„Er ist ein Spinner, wenn auch ein netter“, sagte Onkel Rüdiger und zupfte an Brittas blondem Pferdeschwanz.
„Ja, ja, er ist wirklich ein bisschen verrückt“, nickte der Opa und zwinkerte Britta vergnügt zu.
„Er ist weder ein Spinner, noch ist er verrückt“, sagte die Omi empört und legte ein Würstchen auf Brittas Teller, „hat deine Mutti denn nie von ihm erzählt?“
„Nein, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern“, antwortete Britta und sah von einem zum anderen. Der Opa zwinkerte ihr wieder vergnügt zu, Onkel Rüdiger lachte über das ganze Gesicht, und die Omi schimpfte wie üblich mit den Beiden. Britta fühlte sich richtig wohl. Sie war zum ersten Mal für eine Woche alleine bei den Großeltern und hatte heute, am vorletzten Tag, den Nachbarjungen Peter kennen gelernt. Der war mit ihr zu einem alten Schuppen gegangen und hatte sie dort dem alten Abraham vorgestellt. Beim Gedanken an diese Begegnung lächelte Britta, so gut hatte sie ihr gefallen.
„Ich habe schon von dir gehört, junge Dame“, sagte der alte Abraham und schaute Britta durch seine Brille so freundlich an, dass sie ganz schnell ihre Scheu verlor und vertrauensvoll ihre kleine Hand in die große des alten Mannes legte. Schön sah der alte Abraham aus. Auf seinem schlohweißen Haar saß eine schwarze Baskenmütze, und sein weißer Bart glänzte richtig in der Sonne, die durch die offene Schuppentür fiel. Über dem weißen Hemd trug er eine abgewetzte schwarze Lederweste, und um die Taille hatte er eine graubraune halbe Lederschürze gebunden. Und dann die Schuhe, so etwas Glänzendes von Schuhen hatte Britta überhaupt noch nicht gesehen.
Aufmerksam sah sie sich in der kleinen Schusterwerkstatt um. Sauber aufgereiht in einfachen Holzregalen standen dicht bei dicht unzählige Holzschuhe in allen möglichen Formen und Größen. In einem niedrigen offenen Schränkchen lagen Absätze und Sohlen feinsäuberlich gestapelt neben Kästchen mit dünnen, dicken, langen und kurzen Nägeln, und an der Wand hingen große Lederlappen in schwarz, braun und rot. Jede Menge Handwerkszeug lag auf einem langen schmalen Holztisch, und an der Wand darüber hingen uralte Werbeschilder von Schuhpflegemitteln und Schuhbürsten.
Der alte Abraham war Brittas Blick gefolgt und fragte lächelnd:
„Na, junge Dame, ist das die erste Schuhmacherwerkstatt die du siehst?“
„Ja“, nickte Britta, „jedenfalls die erste richtige. Nur bei uns im Supermarkt ist eine Schnellbesohlecke, aber die ist nur ganz klein und lange nicht so schön wie diese.“
Da erhob sich der alte Mann erstaunlich schnell von seinem Schemel, der aus drei, mit Leder überspannten Eisenfüßen bestand, nahm Britta bei der Hand und zeigte ihr alles.
„Siehst du, kleine Dame, das was du für Holzschuhe gehalten hast, sind Schuhleisten, mit deren Hilfe ich vor vielen Jahren Schuhe für groß und klein angefertigt habe. Auch für deine Oma und deinen Opa durfte ich früher mal die schönsten Schuhe zaubern.“
„Oh“, staunte Britta, „und für meine Mutter und ihren Bruder Onkel Rüdiger auch?“
„Nein, für die leider nicht, das heißt, für deine Mutter fertigte ich einmal ein paar Schühchen an. Frag sie doch danach, vielleicht erinnert sie sich daran.“
„Können Sie denn heute auch noch Schuhe selber machen?“ wollte Britta wissen.
„O ja“, lachte der alte Schuster, „was einem in der Jugend beigebracht wird, verlernt man nimmermehr.“
„Und warum machen Sie dann keine mehr?“
„Ach, mein gutes Kind, weil kein Mensch mehr so schöne Schuhe haben will. Sie laufen heute lieber alle in die Warenhäuser und kaufen diese billigen Dinger, die zu Dutzenden auf langen Tischen stehen, oder laufen womöglich in Turnschuhen herum, die über kurz oder lang die Füße verderben.“
Traurig schüttelte der alte Mann seinen Kopf, „und so bleibt für einen alten Schuhmachermeister, der ja eigentlich ein Schuhkünstler ist, nur noch das Reparieren dieser Massenware übrig. Doch ich bin zufrieden, denn solange ich in meiner Werkstatt sein kann, und den Geruch von Leder und Leim in meiner Nase spüre, fühle ich mich wohl und glücklich.“
Dann holte er einen Stuhl aus dem Nebenraum, stellte ihn vor Britta und sagte lächelnd:
„Bitte, setz dich, kleine Dame.“ Für sich selbst zog er seinen Schemel heran und nahm direkt vor Britta darauf Platz.
„Nun zeig mir mal eines deiner Füßchen, Brittakind“, sagte er freundlich. Britta streckte ihm erstaunt ihren rechten Fuß hin, den er vorsichtig in seine große schwielige Hand nahm.
„Genau so zierlich wie bei Mutter und Großmutter“, murmelte er, griff zielsicher in das Regal mit den Holzleisten und nahm einen herunter.
„Genau die Größe die wir brauchen würden, wollten wir dir ein paar erlesene Schühchen machen“, lachte er und fragte dann: „Und wann hat die junge Dame Geburtstag?“
„Oh, wann ich Geburtstag habe?“ stotterte Britta ein bisschen verwirrt, „am sechsten Mai werde ich sieben Jahre, aber dann sind die Osterferien leider längst vorbei.“
„So, so, am sechsten Mai, das ist ja noch ein paar Wochen hin“, brummelte der alte Schuster und stellte den Leisten auf seinen Arbeitstisch. Dann wandte er sich an Peter, der während der ganzen Zeit schweigend dagestanden hatte.
„So, mein lieber Peter, du bringst jetzt unsere neue Freundin hübsch zu ihren Großeltern, denn es ist fast dunkel, und dann haben kleine Mädchen in den Stuben zu sitzen und nicht draußen herumzulaufen. Auf Wiedersehen, meine Kleine, und grüße mir die Großmutter, und wenn du wieder daheim bist, auch die liebe Mutter, die den alten Onkel Josef so oft in seiner Werkstatt besucht hat.“
„Onkel Josef?“ fragte Britta erstaunt, „ich denke, Sie heißen Abraham.“
Da begann der alte Schuster so laut zu lachen, dass seine Lederschürze richtig wippte.
„Der alte Abraham, ja richtig, diesen Namen hat mir deine Großmutter gegeben, als ich vor fast fünfzig Jahren hierher kam. Aber mein richtiger Name ist Josef Koslowski, das scheint alle Welt vergessen zu haben.“
„Ja, aber..“ sagte Britta, da schob sie der nette alte Mann ins Freie und sagte lachend:
„Frag die Frau Großmutter, sie wird dir sicher alles erzählen. Nein, wie mich dieses Brittakind an zwei andere kleine Mädchen erinnert.“ Und damit schloss er die Schuppentür und knallte von innen den dicken Holzriegel herunter.
Britta und Peter aber liefen schnell zum Haus der Großeltern, wo Peter sich verabschiedete und die Großeltern und Onkel Rüdiger schon warteten.
Britta erzählte immer wieder mit leuchtenden Augen von dem netten Schuster, da sagte der Opa:
„Was dieser alte Abraham nur an sich hat, deine Mutter saß früher auch mit strahlenden Augen und roten Wangen am Tisch, wenn sie aus seiner Werkstatt kam. Hat er dir eine seiner tollen Geschichten erzählt, oder gar eine Fliege gefangen, mit ihr die Hand ans Ohr gehalten und dann genau erzählt, was die Fliege zu ihm sagte?“
„Nein“, sagte Britta und hatte vor Staunen ganz große Augen, „so was kann er?“
„Ich sage doch, dass er ein bisschen verrückt ist, oder ein netter Spinner, wie Onkel Rüdiger immer sagt. Auf jeden Fall verzaubert er kleine Mädchen, denn selbst deine Großmutter bekommt noch glänzende Augen, wenn sie vom alten Abraham erzählt. So war es auch schon, als sie noch ein kleines süßes Mädchen war“, lachte der Opa.
„Ja, aber, hatte er denn schon die Werkstatt, als die Omi noch klein war?“ Britta schaute erstaunt von einem zum anderen.
„O ja“, lachte die Omi, „als er nach dem Krieg hier her kam, war der Opa noch ein Bub von etwa elf Jahren, und ich war gerade acht geworden. Der alte Abraham war damals so um die dreißig, aber sah beinahe genau so aus wie jetzt. Sein Bart war ebenso lang und weiß wie heute, und auf seinem weißen Haar trug er auch stets so eine schwarze Baskenmütze.“
„Und wieso hast du ihm den Namen Abraham gegeben?“ fragte Britta, denn ihr fiel ein, dass er ja eigentlich Josef Koslowski hieß.
„Ach, hat er das erzählt? Ja, das war so: Als ich ihn zum ersten Mal sah, nahmen wir in der Religionsstunde gerade die Geschichte von Abraham durch, und genauso, wie ich mir Abraham vorgestellt hatte, sah der Mann aus, der mir eines schönen Tages auf dem Heimweg von der Schule begegnete. Ich blieb stehen und konnte es nicht fassen.
`Was ist, kleines Fräulein?’ schmunzelte der fremde Mann und blieb ebenfalls stehen. ‚Sind Sie Abraham?’ fragte ich verwirrt, da lachte er über das ganze Gesicht und meinte: ‚Wenn du willst.’ Na, ja, und seitdem heißt er überall der „alte Abraham“. Seinen richtigen Namen kennen die Wenigsten.“
Die Omi stand ganz still am Kühlschrank und hatte richtig rote Wangen bekommen.
„Siehste“, lachte der Opa, „hab’ ich’s nicht gesagt? Schau dir bloß deine Großmutter an, wie ein junges Mädchen sieht sie aus, nicht? Ein bisschen verrückt muss man sein, dann schwärmen alle Mädchen für einen.“
„Komm, Brittalein, lassen wir die dummen Männer spotten, ich bringe dich ins Bett“, sagte die Omi und zog Britta mit sich hinaus.
Aber Britta konnte an diesem Abend nicht einschlafen, denn sie musste unentwegt an den alten Schuster und seine Werkstatt denken, und als ihr dann doch endlich die Augen zufielen, träumte sie von vielen kleinen Schuhen, die auf Holzleisten gezogen waren, und die sie partout nicht herunter bekam, so sehr sie auch daran zerrte.
Am nächsten Morgen kam schon früh der Vater, um Britta abzuholen. So konnte sie leider nicht mehr zur Werkstatt laufen um sich von dem netten Schuster zu verabschieden.
Als sie dann zu Hause der Mutter davon erzählte, lief die plötzlich auf den Dachboden und kam nach einer Weile mit leuchtenden Augen zurück, in den Händen ein paar entzückende Riemchenschuhe aus rotem Leder. Britta musste an Opas Worte denken, dass der alte Abraham alle Mädchen verzaubert, denn auch Mama hatte ganz rote Wangen. Vorsichtig stellte sie die Schühchen vor Britta auf den Tisch.
„Sieh mal, Mäuschen, diese Schuhe hat mir der gute Abraham gemacht, als ich etwa in deinem Alter war. Ich hatte sie ganz vergessen, aber jetzt bekommen sie einen Ehrenplatz.“
Britta musste die Mutter immer ansehen, so hübsch sah sie aus, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie ähnlich sie der Omi sah. Beinahe andächtig nahm sie die Schuhe in die Hand und betrachtete sie.
„Darf ich sie mal probieren?“ fragte sie, und als die Mutter lächelnd nickte, zog sie sie vorsichtig an. Und, o Wunder, sie passten wie angegossen. Ach, wie gerne hätte Britta auch so ein Paar gehabt. Behutsam zog sie sie wieder aus und stellte sie auf den Tisch.
„Heb sie lieber auf, Mama, ich mache sie womöglich kaputt, und dazu sind sie zu schade.“
Noch oft dachte Britta an den alten Schuster und erzählte ihrem Freund Philipp immer wieder in allen Einzelheiten davon, so dass der ihn und die Werkstatt nun auch gerne kennen lernen wollte.
Doch dann war es plötzlich Mai geworden, und Brittas heißersehnter Geburtstag war da. Als sie aus der Schule kam, stand Opas Auto vor der Tür. Freudestrahlend stürmte sie ins Haus, um die Großeltern und Onkel Rüdiger zu begrüßen, da blieb sie in der Wohnzimmertür überrascht stehen, denn auf ihrem Geburtstagstisch lag ein Berg an Geschenken und obendrauf sah sie ein Paar wunderschöner roter Lederschühchen.
Langsam ging Britta darauf zu, sie konnte es gar nicht fassen, diese Schuhe waren ja noch schöner als Mamas, und glänzten wie Ostereier, die man mit einer Speckschwarte abgerieben hatte.
Vorsichtig nahm Britta sie herunter und zog sie an. Es war nicht zu glauben, aber sie passten, wie noch nie zuvor ein Paar Schuhe gepasst hatte.
„Jetzt begrüßt mich meine einzige und liebste Enkeltochter noch nicht einmal“, sagte auf einmal der Opa ganz traurig. Britta schaute erschrocken hoch, doch der Opa zwinkerte schon wieder vergnügt und Britta flog freudestrahlend in seine Arme.
„Wir wollten dir eine besondere Freude machen und unseren alten Schusterfreund mitbringen“, sagte Onkel Rüdiger beim Mittagessen, „doch der wollte partout nicht, aber ganz herzliche Grüße schickt er dir, und hofft, dass du uns bald wieder besuchst und ihm dann deine neuen Schuhe vorführst.“
„O ja, das mache ich“, strahlte Britta, „aber vorher schreibe ich ihm einen langen Brief.“
„Tu das“, meinte die Mutter und dann kamen Brittas Freunde, und sie feierten vergnügt und ausgelassen bis zum Abend, und am Ende fand Britta, dieses sei ihr schönster Geburtstag gewesen.
Texte: (c) by rosenjule
Cover by Google
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2010
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