Teil 1
Sabrina
Wie an jedem Nachmittag herrschte auch jetzt geschäftiges Treiben in der kleinen, mitten in der Stadt liegenden Ladenpassage. Menschen hasteten eilig an Sabrina vorbei, lachende oder nörgelnde Kinderstimmen drangen an ihr Ohr, Wortfetzen, von Autolärm unterbrochen, streiften es, doch nichts erreichte sie im Moment wirklich. Sie stand regungslos vor dem Schaufenster des Secound-Hand-Ladens und starrte fasziniert auf das helle Gewand, das dort auf einer Schaufensterpuppe dekoriert war, und das haargenau dem entsprach, wonach sie seit Tagen suchte. Nur mühsam vermochte Sabrina den Blick zu lösen. Doch dann hatte sie einen Entschluss gefasst, war mit wenigen Schritten an der Tür des kleinen Geschäftes und riss sie schwungvoll auf. Eine Batterie klingelnder Glöckchen, aufgereiht auf einer seidig schimmernden Kordel, meldete den Besitzern, dass jemand ihren Laden betreten hatte.
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ Eine junge Frau, etwa in Sabrinas Alter, trat freundlich lächelnd auf sie zu.
„Dieses naturfarbene Kleid in Ihrem Schaufenster, welche Größe hat es?“ wollte Sabrina wissen.
„O, das ist sicher genau Ihre Größe“, antwortete die junge Frau, eilte geschäftig zum Schaukasten und zog das Kleid gekonnt von der Büste.
„Es ist wie für Sie gemacht“, sagte sie mit leiser Bewunderung in der Stimme, „Sie werden darin aussehen wie Nofretete persönlich.“
„Ja, so ähnlich möchte ich aussehen“, lachte Sabrina, „wissen Sie, meine Freunde geben anlässlich meines dreißigsten Geburtstages eine Art Kostümfest. Und da sie wissen, dass mich alles fasziniert, was auch nur im Entferntesten mit Ägypten zu tun hat, ist das Motto des Abends eben Ägypten. Ich suche nun ein Kleid, mit dessen Hilfe ich mich in eine ägyptische Adelsfrau verwandeln kann.“ Sie nahm das Kleid aus der Hand der Verkäuferin und ging Richtung Umkleidekabine.
„Ich glaube, ich habe hinten noch eine passende Kopfbedeckung, soll ich nachschauen?“ Sabrina nickte und die junge Frau eilte durch einen Vorhang, der den Verkaufraum vom Hinterzimmer trennte, während Sabrina die Kabine betrat.
Sie streifte das Gewand, eine andere Bezeichnung vermochte sie ihm nicht zu geben, über den Kopf, verrenkte die Arme, um die lange hintere Knopfreihe zu schließen, und hatte es endlich
mit einiger Mühe geschafft.
Ein wenig außer Atem, schob sie den Vorhang der engen Kabine beiseite, um sich besser im Spiegel betrachten zu können, da wurde sie von einer etwas rauen Stimme erschreckt, die hinter ihr Worte in einer fremden Sprache hervorstieß.
Erstaunt dreht Sabrina sich um, und schaute in zwei aufgerissene schwarze Männeraugen, die sie entgeistert anstarrten.
„Wer sind Sie?“ fragte die raue Männerstimme in etwas hartem Deutsch.
Sabrina rann ein Schauer über den Rücken und plötzlich konnte sie sich eines Gefühls drohender Gefahr nicht erwehren.
Glücklicherweise kam in diesem Moment die Verkäuferin zurück.
„Sehen Sie, was ich gefunden...“ sie brach mitten im Satz ab und schaute Sabrina entzückt an.
„Es ist phantastisch! Sie sehen aus, wie Nofretete persönlich." Begeistert schlug sie die Hände zusammen, um dann erstaunt dem dunkelhaarigen fremdländisch wirkenden jungen Mann nachzusehen, der beinahe fluchtartig das Geschäft verließ.
„Was hat er denn?“ fragte sie verwirrt.
„Ich weiß es nicht“, lachte Sabrina, die das beklommene Gefühl, das das seltsame Benehmen des Fremden ihr vermittelt hatte, abschüttelte, „er starrte mich an wie eine Erscheinung, murmelte etwas in einer mir unverständlichen Sprache, und wollte dann wissen, wer ich sei. Er hat mir einen richtigen Schrecken eingejagt.“
„Oder Sie ihm“, gab die Verkäuferin amüsiert zurück, „vielleicht ist er Ägypter und hält sie für seine auferstandene Königin Nofretete. Sie sehen aber auch umwerfend aus. Verzeihen Sie die Frage, aber stammen Sie aus den arabischen Ländern?“
„Nein, nein“, lachte Sabrina, „ich bin eine richtige Deutsche mit blonder Mutter und blondem Vater. Woher ich mein Aussehen habe, ist uns allen bisher ein Rätsel. Allerdings kann ich nicht verhehlen, dass gerade Ägypten eine ungeheure Faszination auf mich ausübt.“
Sabrina wandte sich um und betrachtete sich im Spiegel. Sie sah wirklich phantastisch in dem Kleid aus. Es war beinahe so, als sei es eigens für sie geschneidert worden. Die naturfarbene Seide schmiegte sich enganliegend um ihren wohlgeformten Körper, die langen seitlichen Schlitze im schmalen Rock gaben bei jedem Schritt ihre geraden schlanken Beine frei, und der mit Hieroglyphen ähnlichen Motiven bestickte boleroartige Überwurf betonte ihre Schultern wie ein Königsmantel. Um ihren schlanken Hals legte sich schmeichelnd ein kleiner Stehkragen, der ebenfalls mit kleinen Figuren bestickt war. Zu Sabrinas schwarzem Haar, ihren mandelförmigen olivgrünen Augen und ihrem dunklen Teint war dieses Kleid wie geschaffen, und als die Verkäuferin ihr nun auch noch eine haubenähnliche Kopfbedeckung aufsetzte, die ihr hochgestecktes Haar verbarg, konnte sie selbst kaum glauben, dass es Sabrina Michaelis war, die ihr aus dem Spiegel entgegen blickte.
„Sie werden die Königin des Abends sein“, sagte die Verkäuferin begeistert, „und wann findet dieses Fest statt?“
„Am 25.April im kleinen Saal der Stadthalle“, lachte Sabrina glücklich, „wissen Sie was, ich lade Sie dazu ein. Ich schreibe Ihnen meine Adresse auf. Und wie heißen Sie?“
„Anja Schwarze“, sagte die junge Frau, „ist das Ihr Ernst mit der Einladung?“
„Aber ja, in solchen Dingen scherze ich nicht, und Ihren Freund oder Mann können Sie natürlich mitbringen.“
„Ich bin zur Zeit solo“, ein Schatten huschte über Anja Schwarzes Gesicht, „kann ich auch alleine kommen?“
„Aber natürlich, dann doch erst recht. Aber nun muss ich mich wirklich beeilen, packen Sie bitte alles ein und machen Sie die Rechnung fertig.“
„Gerne, Frau Michaelis“, freute sich Anja Schwarze, „ich finde der Name Sabrina passt gut zu Ihnen.“
„Manchmal finde ich ihn scheußlich“, gab Sabrina lachend zurück, „aber das geht sicher jedem ab und zu mit seinem Namen so.“
Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und außerdem nieselte es. Sabrina zog ihren Mantel fröstelnd enger um die Schultern und eilte rasch zum Parkplatz, um mit ihrem kleinen Auto zu ihrer Mutter zu fahren. Dass der fremde junge Mann, der sie in dem Laden so erschreckt hatte, ihr mit großen erstaunten Augen nachschaute, bemerkte sie nicht.
Fortsetzung folgt
Texte: (c) by rosenjule
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Tag der Veröffentlichung: 29.10.2010
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