Wollen Sie mal in meine Tasche sehen...?
Es war ein trüber und unfreundlicher Tag, als Marie ihren Hausarzt aufsuchte, und trüb und unfreundlich waren auch die Gesichter der Patienten im Wartezimmer. Nur wenige erwiderten murmelnd ihren Gutenmorgengruß. Marie nahm eine Illustrierte vom Tisch und blätterte ein wenig missvergnügt darin herum.
Doch plötzlich wurde die Wartezimmertür schwungvoll geöffnet und eine zierliche ältere Dame bepackt mit zwei Reisetaschen rauschte herein. Sie steuerte den einzig freien Stuhl links neben Marie an, schob eine der Taschen darunter, ließ sich auf den Stuhl fallen und stellte die zweite Tasche direkt vor ihre Füße. Dann zog sie den Rock über ihre Knie und schaute mit großen Augen vergnügt in die Runde.
Marie war irgendwie fasziniert von dieser Mitpatientin. Sie hatte ihr spärliches Haar zu einem Dutt gedreht, der wie ein Krönchen auf ihrem Kopf prangte, trug über einem dünnen Kleidchen eine Strickjacke im Trachtenstil, hatte zudem dicke Wollstrümpfe und derbe Schnürschuhe an, und summte fröhlich vor sich hin.
Plötzlich stupste sie mit ihrem rechten Ellenbogen Marie an, zwinkerte verschwörerisch mit den Augen und fragte flüsternd:
„Wollen Sie mal in meine Tasche sehen?“ Marie nickte erstaunt. Da zog die kleine Frau langsam den Reißverschluss der vor ihr stehenden Reisetasche auf, legte, bevor sie sie ganz öffnete, den Zeigefinger an die Lippen, und riss dann mit beiden Händen die Tasche auseinander.
Marie stockte der Atem, denn da hockte inmitten eines Holzwollenestes ein wohlgenährtes Meerschweinchen mit großen erstaunten Augen und hob schnuppernd sein Näschen.
Marie starrte wie gebannt auf das Tier, als ihr Nachbar zur Rechten komische Laute von sich gab. Marie schaute zu ihm, und sah einen sich schüttelnden jungen Mann, dem vor Lachen die Tränen die Wangen hinunter liefen.
In dem Moment wurde ein Name durch die Sprechanlage gerufen. Maries Nachbarin zog flugs den Reißverschluss zu, packte ihre Reisetaschen und entschwand Richtung Tür, nicht ohne Marie vorher noch einen verschwörerischen Blick zuzuwerfen.
Es war zu komisch, Marie konnte nicht mehr an sich halten, und stimmte in das Lachen des jungen Mannes zu ihrer Rechten ein. Da sagte dieser, immer noch geschüttelt vor Lachen:
„Ein Glück, dass sie aufgerufen wurde, denn wer weiß, was sich in der anderen Tasche befindet, vielleicht ein Minischwein?“
Was hatte Marie beim Betreten des Wartezimmers gedacht? Trübe und unfreundliche Gesichter? Das musste ein Irrtum sein, denn in diesem Wartezimmer saßen nur lachende und sich lebhaft unterhaltende Menschen!!!
Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2010
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