Verena
„Na, meine Süße, was willst du später einmal werden? Vielleicht Schneiderin wie ich? Dann bekommst du mein Geschäft.“ Lachend umarmte Großtante Hedwig, die eigens mit dem Zug zu Verenas sechstem Geburtstag angereist war, ihre hübsche blonde Großnichte.
„Ich werde Schauspielerin“, sagte Verena bestimmt.
Alle lachten, der Vater, Tante Hedwig, die Hausmitbewohnerin Meta Kowalski, die der Mutter beim Verkauf in der Bäckerei half, und deren Nichte Julia Verenas beste Freundin geworden war. Nur Celia Michaelis lachte nicht, sondern nickte ihrer kleinen hübschen Tochter liebevoll lächelnd zu.
„Wenn das dein Wunsch bleiben sollte, werden wir dich zu gegebener Zeit unterstützen, doch zunächst wollen wir deine Geburtstagstorte probieren“, sagte sie gutgelaunt, und ließ Verena die sechs Kerzen auspusten, die die wunderschöne Torte zierten, die der Vater kunstvoll für sein einziges Kind gezaubert hatte.
Man schrieb das Jahr 1948 und Verena sollte diesen Geburtstag nie mehr vergessen, war es doch der letzte, den die Mutter gesund und munter mit ihr feiern konnte. Im darauffolgenden Jahr lag sie krank zu Bett, und wieder ein Jahr später hatte man Celia Michaelis bereits zu Grabe getragen.
Dieser Verlust war ein schwerer Schlag für Hans Michaelis, der seine schöne Frau sehr geliebt hatte. Der große stattliche Mann wirkte wie erloschen, und ging Tag für Tag zum Friedhof. Sein Gesicht hellte sich nur auf, wenn seine kleine Tochter, die das Ebenbild ihrer Mutter zu werden schien, in seiner Nähe weilte.
Tante Hedwig hatte kurzerhand ihren Laden zugesperrt und war auf unbestimmte Zeit zu ihrem Lieblingsneffen gezogen, um ihm im Haushalt und in der Bäckerei zu helfen, und diese Hilfe nahm Hans Michaelis dankbar an.
„Was meinst du, Tante Hedchen, heiratet Papa Meta?“ fragte die Kleine eines Abends beim Zubettgehen die Tante. Überrascht nahm Hedwig auf der Bettkante Platz.
„Das Kind ist viel zu ernst für seine acht Jahre“, dachte sie, und drückte das kleine Mädchen fest an sich, „und hellsichtig dazu.“ Denn auch ihr war nicht entgangen, dass Meta Kowalski sich sehr bemühte, in der Bäckerei unentbehrlich zu werden. Sie kümmerte sich um alles, war stets präsent, hatte langsam aber sicher Hedwig aus dem Laden bugsiert und das Zepter an sich gerissen. So kümmerte sie sich nur noch um den Haushalt, und hatte schon vor Wochen nach Hause fahren wollen, doch ein vorsichtiger Hinweis darauf hatte Verena entsetzt aufschreien lassen, sodass Hedwig zunächst von diesem Plan Abstand nahm.
„Ich weiß es nicht“, meinte sie nun ehrlich, „doch wenn das so wäre, wie gefiele dir das?“
„Gar nicht“, sagte Verena, „und Mutter oder Mama sage ich nie zu ihr“, ganz fest presste sie die Lippen aufeinander und schaute die Tante trotzig an, „und außerdem kannst du mich doch in dein schönes Haus mitnehmen, genug Zimmer hast du ja, und deinen Laden musst du auch wieder aufmachen.“
„Nein, meine Süße, mitnehmen kann ich dich leider nicht, denn du gehörst zu deinem Vater. Aber mein Geschäft muss ich tatsächlich weiterführen, denn sonst habe ich bald keine Kunden mehr. Weißt du was? Wir fragen deinen Papa morgen früh, ob du den Großteil deiner Ferien bei mir verbringen darfst. Ich habe nämlich die Absicht, mir bei passender Gelegenheit ein kleines Auto anzuschaffen. Mit dem würde ich dich dann abholen, und auch zurück bringen. Und so manches Wochenende könnte ich euch besuchen, ohne stundenlang mit dem Zug unterwegs zu sein. Nun, was meinst du dazu?“
„Ein richtiges Auto anschaffen? Aber kannst du denn fahren?“ Verena staunte mit aufgerissenen Augen die Tante an.
„Aber ja, ich habe doch schon vor dem Krieg den Führerschein gemacht. Damals lebte Onkel Wilhelm noch, der hat mich förmlich dazu getrieben. Es ist sehr schade, dass du ihn nicht kennen gelernt hast.“
„Ja, schade, er sieht nämlich so lieb auf Fotos aus. Es ist überhaupt schade, dass ich keine Oma und keinen Opa habe, aber dafür habe ich ja dich, und weil Papas Mutter deine Schwester war, bist du ja auch so was wie meine Oma, nicht?“ Verena kuschelte sich in Hedwigs Arme, um gleich darauf ängstlich zu fragen:
„Und wenn Papa nun Meta heiratet?“
„Mein Kleines“, sagte Tante Hedwig bedächtig, „deine Mutter ist erst vor wenigen Monaten gestorben. Ich glaube nicht, dass dein Vater daran denkt, wieder zu heiraten. Und wenn er es in ein oder zwei Jahren doch tun sollte, dann kannst du sicher sein, dass es auch für dich das Beste ist. Du bist sehr wichtig für ihn, und darum wird er nichts tun, was dir schadet.“
„Dann ist es ja gut, und ein Jahr ist sehr lange“, sagte Verena beruhigt, „eigentlich mag ich Meta ja ganz gerne, weil sie die Tante von Julia ist. Aber lieb wie Mama ist sie nicht und so hübsch sowieso nicht.“
„Nein, sie ist weder so lieb noch so schön wie unsere gute Celia“, sagte Tante Hedwig und wischte sich verstohlen ein paar Tränen ab, „doch sie hat ihren Mann, ihre Eltern, ja, ihre ganze Familie im Krieg verloren, und ist mit der kleinen Julia alleine aus Ostpreußen geflüchtet. Vielleicht wäre es nicht das Schlechteste, wenn Hans und sie zusammen kämen“, fügte sie in Gedanken hinzu, und als ob Verena diese Gedanken erraten hätte fragte sie plötzlich:
„Was sind Julia und ich, wenn Vati Meta heiratet, Geschwister?“
„Geschwister?“ dachte Tante Hedwig laut nach, „ja, beinahe. Vielleicht könnte man euch dann Stiefschwestern nennen.“
„Wie bei Aschenputtel“, murmelte Verena und war kurz darauf beruhigt eingeschlafen.
Es war zwei Jahre später, im Sommer 1952, als Hans Michaelis und Meta Kowalski tatsächlich heirateten.
Verenas Freundin Julia freute sich sehr darüber und nannte Hans Michaelis von diesem Tag an „Papa“, doch Verena sprach die Stiefmutter weder mit Mutter noch mit Tante an, sondern nur schlicht und einfach mit „Meta“. Zunächst ärgerte das Meta, und sie war sicher, das Kind im Laufe der Zeit dazu zu bringen, sie zumindest mit Tante anzureden, doch nach und nach gewöhnte sie sich daran, und unterließ bald jeden Versuch, diesbezüglich eine Änderung zu erreichen. Dafür änderte sich nun in Verenas Leben beinahe alles. Meta führte im wahrsten Sinne des Wortes das Regiment, was vom Lehrling bis zur Haushaltshilfe jeder zu spüren bekam. Was Meta sagte, wurde getan, und Hans Michaelis ließ ihr freie Hand, ja, Tante Hedwig hatte bei ihren Besuchen immer mehr das Gefühl, dass er froh darüber war, konnte er sich doch mehr und mehr zurück ziehen und seinen Gedanken nachhängen.. Und so wurde er im Laufe der Jahre immer ruhiger und wortkarger. Nur Verena und später auch Julia, die mit ehrlicher Zuneigung an ihm hing, konnten ihm ein Lächeln entlocken.
Verena und Julia blieben die besten Freundinnen und verbrachten sämtliche Ferien bei Tante Hedwig, die sich im Jahre 1951 tatsächlich einen gebrauchten VW-Käfer gekauft hatte, und mit ihren nun dreiundfünfzig Jahren die Beiden abholte und natürlich auch zurück brachte.
Wenn Verena später an ihre Kindheit dachte, so teilte sie sie in die leise und die laute Epoche. Die leise war die Zeit mit ihrer Mutter Celia, die heiter und beschwingt, fröhlich und ruhig in ihrer Erinnerung blieb, die laute begann mit Vaters und Metas Hochzeit. Alles an Meta erschien Verena laut, ihre Stimme, ihr Schritt, ihre Arbeiten im Haus und in der Bäckerei, sie klapperte und rumorte so geräuschvoll, dass es Hans Michaelis und den Kindern bei ihrer Abwesenheit vorkam, als sei das Haus ausgestorben. Alles in allem hatten die Mädchen jedoch eine unbeschwerte Kindheit. Meta, die im Haus und Geschäft ganz nach Belieben schaltete und waltete, ließ den Beiden viel Freiheit. Es fehlte ihr an Zeit und Geduld, sich mit den Kindern zu beschäftigen, was denen recht angenehm war, gab es ihnen die Gelegenheit, sich ungehindert in der freien Natur auszutoben.
Verena wuchs zu einem bildhübschen jungen Mädchen heran, und war fest entschlossen, ihren Berufswunsch „Schauspielerin“ trotz aller Widerstände seitens der Stiefmutter, zu verwirklichen.
Julia hingegen, nicht minder hübsch und talentiert, konnte sich lange nicht entscheiden, was sie werden wollte. Eines aber wusste sie genau, sie wollte später unbedingt mehrere Kinder haben.
Es war Anfang 1959, als Verena unfreiwillig Zeugin eines Gespräches wurde, dass ihren Vater in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ.
„Ich finde es reicht, Verena und Julia können meinetwegen bis zur mittleren Reife die Schule besuchen und dann abgehen und eine kaufmännische Lehre machen. Wozu das teure Schulgeld zum Fenster hinaus werfen, wenn sie eines Tages doch als Brotverkäuferin hinter dem Ladentisch stehen werden“, hörte sie Meta ärgerlich zu ihrem Mann sagen.
Verena wollte sich aufgebracht bemerkbar machen, als sie überrascht innehielt, denn die ruhige Stimme ihres Vaters entgegnete:
„Wenn Verena und Julia das Abitur machen wollen, werden sie auf der Schule bleiben. Und wenn sie sicher sind, welchen Beruf sie ergreifen wollen, haben sie bei der Verwirklichung dieser Wünsche meine volle Unterstützung. Das gilt für beide Mädchen. Wir werden keines der Kinder zu irgendetwas zwingen.“
„Aber Hans, was soll das? Ich verstehe dich nicht. Monat für Monat dieses teure Schulgeld. Sie sollen endlich arbeiten, damit sie wissen, was es heißt, Geld zu verdienen. Und ihre Flausen würden Verena dann vielleicht auch ausgetrieben.“ Richtig schrill war Metas Stimme geworden, doch Hans Michaelis entgegnete ruhig:
„Wer sagt denn, dass das, was du Flausen nennst, nicht ein ernsthafter Berufswunsch ist. Sie hat das Talent ihrer Mutter, und außerdem...“
„Ihre Mutter, ihre Mutter“, unterbrach Meta böse, „glaubst du, ich weiß nicht, dass ich nur ein...“
„Halt, sprich nicht weiter, es könnte sein, dass ich dir das nie verzeihe“, sagte nun Hans Michaelis laut und bestimmt, so, wie Verena ihren Vater noch nie hatte sprechen hören, „ich habe dir in beinahe allen Dingen freie Hand gegeben, doch sei sicher, sowohl meine Tochter, als auch deine Nichte, die mir sehr ans Herz gewachsen ist, dürfen auf meine volle Unterstützung zählen, wenn es um ihre Berufswahl geht. Und jetzt hör auf, mein Standpunkt ist diesbezüglich unabänderlich.“
Dieser unerwartete Widerstand ihres Mannes schien Meta sehr zu verunsichern, denn sie entgegnete kleinlaut:
„Ist schon gut, Hans, wir können ja ein andermal...“
Erneut fiel Hans seiner Frau ins Wort:
„Ich hoffe, du begreifst endlich, dass auch ein anderes Mal keine andere Entscheidung bringen wird.“ Sein Ton war so bestimmt, dass Verena erstaunt den Kopf schüttelte und sich dann bemerkbar machte.
„Danke, Papa“, sagte sie, und drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange, „ich habe unfreiwillig einen Teil eures Gespräches mitgehört, tut mir leid, Meta, aber ich bin froh, dass Julia und ich das werden können, was uns gefällt. Im Übrigen würde ich mich sowieso zu nichts zwingen lassen.“
„Dann seid ihr euch ja mal wieder einig.“ Meta war wütend und verließ aufgebracht den Raum.
Ein wenig betreten schauten Verena und ihr Vater hinterher. Doch dann erhellte ein kleines Lächeln Hans Michaelis oft etwas bedrückt wirkendes Gesicht.
„Und was will meine große Tochter nun wirklich werden?“ fragte er, „immer noch Schauspielerin?“
„Ja, Papa, und es ist mir sehr ernst damit. Ich habe mich auch schon nach einer Schauspielschule umgesehen.“
„Ich auch“, lachte der Vater, „und ich denke, wir haben bereits die Richtige gefunden. Auf diesem Zettel ist alles Wichtige notiert. Vielleicht sollten wir bald einmal die Leiterin aufsuchen, sie ist nämlich eine gute Freundin deiner Mutter, und schon sehr gespannt auf dich. Weißt du, Kind, wie wäre es, wenn du zunächst einmal Probeunterricht nimmst, es wäre eine Möglichkeit herauszufinden, ob dieser Beruf tatsächlich der Richtige ist. Nein, halt stopp, Verena, ich will damit gar nichts andeuten, du sollst dir nur alle Möglichkeiten offen halten. Weißt du, deine Mutter und ich führten während ihrer Krankheit lange intensive Gespräche. Ich versprach, alles zu tun, damit du ohne Beeinflussung, jedoch mit jeder möglichen Hilfe deinen Weg gehen kannst. Und dieses Versprechen werde ich in jedem Fall einlösen.“
Verena hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört. Sie konnte sich nicht erinnern, von ihrem freundlichen, aber stets etwas wortkargen Vater jemals eine so lange Rede gehört zu haben.
„Deine Mutter stammt, wie du weißt, aus einer künstlerisch sehr ambitionierten Familie“, fuhr der Vater fort, „und hätte sie nicht mich einfachen Bäckermeister kennen gelernt, wer weiß, was aus ihr geworden wäre.“
Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht, und einen Moment schaute er betrübt vor sich hin.
„Papa, du darfst so etwas nicht sagen. Mama ist genau das geworden, was sie sein wollte, nämlich die Frau des Hans Michaelis. O ja, ich bin sicher, sie wollte nichts anderes sein. Ich habe nie wieder einen Menschen gesehen, der mit einer solchen Begeisterung Brot, Kuchen und Brötchen verkauft hat. Wie sie überhaupt alles, was es auch war, mit ungeheurer Freude tat.“ Verenas Stimme zitterte ein wenig.
„Ja, Kind, du hast Recht, in Celia steckte eine besondere Lebensfreude. Einerlei, ob sie Fenster putzte, Brot verkaufte, ein Bild malte oder ein Buch zur Hand nahm, sie widmete jeder Beschäftigung ihre volle Aufmerksamkeit, und genau das war es, was beinahe alles was sie tat, auch gelingen ließ. Darum beherzige meinen Rat, egal, was du tust, sieh es als etwas Wichtiges an, dann wirst du auch Erfolg haben.“
„Darauf kannst du dich verlassen“, versprach Verena feierlich, „ach Papa, ich bin froh, dass ich dich habe. Und wenn Mama auch nicht mehr bei uns ist, so werde ich doch nie vergessen, wie viel Liebe sie mir gab, und mich immer fühlen ließ, dass ich ernst genommen wurde. Ich glaube, nur die wenigsten Eltern machen sich bewusst, wie wichtig das für ein Kind ist. Aber nun möchte ich wissen, wann wir der Schauspielschule einen Besuch abstatten, ich kann es nämlich nicht abwarten.
Der alten Villa sah man trotz ihres etwas verwilderten Zustandes an, dass sie einmal bessere Zeiten erlebt hatte. Von üppigem Efeu umrankt, die hohen Fenster abweisend geschlossen, wirkte sie auf Verena stolz, unnahbar und anheimelnd zugleich. Der schmiedeeiserne Zaun, teilweise verrostet, ließ nur an wenigen Stellen erkennen, dass er vor langer Zeit einmal weiß lackiert gewesen sein musste. Und doch verlieh er dem Anwesen etwas Feudales.
Das Gartentor quietschte erwartungsgemäß, als Hans Michaelis es öffnete und seiner Tochter galant den Vortritt ließ. Grünliches Moos schimmerte durch die Ritzen der grauen Gehweg-
platten, die durch den leicht verwilderten Vorgarten geradewegs zu einer verschnörkelten Haustüre führten. Verena trat unwillkürlich leise auf, denn Garten und Haus schienen im Dornröschenschlaf zu liegen.
Fortsetzung folgt
Texte: (c) by rosenjule
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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2010
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