geläufig war.
„Diese junge Dame ist also der Grund, weshalb man dich in letzter Zeit so selten sieht“, stellte Carola fest, „und, nimmst du sie mit nach Ägypten?“
„Nichts täte ich lieber als das, aber sie will partout nicht“, gab Lutz mit bekümmerter Miene zurück.
„Sie will nicht?“ Carolas grüne Augen waren jetzt erstaunt aufgerissen, und die goldenen Ohrringe klimperten leise als sie fassungslos den Kopf schüttelte.
„Ich muss weiter“, sagte Verena in die Unterhaltung der beiden. Der Druck von Lutz Arm auf ihrer Schulter verstärkte sich noch.
„Wir müssen weiter“, sagte er bestimmt, „oder glaubst du im Ernst, ich ließe dich alleine weitergehen, wo ich doch dem Himmel dankbar bin, dass ich dich so unverhofft getroffen habe?“
„Dann lasst euch nicht aufhalten“, sagte Carola Fahrenholt spöttisch, reichte ihnen nacheinander lässig die Hand, und stöckelte hüftschwenkend davon.
Lächelnd schaute Lutz ihr nach.
„Wohin willst du eigentlich?“ wollte er dann von Verena wissen.
„Zur Bushaltestelle“, gab Verena langsam zurück, die Begegnung mit der rothaarigen Schönheit hatte sie irgendwie nachdenklich gemacht, „zwei Busse sind inzwischen ohne mich gefahren.“
„Dann lassen wir den nächsten auch noch sausen und gehen ein Eis essen, einverstanden?“
„Einverstanden“, nickte Verena und engumschlungen strebten sie die nahegelegene Eisdiele an.
Als dann die Eisbecher vor ihnen standen sagte Lutz lächelnd:
„Nun stell schon die Fragen, die dir auf der Seele brennen.“
„Mir brennen keine Fragen auf der Seele“, gab Verena ruhig zur Antwort. Überrascht schaute Lutz sie an.
„Du bist einfach erstaunlich“, sagte er nach einer Weile kopfschüttelnd, „einerseits siehst du mitunter tatsächlich wie ein Schulmädchen aus, insbesondere wenn du wie jetzt deine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hast, andrerseits reagierst du oftmals so unglaublich vernünftig, dass es schon beinahe beängstigend ist. Hör zu, kleines Mädchen, es gab einige Carolas in meinem Leben, doch in Zukunft gibt es keine Carolas mehr, sondern nur noch Verena. Genügt das? Und vor allem, glaubst du mir das?“
„Ja“, lächelte Verena und lehnte den Kopf an seine Schulter.
„Mein Gott, liebe ich dich“, sagte Lutz und drückte sie fest an sich, „und daran wird sich nie etwas ändern. Und was soll ich ein Jahr lang ohne dich tun?“
„An mich denken, und darauf vertrauen, dass die Trennung uns nichts anhaben kann.“ Verena schluckte, und vermochte nur mit großer Mühe, die Tränen zurückzuhalten.


Es war Samstag der siebzehnte September 1960, Verena stand als „Mariechen von Nimwegen“ im Hof der Burg Linn auf der Freilichtbühne, als es sie aus heiterem Himmel wie ein Blitz durchzuckte: „Ich bin schwanger.“
Für einen Moment vergaß sie Text und alles andere um sich herum, so überwältigt war sie von dieser Erkenntnis, doch rasch kehrte sie in Wirklichkeit und Stück zurück, und spielte so überzeugend, so voller Wärme und Freude ihren Part, dass das Publikum am Ende begeistert applaudierte.
„Du warst großartig“, sagte Cora Rossberg unter Tränen, „ich habe noch nie in einem Stück so geheult. Du wirst einmal eine ganz große werden. Komm mit, ich will dich ein paar Leuten vorstellen.“
„Nein, nein, jetzt nicht“, wehrte Verena ab, „ich muss dringend mit meiner Familie reden.“
„Dann beeil dich, stelle ich dich eben hinterher bei unserer Feier den bewussten Leuten vor.“
„Nein, es tut mir leid, ich fahre mit meiner Familie nach Hause, und zwar jetzt, bitte nicht böse sein“, und schon hatte Verena sich aus dem Kreis der sie umgebenden Mitschüler gelöst und lief eilig zum Parkplatz, wo ihr Vater, Meta und Julia auf sie warteten.
„Aber, Verena“, rief Cora verständnislos hinter ihr her, doch Verena schien sie nicht zu hören.
„Was hat sie denn?“ wandte Cora sich an ihre Schüler, doch die waren ebenso verwundert wie sie, und schauten Verena enttäuscht nach.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte Hans Michaelis und wischte sich verstohlen mit der Hand über die Augen, „und außerdem bin ich froh, dass ich dem Rat deiner Mutter gefolgt bin.“
„Ich auch!“ Meta trat zu Verena und nahm sie zu aller Verwunderung in den Arm.
„Geliebte Verena“, lachte Julia, „ich freue mich schon heute darauf, mich eines Tages im Glanz der Berühmtheit meiner Lieblingsstiefschwester sonnen zu können. Du warst einfach umwerfend. Schade, dass der Ägyptenreisende dich nicht sehen konnte.“
Verena lächelte versonnen und steuerte dann energisch auf den Wagen des Vaters zu.
„Lasst uns heim fahren“, drängte sie, „ich muss nachdenken.“
Verwundert entsprach Hans Michaelis dem Wunsch seiner Tochter, schloss den Wagen auf und ließ seine Familie einsteigen.
Die Heimfahrt verlief recht schweigsam, denn Verena hatte sich in ihre Ecke gekuschelt, hielt die Augen geschlossen und sah irgendwie verändert und unnahbar aus. Julia, die neben ihr saß, schaute die Freundin immer wieder forschend an. Sie war ein wenig traurig, da sie sich zum ersten Mal seit sie denken konnte, ausgeschlossen fühlte. Doch plötzlich legte Verena mit einer kleinen zärtlichen Geste die Hand auf die ihre, und schon war Julias Traurigkeit verflogen. Sie kannte ihre Verena und wusste, dass sie sich zu gegebener Zeit bei ihr aussprechen würde.
Und dann waren sie zu Hause. Meta schloss gerade die Haustüre auf, als Verena sagte:
„Kommt ihr bitte ins Wohnzimmer? Ich muss euch etwas sagen.“
„Was gibt es denn so Wichtiges?“ scherzte Hans Michaelis, „du siehst ja richtig feierlich aus.“ Er ließ sich in einen Sessel fallen und schaute ebenso erwartungsvoll wie Meta und Julia seine Tochter an.
„Ich erwarte ein Kind.“ Ganz ruhig sagte Verena diesen Satz und dabei zog ein Leuchten über ihr Gesicht, das sie wunderschön machte.
Drei Augenpaare starrten sie an, niemand sagte etwas, doch dann geschah etwas Überraschendes. Meta sprang auf, lief zu Verena, schloss sie in die Arme und sagte mit ungewohnt sanfter Stimme:
“Dann freue dich von Herzen darauf, mein Kind, und wir anderen, da sei sicher, werden dir jede Hilfe geben, die du brauchst, damit auch alles gut geht.“ Sie drückte die verblüffte Verena liebevoll an sich und streichelte immer wieder über ihr Haar.
Hans Michaelis und Julia aber saßen bewegungslos in ihren Sesseln und schauten sprachlos zu.
Doch dann stieß Julia einen Schrei aus.
„Papa, nun schau nicht so entgeistert, du wirst Großvater“, schrie sie, lief zu ihm und umarmte ihn herzlich.
„Großvater?“ stammelte Hans Michaelis ein wenig verwirrt, „ja, nun sag mal...“ Er schaute Julia etwas hilflos an und dann wanderte sein Blick zu Meta, die noch immer Verena umarmte. Er stand auf, trat zu Frau und Tochter, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Meta ihn an:
„Wehe, du schimpfst das Kind aus, dann bekommst du es mit mir zu tun. Überlege also gut, was du sagst.“
„Ich fasse es nicht“, schrie Julia dazwischen, „manchmal muss man dich richtig lieben.“
„Das finde ich auch“, sagte Hans Michaelis, und schloss seine Frau liebevoll in die Arme.
„Die gute Meta“, flüsterte Verena, nahm die Freundin bei der Hand, und leise verließen sie den Raum.

Fortsetzung folgt


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Texte: (c) by rosenjule cover google
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2010

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