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Es regnete in Strömen, als Christoph Maiwald am 25. April gegen neunzehn Uhr den Wagen auf dem Parkplatz der Stadthalle zum Stehen brachte, doch erfreulicherweise endete der Regenguss genauso abrupt, wie er begonnen hatte.
„Haben wir ein Glück“, freute sich Sabrina und schaute ein wenig erstaunt zum Eingang der Nebenhalle. Kein Mensch war dort zu sehen, schlimmer noch, im Foyer brannte nicht eine einzige Lampe.
„Sollte noch niemand da sein“, wunderte sie sich, „aber Bernie und die Anderen betonten doch immer wieder, dass wir Punkt neunzehn Uhr zu erscheinen hätten. Was machen wir nun? Autos unserer Freunde sehe ich auch nicht.“
„Gehen wir erst einmal hinüber, und dann sehen wir weiter, meine Königin“, scherzte Christoph, doch als Sabrina Anstalten machte auszusteigen, hielt er sie zurück.
„Moment, Sabi“, seine Stimme klang unglaublich zärtlich, „du siehst einfach umwerfend aus. Als ich dich vorhin in diesem Kostüm sah, wurde mir wieder einmal klar, welches Glück ich habe. Ich liebe dich, und alles andere ist unwichtig. Vergiss dieses dumme Ultimatum, allerdings schwöre ich, noch einmal zwölf Jahre warte ich nicht.“
„Das brauchst du bestimmt nicht, ich liebe dich auch, und da ich weiß, wie idiotisch du Verkleidungen aller Art findest, bewundere ich dich für deinen Mut, heute als ägyptischer Fellache zu erscheinen. Zwar passen Bauer und Königin ja eigentlich nicht zueinander, aber was kümmerts mich, nun komm endlich.“
Leichtfüßig sprang Sabrina aus dem Wagen, raffte ihr Kleid hoch, und übersprang übermütig die kleinen Pfützen, die der heftige Regenschauer zurück gelassen hatte. Vor der Treppe blieb sie stehen, um auf Christoph zu warten, und fühlte sich wie verzaubert, als sie Hand in Hand die Stufen zum Eingang der Halle hinauf stiegen.
Doch bevor sie die breite Flügeltür erreicht hatten, wurde sie schwungvoll aufgerissen, grelles Licht unzähliger Lampen flammte auf, und ohrenbetäubender Gesang aus vielen Kehlen empfing sie.
In Reih und Glied stehend, gehüllt in bunte Gewänder, teilweise turbanähnliche Kopfbedeckungen tragend, erwarteten Freunde und Bekannte das Geburtskind, und Sabrina und Christoph hatten die Aufgabe, diese Reihe Hände schüttelnd abzuschreiten, während ein als Hausdiener verkleideter Freund Bernie ihnen in althergebrachter Form die Gäste vorstellte.
„Hier nun der ehrenwerte Dr. Hamid Abdel Arif, der eigens aus dem fernen Ägypten angereist ist, um dieser hochwohlgeborenen Dame seine Aufwartung zu machen“, sagte er, als Sabrinas Herz einen Moment auszusetzen schien. Dunkle melancholische Augen waren bewundernd auf sie gerichtet, nahmen jetzt einen verschwörerischen Ausdruck an, und eine unausgesprochene Bitte schien in ihnen zu stehen. Sabrina vermochte nicht den Blick von diesem faszinierenden Gesicht zu lösen, dass sich ihr nach nur einer Begegnung eingeprägt hatte wie kein zweites.
„Welch großes Glück, dass wir uns sehen“, sagte eine weiche melodische Stimme, die nichts mit der Rauheit ihres ersten Aufeinandertreffens gemein zu haben schien.
„Ihr kennt euch?“ fragte Bernie erstaunt, „aber Hamid, warum hast du das mit keinem Wort erwähnt?“
„Weil ich nicht wusste, das es sich bei der jungen, mein Heimatland liebenden Dame um ausgerechnet diese handelt“, sagte der Mann mit leisem Kopfschütteln.
„Nein, von kennen kann sicher keine Rede sein“, stotterte Sabrina, ohne den Blick vom Gesicht des jungen Mannes zu lösen, dessen Augen die ihren wie ein Magnet festzuhalten schien, „wir sind uns bislang ein Mal begegnet, und dabei hat er mich ziemlich erschreckt.“
„Sorry“, sagte sein Mund, während seine Augen ihren Blick noch immer nicht freigaben, „ich wollte sie nicht erschrecken, vielmehr waren Sie es, die mich in tiefste Unruhe versetzt hat.“
„Aber warum nur?“ fragte Sabrina, „Was an mir veranlasste Sie, fluchtartig das Geschäft zu verlassen?“
„Ihr Aussehen“, sagte Hamid, griff in die Brusttasche seines hellen, kleidähnlichen Gewandes und holte eine Fotografie heraus, „wobei es natürlich nicht Ihre Schönheit war, die mich so erschrecken ließ, sondern die Ähnlichkeit, die Sie mit meiner Schwester Mirjam haben. Es ist ein Wunder, und Wunder sind mitunter durchaus in der Lage, uns Angst einzujagen. Bitte, bevor Sie mich für verrückt erklären schauen Sie sich dieses Foto an.“
Nun endlich löste Sabrina ihre Augen von den seinen und richtete sie auf das postkartengroße Foto, das Hamid in seinen schmalen braunen Händen hielt.
Sie schaute einmal hin, sie schaute ein zweites Mal, schüttelte ungläubig den Kopf und sah erneut darauf. Sie glaubte zu träumen, denn es war, als schaue ihr eigenes Gesicht ihr entgegen. Es waren ihre dunklen lockigen Haare, die das gleiche schmalgeformte Gesicht mit den hohen Wangenknochen umrahmten, es war ihr Mund, der ihr entgegenlachte, wobei sich gleichfalls ein Grübchen auf der linken Wange bildete. Die schmale klassische, nicht gerade kleine Nase reckte sich ebenso wie Sabrinas stolz in die Luft, und der zarte lange Hals gab dem Aussehen der fremden Frau genau wie Sabrina etwas Würdevolles, zugleich sehr Zerbrechliches. Selbst die Form der Augen, die ungemein lebendig in die Welt blickten, schien identisch zu sein, allerdings war, als einziger Unterschied, die Augenfarbe des fremden Mädchens beinahe schwarz, während Sabrina olivgrüne Augen hatte.
Sabrina zitterte, sie lehnte sich haltsuchend an Christoph, der verwundert diesem Geschehen zugesehen hatte und jetzt beschützend seinen Arm um sie legte.
„Verstehen Sie nun, dass ich an Hirngespinste glaubte, als ich Sie bei unserer ersten Begegnung sah? Stellen Sie sich bitte vor, ich suche ein Geschäft auf, weil im Schaufenster ein Kleid dekoriert ist, dass ich meiner kleinen Schwester zum Geburtstag schicken will, und in diesem Geschäft treffe ich auf eine junge Dame, die ich im ersten Moment für meine, eigentlich in Ägypten weilende Schwester halten muss. Zudem trägt sie das Kleid, das zu kaufen ich im Begriff bin. Ich weiß wirklich nicht, was mich mehr erschreckt hat, die verblüffende Ähnlichkeit, oder die Tatsache, dass Sie dann doch nicht Mirjam waren. Eine Frage brennt mir nun noch auf der Seele, stammen Ihre Vorfahren aus Ägypten?“
„Nein“, lachte Sabrina, denn diese Frage hatte den Bann, der sich wie eine Last auf ihre Schultern gelegt hatte, gelöst. „Diese Frage wurde mir schon oft gestellt. Möglich, dass in grauer Vorzeit einmal ein feuriger Landsmann von Ihnen unter meinen Vorfahren gewesen ist, uns Nachkommen ist jedoch darüber nicht das Geringste bekannt. Mein Aussehen hat schon manche Verwirrung gestiftet, doch davon möchte ich mir meinen ägyptischen Geburtstagsabend nicht verderben lassen. Sie sehen, meine Vorliebe für alles, was mit Ihrer Heimat zu tun hat, bescherte mir diese Feier. Ich bin froh, dass ich Sie kennen gelernt habe, und mir somit über unsere erste merkwürdige Begegnung nicht weiter den Kopf zu zerbrechen brauche. Kommen Sie, Sie müssen mir erzählen, was Ihre Schwester für ein Mensch ist“, sie hängte sich links bei Christoph und rechts bei Hamid ein, und so betraten sie endlich den Saal, dessen Anblick ihr einen begeisterten Schrei entlockte, denn die Freunde hatten unter Hamids Anleitung den nüchternen Stadthallensaal in eine Nillandschaft verwandelt, die unglaublich realistisch wirkte.
Es wurde ein bezaubernder Abend, an den Sabrina noch lange gern zurück denken sollte.


Seit mehreren Monaten wurde Sabrinas Mutter Verena, die sich im Allgemeinen bester Gesundheit erfreute, von immer häufiger auftretenden Gallenschmerzen geplagt. Doch da sie meistens nach geraumer Zeit wieder abklangen, schob sie den längst fälligen Arztbesuch immer wieder auf. Es war wenige Tage nach Sabrinas Geburtstagsfeier, als sie plötzlich von kolikartigen unerträglichen Schmerzen überfallen wurde. Zitternd und vor Schmerzen beinahe ohnmächtig, schaffte sie es gerade noch, den ärztlichen Notdienst anzurufen. Wie sie die Treppe hinunter gekommen war, um der Besatzung des Krankenwagens die Tür zu öffnen, wusste sie später nicht mehr. Sie wachte erst auf, als man sie auf eine Trage legte.
„Bitte verschießen Sie das Haus“, vermochte sie noch zu sagen und streckte den Männern die den Schlüssel umklammernde Hand hin, bevor sie erneut vor Schmerzen aufschrie.
Später im Krankenhaus eröffnete man Verena, dass eine Operation unumgänglich sei.
„Ja, Frau Michaelis, Sie tragen eine kleine Steinfabrik mit sich herum“, teilte ihr der behandelnde Arzt Dr.Aufderhöhe mit, als sie erschöpft, aber für den Augenblick schmerzfrei in ihrem Krankenhausbett lag.
„Und was geschieht nun?“ wollte Verena wissen.
„Nun werden Sie operiert und bleiben einige Zeit bei uns“, bekam sie zur Antwort.
„Und wenn ich mich weigere?“
„Dann behalten Sie Ihre Steine, und die nächste Kolik wird nicht lange auf sich warten lassen“, war die freundliche Antwort.
„Dann tun Sie, was Sie tun müssen“, ergab sich Verena in ihr Schicksal, und der Arzt verließ zufrieden ihr Zimmer.
Verena telefonierte zunächst mit Sabrina, die einen gehörigen Schrecken bekam, rief dann ihre Freundin Julia Bernfort an, die gelegentlich in ihrem Modegeschäft aushalf, und informierte schließlich Margarete Klaproth, genannt Klappi, die als Schneiderin sämtliche Änderungen ausführte, die im Geschäft anfielen, und die zudem an zwei Nachmittagen Verena im Verkauf entlastete, damit sie sich um schriftliche Dinge, sowie den Einkauf kümmern konnte.
Julia Bernfort und Margarete Klaproth waren sofort einverstanden während Verenas Abwesenheit den reibungslosen Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten, und so konnte Verena sich beruhigt ihrer Tochter widmen, als diese ziemlich verstört im Krankenhaus erschien.
„Mäuschen, so eine Gallenoperation ist doch nichts Weltbewegendes, du wirst sehen, nach ein paar Tagen bin ich wieder zu Hause, und alles ist vergessen“, sagte sie tröstend, doch Sabrina war nur schwer zu beruhigen.
„Ich hätte es merken müssen“, meinte sie immer wieder, „ich kenne doch deine Abneigung gegen Arztbesuche. Warte nur, bis du wieder zu Hause bist, dann scheuche ich dich alle drei Monate zur Untersuchung.“
„Na gut“, lachte Verena ein wenig mühsam, „aber nun fahre bitte zu meiner Wohnung und packe Nachtzeug und alles, was ich aufgeschrieben habe, zusammen, und bringe es hierher. Ach ja, im linken Seitenfach meines Sekretärs befindet sich in einem kleinen roten Ordner ein Umschlag, in dem steckt die grüne Chipkarte meiner Privatversicherung, die müsstest du auch mitbringen.“
„Gemacht, liebe Mama, und nun ruh dich aus. Ich bringe dir später alles her.“
„Danke, mein Schatz, bis nachher“, murmelte Verena und dann fielen ihr die Augen zu.

Es war etwa dreißig Minuten später, als Sabrina die Reisetasche aus dem Kleiderschrank der Mutter holte, um systematisch die aufgeschriebenen Sachen darin zu verstauen. Endlich hatte sie alles beieinander, fehlte nur noch die Versicherungskarte. Sie klappte die Schreibfläche des Sekretärs herunter und griff in das angegebene Fach, als ihr Zeigefinger von einem Nagel oder sonstigem spitzen Gegenstand leicht verletzt wurde. Sabrina ging in die Hocke, um besser in das Seitenfach hinein sehen zu können. Merkwürdig, ganz hinten saß ein kleiner Metallhebel, dem sie vermutlich den Riss an der Hand zu verdanken hatte. Neugierig geworden bewegte sie ihn hin und her, als plötzlich die hintere Wand des Faches zurücksprang und ein weiteres Fach freigab, dessen Existenz Sabrina bis heute verborgen geblieben war. Komisch, ob Verena davon wusste? Was mochte wohl darin aufbewahrt worden sein? Womöglich vergessene Geheimnisse der früheren Besitzer? Sabrinas Herz schlug ein wenig schneller, als sie hineingriff und ein Bündel vergilbter Briefe zu Tage förderte, die von einem normalen Bindfaden zusammengehalten wurden. Sie hielt inne. Hatte sie das Recht, in Geheimnissen anderer herumzukramen? Nein, sie würde alles zurücklegen und erst mit Verena darüber sprechen. Mit einer energischen Bewegung wollte sie das Päckchen an seinen Platz zurück befördern, da riss der Bindfaden, und die Papiere flatterten verstreut zu Boden.
Ärgerlich auf sich selbst begann Sabrina alles wieder einzusammeln, da fiel ihr Blick auf zwei postkartengroße Schwarz-weiß- Fotos, die sich inmitten der alten Briefe befunden haben mussten. Langsam nahm sie die Fotos hoch, und starrte sie ungläubig an, denn was darauf zu sehen war, ließ ihren Atem stocken.
Auf beiden Bildern war ein und derselbe junge Mann abgebildet, einmal auf einem Kamel sitzend vor einer Pyramide, während das zweite eine Portraitaufnahme des Mannes war. Sabrina starrte wie hypnotisiert darauf. Melancholische schwarze Augen in einem schmalen
fremdländischen Gesicht schauten sie eindringlich an. Dichtes schwarzes Haar fiel dem jungen Mann lockig in die Stirn. Sabrina schauderte, drehte die Fotos um und erstarrte.

Liebe Verena,
bitte forgesse mich nicht!!!
Dein Marko
Düsseldorf, den 31.10.1960

stand auf dem einen, und vermutlich arabische Schriftzeichen, die eine unbekannte Schrift mit „Ich liebe Dich für immer und ewig, Dein Marko“, übersetzt hatte, auf dem anderen.
Sabrina hatte ein Gefühl, als schwänden ihr jeden Augenblick die Sinne. Haltsuchend tastete ihre Hand nach einem Stuhl, auf den sie sich zitternd fallen ließ. Keines klaren Gedankens fähig starrte sie auf die Fotos in ihren Händen, zwang sich, tief einzuatmen und wurde doch des Aufruhrs in ihrem Inneren nicht Herr.
Verena hatte sie belogen und das seit dreißig Jahren. Diese Erkenntnis verursachte ihr beinahe körperlichen Schmerz. Und nicht nur sie, sondern auch den angeblichen Vater Lutz Bergström hatte sie belogen, der damals also zu Recht empört war, dass Verena ihm das Kind eines anderen unterjubeln wollte. Diese Bilder bewiesen, dass Sabrinas Aussehen nicht einer unerklärlichen Laune des Schicksals zu verdanken war, sondern einem Vater, dessen Existenz Sabrina bislang verheimlicht worden war. Aber warum? Warum hatte Verena das getan? Warum hatte sie damals, an Sabrinas achtzehntem Geburtstag nicht die ganze Wahrheit gesagt? Was war so schlimm an diesem Vater, dass er verleugnet werden musste, denn dass es sich bei diesem Mann um ihren Vater handelte, davon war Sabrina nun felsenfest überzeugt.
„Ich verstehe es nicht“, sagte sie laut, schnürte mit zitternden Händen das Bündel Briefe zusammen und legte es an seinen angestammten Platz. Die Fotos jedoch steckte sie in einen Umschlag und wechselte diesen Umschlag unschlüssig von einer Hand in die andere.
Was sollte sie damit tun? Verena wurde morgen operiert, sie konnte also an diesem Abend nicht mehr damit konfrontiert werden. Doch wie sollte Sabrina es wer weiß wie lange aushalten, ohne mit ihr darüber zu reden, dass sie hinter das Geheimnis gekommen war? Sollte sie überhaupt mit der Mutter darüber sprechen und sich womöglich weitere Ausflüchte und Lügen anhören? Ratlos wanderte sie im Wohnzimmer auf und ab und war plötzlich sicher, dass es einzig und allein die seltsamen Umstände ihrer Geburt waren, die sie daran hinderten, Christoph zu heiraten, Kinder zu bekommen und eine normale glückliche Familie zu haben.
So oder so, sie musste endlich wissen, was damals geschehen war, und wenn Verena nach ihrer Genesung wieder nicht die Wahrheit sagen sollte, würde sie eben alleine herausfinden, wer ihr Vater war.
Von diesen Gedanken getröstet verließ sie die Wohnung und brachte der Mutter die gewünschten Sachen ins Krankenhaus.

Fortsetzung folgt


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Texte: (c) by rosenjule cover by Google
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2010

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