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Es war am Nachmittag des darauffolgenden Tages. Verena war mit der Straßenbahn zu dem Villenvorort gelangt, in dem Carla Schwenker wohnte, und ging suchend die Beethovenstraße entlang. Nummer 54, da war es. Sie öffnete die weiße Pforte, gelangte durch einen gepflegten Vorgarten zu einer weißen Haustüre mit Butzenscheiben, schaute auf das blank geputzte Messingschild und wunderte sich. Bergström stand darauf, sonst nichts. Bergström? Wieso Bergström? Carla hieß doch Schwenker. Verena ging ein paar Schritte zurück, um erneut nach der Hausnummer zu sehen und schüttelte verwundert den Kopf, es blieb die 54. Während sie noch überlegte, was zu tun sei, wurde die Haustüre plötzlich schwungvoll geöffnet, und ein junger blonder Mann stürzte mit wehendem Mantel heraus.
„Hoppla, wen haben wir denn da?“ fragte er überrascht. Verena schaute in zwei lachende blaue Augen, die entzückt auf sie herab sahen.
„Ich, ich..“ stotterte sie und vermochte nicht den Blick von diesen Augen zu lösen, die fasziniert ihr Gesicht betrachteten. Regungslos standen die beiden jungen Menschen voreinander und sahen sich unentwegt an.
„Wollen Sie zu uns?“ fragte er plötzlich.
„Ja, nein, ich, also, so ein Unsinn, ich wollte zur Beethovenstraße 54, aber irgendetwas stimmt hier nicht. Auf dem Schild steht Bergström, und ich will zu Carla Schwenker.“
„Dann haben Sie schlicht und einfach die beiden Zahlen vertauscht. Schwenkers wohnen Nummer 45. Halt, hier geblieben, Sie können jetzt nicht einfach weglaufen.“
„Nicht?“ fragte Verena und schaute auf ihren rechten Arm, den er festhielt.
„Nein“, kam die prompte Antwort, „jedenfalls nicht, bevor ich Ihren Namen weiß, und wann wir uns wiedersehen.“
„Aber ich kenne Sie doch gar nicht“, stotterte Verena verwundert.
„Eben, darum müssen wir uns ja wiedersehen, damit wir das schleunigst nachholen. Ist doch einleuchtend, nicht?“ Der junge Mann hatte mit beiden Händen ihre Schultern ergriffen, und Verena war darauf gefasst, dass er sie küssen würde, ja, sie wartete förmlich darauf. Doch unerwartet ließ er sie los.
„Verzeihen Sie, ich habe Sie erschreckt, mein Name ist Lutz Bergström und ich habe gestern den größten Fehler meines Lebens begangen, aber da konnte ich ja auch noch nicht wissen, dass ich Sie heute kennen lernen würde. Junge, Junge, was mache ich nun bloß?“ Er rieb sich nachdenklich mit der rechten Hand sein glatt rasiertes Kinn und schaute kopfschüttelnd auf sie herab. Doch dann glitt ein verschmitztes Lächeln über sein attraktives Gesicht, er nickte mehrmals heftig mit dem Kopf, als wolle er sich selbst etwas bestätigen und meinte dann strahlend:
„Vier Monate reichen fürs erste, nicht? Und ein Jahr geht doch so schnell vorbei. Also, nicht traurig sein, wir kriegen das schon hin, nicht wahr?“
Verena vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren, sie stand wie fest genagelt.
„Wir kriegen das schon hin? Was meinen Sie? Ich verstehe kein Wort“, sagte sie verwirrt.
„Na, ich habe doch gestern den Vertrag unterschrieben, der mich für mindestens ein Jahr nach Ägypten verschlägt. Wissen Sie, das ist ein faszinierendes Land, und eigentlich freue ich mich darauf, und da stellen Sie sich einen Tag später in unseren Garten und machen mir das Leben schwer. Warum sind Sie nicht gestern gekommen?“
„Warum ich nicht gestern gekommen bin?“ Verena schaute in das vergnügt grinsende Männergesicht und plötzlich wurde ihr das Irrwitzige dieser Situation bewusst. Sie, die fleißige Verena, die nur ein Ziel hatte, so schnell wie möglich zu einer guten Schauspielerin zu avancieren, um auf allen deutschen Bühnen Theater spielen zu können, stand in einem wildfremden Vorgarten, ließ sich von einem ebenso wildfremden Mann unverständliche Dinge erzählen, und fand das auch noch schön. Sie begann zu lachen, wie sie nie zuvor gelacht hatte, tief aus ihrem Bauch heraus kam der Lachreiz und ließ sich nicht zurückhalten.
„Na, also, habe ich doch gleich gemerkt, dass Sie viel zu ernst für ihr Alter sind“, feixte er, und nun sah man zwei junge Menschen lachen, als wollten sie nie wieder aufhören.
„Was wollen Sie eigentlich bei Schwenkers?“ fragte er, als sie sich endlich beruhigt hatten, nahm ihre schmale Hand in die seine und gemeinsam verließen sie den gepflegten Vorgarten.
„Wir studieren einmal im Monat bei einem Mitschüler Rollenspiele ein, nehmen zur besseren Kontrolle alles auf Tonband auf, und besprechen später mit unserer Lehrerin das Aufgenommene“, antworte Verena.
„Aha“, sagte er, „die junge Dame besucht also mit Carla die Schauspielschule. Und diesmal probt ihr bei Schwenkers?“ Und als Verena nickte fuhr er fort:
„Nun, dann hole ich Sie nachher ab. Wie lange dauert so etwas für gewöhnlich?“
„O, das ist ganz unterschiedlich“, gab Verena bereitwillig Auskunft, sie befand sich in einer merkwürdigen Stimmung.
„Also, wir machen es so“, Lutz Bergström schaute auf seine Armbanduhr und nickte dann, „sagen wir, ich hole Sie in zwei Stunden bei Schwenkers ab. Wie heißen Sie überhaupt?“
„Verena“, begann sie, doch plötzlich war ihr, als erwache sie aus einem Traum.
„Ich muss mich beeilen, und außerdem brauchen Sie nicht auf mich zu warten, ich kenne Sie doch gar nicht“, abrupt wandte sie sich um, und stürmte zum Haus Nummer 45, in dem ihre Freunde bereits auf sie warteten.
Lutz Bergström schaute ihr versonnen nach.
„Das wird sich bald ändern, kleines Mädchen“, murmelte er vergnügt und ging pfeifend zu seinem Wagen, der in der Nähe geparkt war.
Es war Mittwoch, der dreiundzwanzigste März 1960 als Verena ihre große Liebe Lutz Bergström kennen lernte, und diese Tatsache sollte ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen.


„Ein Journalist der „Rheinischen Presse“ möchte eine Reportage über unsere Schule machen, und wird in etwa einer Stunde mit einem Fotografen hier sein“, sagte Frau Rossberg wenige Tage später vor Beginn des Unterrichts zu ihren Schülern, „hat jemand Einwände?“
Nein, niemand hatte Einwände, im Gegenteil, die Nachricht rief emsige Betriebsamkeit hervor. Cora Rossberg ließ ihre sonst so disziplinierten Schülerinnen gewähren, die nun nacheinander den Waschraum aufsuchten, um Make up und Frisuren zu überprüfen, und sich gegenseitig Tipps zur Verbesserung ihres Aussehens gaben.
Lediglich Verena ließ sich von der allgemeinen Aufregung nicht anstecken, sondern saß auf einem Stuhl am Fenster und schaute träumend hinaus.
Seit mehreren Tagen fiel sie bereits durch ihr verändertes Wesen auf, beteiligte sich nur selten am Unterricht und schien immer in Gedanken versunken. Cora Rossberg nahm sich vor, nach dem Besuch der Zeitungsleute ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden, in der Hoffnung, mit Hilfe dieses Gespräches Verenas seltsames Benehmen aus der Welt schaffen zu können.
Verena aber dachte immer wieder an die Begegnung mit dem blonden Lutz Bergström, der tatsächlich am frühen Abend des gleichen Tages auf sie gewartet, und den sie einfach ignoriert hatte, in dem sie Markos Arm ergriffen und mit ihm fortgegangen war. Warum, wusste sie selbst nicht. Doch von dem Zeitpunkt an verfolgten sie zwei blaue Augen, ihr tat das Herz weh, sie war melancholisch, hätte nur heulen können, und wusste mit sich und der Welt nichts anzufangen. Auch die Schule, auf die sie sich normaler Weise jeden Tag aus Neue freute, vermochte sie nicht aus ihrer teilnahmslosen Stimmung zu reißen.
So hörte sie auch nicht hin, als Carla Schwenker ihren Mitschülern stolz verkündete:
„Ihr habt mir zu verdanken, dass die Presse heute kommt, einer unserer Nachbarn ist Journalist, und den habe ich auf unsere Schule aufmerksam gemacht.“
„Das hast du wirklich toll gemacht“, wurde ihr von allen Seiten bestätigt. Einzig Marko, dessen Blick immer wieder zu der schweigsamen Verena am Fenster ging, beteiligte sich nicht an der allgemeinen Unterhaltung. Er ging jetzt zu Verena, legte den Arm um ihre Schultern und fragte leise:
„Hast du Sorgen? Bitte, lass mich dir helfen, es macht mich ganz verrückt, wenn du so traurig bist.“ Verena sah verständnislos zu ihm auf, sah seine schwarzen Augen auf sich gerichtet und erschrak, denn zum ersten Mal erkannte sie, dass unverhüllte Liebe in ihnen stand. Mit einer raschen Bewegung sprang sie von ihrem Stuhl, sodass sein Arm abrupt von ihrer Schulter fiel, und stürzte zum Waschraum. Dort starrte sie in den Spiegel und murmelte immer wieder:
„Ich will Schauspielerin werden, sonst nichts. Ich will weder, dass ein Mann in mich verliebt ist, noch will ich in einen Mann verliebt sein. Schluss mit dem Blödsinn.“ Sie fixierte ihr Spiegelbild, als wolle sie sich selbst hypnotisieren, richtete dann ihr langes blondes Haar, zupfte ein paar imaginäre Flusen von ihrem blauen Rollkragenpullover und verließ hoch erhobenen Hauptes den Waschraum. Im Flur streichelte sie einige der absoluten Herren des Hauses, die dort herumlagen, richtete sich aufatmend auf, und schaute in zwei blaue Augen, die sie sehr ernst musterten.
„Nein, welch ein Zufall“, sagte eine Stimme, deren Klang ihr im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut ging, „ist das nicht die junge Dame, die Verabredungen einfach ignoriert? Wie war das noch mit dem Berg der zum Propheten kommt, ach, lassen wir das, komm her.“ Zwei Hände umfassten ihre Schultern, zogen sie sacht nach vorn, und dann spürte Verena den ersten Kuss ihres Lebens auf den Lippen.
„Wirst du mich ein zweites Mal einfach stehen lassen?“ fragte seine Stimme sanft.
„Nein, nie wieder“, versprach Verena und glaubte, ihr Herz müsse zerspringen.
„Dein Glück“, sagte er lächelnd, „und jetzt ab zu Fototermin und Interview, alles andere später. OK?“
„Ja“, sagte Verena glücklich und ließ sich von ihm durch die Tür in den Unterrichtsraum schieben. Dort machte bereits ein junger Fotograf unaufhörlich Aufnahmen, hauptsächlich von den attraktiven jungen Damen, die sich gerne in Positur stellten.
„Thomas, ich möchte jetzt eine Serie von diesem schönen Kind“, sagte Lutz.
„Mit Vergnügen“, kam die Antwort und ein wahres Blitzlichtgewitter prasselte auf Verena ein. Sie drehte sich auf Geheiß um sich selbst, setzte sich auf einen Stuhl, stand wieder auf, schritt über Katzenleiber die Treppe hinunter, sprang in die Luft, nahm die Arme hinter den Kopf, stemmte die Hände in die Taille, hielt die langen blonden Haare hoch, lehnte sich draußen an den Eisenzaun, tänzelte über die grauen Gehwegplatten, kurzum, sie ließ sich in allen möglichen Positionen fotografieren und hatte ungeheuren Spaß daran.
„Dieses Mädchen ist entweder ein Profi oder ein Naturtalent“, sagte der Fotograf Thomas Langer zu Lutz, als Verena nach beendeter Arbeit müde aber glücklich auf den Diwan gesunken war, „ich habe noch nie so schnell so gute Bilder von einem Modell machen können.“
Doch Lutz reagierte kaum, sein Blick war nachdenklich auf den schweigsamen Marko gerichtet, der mit finsterer Miene der Arbeit des Fotografen zugeschaut hatte und nun am Fenster stand, und seine Augen unentwegt auf Verena gerichtet hielt.


Verenas Elternhaus war im Jahre 1910 von den Großeltern erbaut worden, nachdem ein Feuer zu Beginn des gleichen Jahres das uralte Fachwerkhaus bis auf die Grundmauern nieder gebrannt hatte. Das neuerstandene stattliche Gebäude beinhaltete damals neben der Bäckerei und der Backstube eine Gastwirtschaft, die Hans Michaelis jedoch, dem Rat seiner Frau Celia folgend, nach dem Krieg nicht mehr eröffnete. Die Räumlichkeiten wurden zum einen Teil zur Vergrößerung des Wohnbereichs und zum anderen zur Einrichtung eines kleinen gemütlichen Cafes genutzt. Letzteres wurde anfangs von Nachbarn und Dorfmitbewohnern mitleidig belächelt, doch im Laufe der Zeit entwickelte es sich zu einem beliebten Treffpunkt für jung und alt.
Verena liebte dieses gemütliche Haus, dessen Vorderseite mit den großen Schaufenstern und dem hellen Verkaufraum an der Hauptstraße des kleinen Ortes lag, während der auf der Rückseite des Hauses liegende Hof in eine schmale Pappelallee mündete. Diese Allee nutzten Verena und Julia beinahe täglich, um zu ihrem Lieblingsplatz zu gelangen, einem kleinen Bach, an dessen Böschung sie oftmals stundenlang lesend oder träumend im Gras lagen, oder aber, über das Geländer der kleinen Brücke gebeugt, sich über ihre vom Wasser verzerrten Gesichter amüsierten.
Auch später, bei Kummer oder Freude, liefen sowohl Verena als auch Julia zu diesem Platz, und wenn sie gesucht wurden, sah man zuerst an dieser Stelle nach.
„Wenn ich später einmal einen Mann kennen lerne, zeige ich ihm unseren Lieblingsplatz, und nur, wenn er ihm gefällt, ist er der Richtige“, hatte Verena vor langer Zeit einmal zu Julia gesagt, und so wunderte Julia sich auch nicht, als Verena eines Abends im Mai 1960 mit roten Wangen und leuchtenden Augen nach Hause kam, und der Freundin durch Gesten zu verstehen gab, ihr nach oben zu folgen.
„Stell dir vor, Lutz findet, dieses sei der romantischste Ort, den er je gesehen hat. Ist das nicht wunderbar?“ Verenas Augen strahlten, sie sah in dem Augenblick so schön aus, dass Julia sie fasziniert betrachtete.
„Wenn der Kerl dich enttäuscht, schneide ich ihm die Gurgel durch“, sagte sie nach einer Weile so grimmig, dass Verena erstaunt fragte:
„He, Jule, was ist los? Du brauchst nicht wütend auf Lutz zu sein, er liebt mich wirklich, und wenn sein Jahr in Kairo vorüber ist, verlängert er den Vertag nicht, sondern kommt auf schnellstem Wege zurück. Nun, was sagst du dazu?“
„Gar nichts“, knurrte Julia, „mir geht das alles ein wenig zu rasch.“
„Ach, du Liebe“, lächelte Verena versonnen, „wüsste ich es nicht besser, so könnte ich fast meinen, du wärest eifersüchtig.“
„O, nein, Verena“, mit wenigen Schritten war Julia bei der Freundin, legte den Arm um ihre Schultern und schaute sie eindringlich an:
„Bitte, nicht, hörst du, glaub bitte niemals, dass ich eifersüchtig bin, oder dir womöglich deine Liebe nicht gönnen würde. Ich wünsche dir alles Glück der Welt, das musst du mir glauben. Ich habe nur ganz einfach Angst, dass der Kerl dich nicht verdient. Ich sehe doch, wie glücklich du bist, aber woher weiß ich, dass das auch so bleibt. Du bist so ein Lämmchen...“
„Aber du bist erfahren und weißt, was Leben bedeutet, nicht wahr, meine alte Unke?“ unterbrach Verena die Freundin lachend.
„Ja, das weiß ich auch, zum einen bin ich exakt vier Monate älter als du, und zum anderen nicht so hoffungslos romantisch. Mir macht so leicht niemand etwas vor, was man von dir leider nicht behaupten kann. Pass bloß auf dich auf.“
„Versprochen“, lachte Verena, „und wann darf ich dir nun Lutz vorstellen? Du bist doch sonst so erpicht darauf, Menschen kennen zulernen, weshalb machst du gerade bei ihm eine Ausnahme?“
„Weil mir nicht gefällt, dass du dich von dem Kerl so verhexen lässt“, brummte Julia, „ich wollte eigentlich warten, bis er um deine Hand anhält. Aber wenn dir soviel daran liegt, kann ich ihn mir ja mal ansehen. Vielleicht bin ich dann beruhigt.“
„Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht“, meinte Verena verständnislos, „was an dieser Freundschaft beunruhigt dich so sehr?“
„Ich weiß es nicht genau, vielleicht ist es einfach der Zustand, in dem du dich seit dem Auftauchen dieses Herrn Bergström befindest. Mir sind so große Gefühle eben suspekt. Verzeih, aber ich bin nun mal realistischer als du, was sicher viele Vorteile, mitunter aber auch Nachteile hat. Zumindest bringt mich sicher nie und nimmer ein Mann dazu, wie auf Wolken durchs Dasein zu wandeln.“
„Ich wandele nicht auf Wolken, ich bin einfach nur verliebt“, stellte Verena lachend fest, „doch genug damit, du musst mich noch abhören.“
„Gerne“, seufzte Julia, „siehst du, das ist auch so ein Punkt, ich lebe ständig in der Angst, dass du wegen dieses Herrn deine Schauspielerei aufgibst, und das wäre ewig schade, denn ein Talent wie das deine sollte der Menschheit nicht vorenthalten werden.“
„Die Menschheit würde es überleben, doch dazu kommt es sicher nicht. Ich gebe weder meine Schule, noch meine Schauspielerei auf.“
„Hoffen wir es“, murmelte Julia und griff nach dem Rollenbuch.


„Ich möchte dich meinen Eltern vorstellen“, sagte Lutz Bergström wenige Tage später. Sie schlenderten Arm in Arm die Pappelallee entlang, hatten jetzt die kleine Brücke erreicht, und beugten sich gemeinsam über das Geländer.
„Nein“, sagte Verena so bestimmt, dass Lutz überrascht aufsah, „ich möchte damit warten, bis du zurück kommst. Ein Jahr ist lang, und es kann wer weiß was passieren. Wenn du dann wieder da bist, sind wir uns beide unserer Gefühle sicher, so oder so, und dann können wir unsere Familien einbeziehen, oder auch nicht.“
„Aber hallo, junge Dame, du liebst mich doch, oder? Ich kann kaum glauben, dass du so etwas sagst. Was soll das heißen, sind wir uns unserer Gefühle sicher? Ich bin sicher! Ich liebe dich, und will, dass du meine Frau wirst, was daran ist nicht sicher?“
Er umschloss Verenas Gesicht mit beiden Händen und schaute kopfschüttelnd auf sie herab.
„Lutz, es ist dieses Jahr, das mich so empfinden lässt. Ägypten ist so weit weg, und manchmal habe ich einfach Angst, das ist alles. Verzeih, aber ich möchte deine Eltern erst nach dem Jahr kennen lernen, und umgekehrt genauso. Es läuft uns doch nicht weg.“
„Nein, es läuft uns nicht weg“, stimmte Lutz ein wenig betroffen zu, „aber deine Zweifel müssen weg, es macht mich traurig, wenn du so etwas sagst.“
Er zog sie fest in seine Arme, und Verena kuschelte sich glücklich an ihn.
„Wenn du ein Kind bekommst, brauchst du gar nicht erst nach Hause zu kommen“, sagte Meta böse, als Verena am gleichen Abend strahlend das Wohnzimmer betrat. Hans Michaelis schaute erschrocken von seiner Zeitung hoch und Julia, die gerade durch die Terrassentür herein kam, schüttelte unwillig den Kopf.
„Ansichten wie im Mittelalter“, sagte sie respektlos, „man muss sich manchmal schämen, mit dir verwandt zu sein. Was sagst du dazu, Papa?“ Doch bevor Hans Michaelis antworten konnte, meinte Verena schmunzelnd:
„Ich wusste gar nicht, dass man vom küssen Kinder kriegen kann.“ Worauf sie zu lachen begann. Verdutzt schaute Meta von einem zum anderen, während Julia und Hans Michaelis in Verenas Lachen einstimmten, und sich gar nicht mehr beruhigen konnten.
„Und warum schleichst du mit diesem Herrn immer nur draußen herum?“ fragte Meta spitz, „von allen Seiten wird mir zu getragen, dass uns wohl bald eine Verlobung ins Haus steht, aber wir wissen von nichts, und was noch schlimmer ist, wir kennen den Herrn nicht einmal.“
„Hör zu Meta, da ist nichts, was du wissen müsstest, weder habe ich die Absicht mich zu verloben, noch in Bälde ein Kind zu bekommen. Im nächsten Jahr kann ich dir mehr sagen, aber so lange musst du schon warten, und jetzt gehe ich zu Bett, gute Nacht.“ Und schon verließen die beiden jungen Mädchen das Wohnzimmer, wo Hans Michaelis sich wieder in die Zeitung vertiefte, während seine Frau sich brummelnd an ihrer Handarbeit zu schaffen machte.

Es war ein Sommer, wie er im Buche stand, dieser Frühsommer des Jahres 1960. Von morgens bis abends schien die Sonne, und wenn es überhaupt einmal regnete, so beinahe immer des Nachts. Tag für Tag waren Verena und Lutz beieinander, ängstlich jede Minute die ihnen blieb, nutzend, denn der Tag der Trennung rückte näher und näher. Frau Rossberg war mit der Leistung ihrer Lieblingsschülerin besonders zufrieden, und während eines Telefonats mit Hans Michaelis, für den sie echte Freundschaft empfand, die dieser erwiderte, sagte sie begeistert:
„Dass dieses Kind begabt ist, wusste ich seit der ersten Probe, doch was wirklich in ihr steckt, zeigt sich erst jetzt. Ich denke, sie wird Karriere machen.“
„Na, ich weiß nicht“, seufzte Hans Michaelis, „das Kind ist verliebt. Und dagegen ist das größte Talent machtlos.“
„Nein, nein keine Sorge, Menschen wie Verena verhilft die Liebe zu besonders schneller Entfaltung. Ich sehe das ganz gelassen, wenn ich auch noch in recht guter Erinnerung habe, dass es sehr wohl anders kommen kann, siehe unsere gute Celia. Doch ich denke, bei Verena ist die Sache anders. Ich freue mich bereits darauf, sie bei unserer Theateraufführung im September einer staunenden Öffentlichkeit zu präsentieren. Man wird genauso entzückt sein, wie vor wenigen Wochen die Kollegen, die mir nach der Zwischenprüfung zu meiner talentierten Schülerin gratuliert haben, und ihr ebenfalls eine steile Karriere voraussagten.“
„Bis dahin sind es noch drei Monate“, dämpfte Hans Michaelis ihre Euphorie, „und wer weiß, vielleicht schafft es dieser Mann doch noch, sie klammheimlich mitzunehmen.“
„O nein, nur dass nicht“, antwortete Cora Rossberg entsetzt, „wie kommen Sie darauf? Hat er oder Verena etwas in der Richtung angedeutet?“
„Nein, Verena hat diesbezüglich nichts angedeutet, und den jungen Mann habe ich bisher nicht kennen gelernt.“
„Nicht? Das überrascht mich, das heißt, dann ist die Geschichte vielleicht doch nicht so ernst?“
„Ich fürchte doch“, sagte Hans bedächtig, „nur will Verena mit der Vorstellung des Mannes warten, bis er seinen Auslandsaufenthalt beendet hat. Sie hat sich auch bislang geweigert, seine Eltern kennen zu lernen.“
„Sehr vernünftig“, lobte Cora Rossberg, „sehen Sie, das ist es, was ich vorhin meinte. Verena ist nicht so spontan wie ihre Mutter, sondern wartet erst einmal ab, und das kann uns ja nur recht sein, nicht wahr, Herr Michaelis? Macht Ihnen vielleicht ein wenig die Angst zu schaffen, Verena könnte sich Hals über Kopf in diese Beziehung stürzen, wie weiland ihre Mutter mit einem Bäcker- und Konditormeister?“
„Diese Angst existiert natürlich, obwohl meiner Tochter gewiss Schlimmeres widerfahren könnte, als eine glückliche Ehe zu führen, aber...“
„Hören wir auf zu orakeln und warten es einfach ab“, unterbrach Cora lachend, „ich sehe schon, Sie bereuen kein bisschen, dass durch Ihre Schuld Celias Talent nicht zur Entfaltung kam. Doch genug davon, machen Sie es gut, alter Freund, ich muss mich um meine Katzen kümmern, bis bald.“
„Bis bald“, lächelte Hans Michaelis und legte langsam den Hörer auf.


Marko hatte sich verändert, sein bis dahin stets freundliches Lächeln hatte einem missmutigen Gesichtausdruck Platz gemacht. Hatte er bislang voller Eifer und mit viel Freude an den Proben teilgenommen, so saß er jetzt zumeist abweisend und schweigsam abseits und ließ sich nur mit größter Mühe zum mitmachen animieren. Nicht nur Cora Rossberg fiel das auf, sondern auch seinen Mitschülerinnen und Mitschülern.
„Was ist mit Marko los?“ wurde Verena immer häufiger gefragt. Ja, was war mit Marko los? Verena stellte sich selbst diese Frage, wagte jedoch nicht, mit Marko darüber zu sprechen, denn irgendwie fürchtete sie seine Antwort.
„So geht das nicht weiter“, sagte Cora Rossberg eines Vormittags energisch, als Marko erneut unbeteiligt den Proben beiwohnte und sich wiederholt weigerte, einen Part zu übernehmen.
„Marko, Sie sind einer unserer talentiertesten Schüler, aber wenn Sie sich weiterhin weigern mitzumachen, sollten Sie vielleicht ein paar Tage zu Hause bleiben. Eventuell finden Sie ja dann heraus, was Sie wollen. Oder kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
„Nein“, brummte Marko abweisend, und richtete einen finsteren Blick auf Verena, „Sie können mir nicht helfen.“
„Nun gut, dennoch möchte ich nach dem Unterricht mit Ihnen reden, einverstanden?“ Trotzig wie ein kleiner Junge nickte er, und Cora setzte den Unterricht fort.
Über das Gespräch, das sie dann bei einer Tasse Kaffee am frühen Nachmittag führten, wurde nichts bekannt, doch hatte es wenigstens zur Folge, dass Marko sich wieder am Unterricht beteiligte, wenn auch sein Enthusiasmus weiterhin gedämpft blieb.

Fortsetzung folgt

Impressum

Texte: (c) by rosenjule cover google
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2010

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