Lebendige Rose?
Es war während der Mittagszeit, als Marie in ihrem kleinen Rosengarten die verwelkten Blüten der Rosenbüsche abschnitt und in einen Eimer legte.
Sie kam zum letzten Busch und hielt inne, denn die Blüte, die sie eben abzuschneiden im Begriff war, schien sie anzusehen. Ja, tatsächlich, sie schaute Marie lange an und sagte dann:
„Warum tust du das? Weißt du nicht, dass auch Blumen das Recht haben zu welken?“
Marie ließ erstaunt die Hand mit der Schere sinken.
„Aber du bist bereits verwelkt“, sagte sie, „willst du am Rosenstock bleiben, bis der Wind deine Blütenblätter fortweht?“
„Ja, das will ich“, entgegnete die Rose, „ihr Menschen werdet doch auch nicht getötet, wenn ihr anfangt zu welken.“
Marie war ganz verwundert.
„Das stimmt, jedenfalls bis jetzt nicht. Doch weißt du, manchmal glaube ich, ein Mensch in der heutigen Gesellschaft kann alles machen, er sollte nur nicht alt werden.“
Sie legte die Schere beiseite, setzte sich auf die Gartenbank, über deren Lehne die Rose prangte, und schaute sie genauer an. Eigentlich war sie noch nicht richtig verwelkt, sie hatte nur ein paar zerknitterte Blütenblätter.
„Na schön“, sagte Marie, „ich werde dich heute noch nicht abschneiden, aber in wenigen Tagen ist dein Leben sowieso zu Ende.“
„Fein“, freute sich die Rose, „aber du solltest wissen, dass das, was du wenige Tage nennst, für mich eine Ewigkeit bedeutet. Eine Ewigkeit, in der ich die Wärme der Sonne spüre, mich im Wind wiege, vom Morgentau geküsst werde und nicht zuletzt den Bienen und anderen Insekten Nahrung spende.“
Nachdenklich schaute Marie sie an.
„Du meinst wirklich, ein paar Tage können eine Ewigkeit sein? Merkwürdig. Mir kommt es immer so vor, als ob ein Tag wie im Flug vergeht.“
„Ja, ihr Menschen seid schon seltsam, immer habt ihr es eilig, meistens geht alles hoppla hopp, und dann wundert ihr euch, dass die Zeit davon läuft. Denk doch einmal daran, was ein einziger Tag für eine Eintagsfliege bedeutet...“
„Ein ganzes Leben“, ergänzte Marie, „sie kommt am Morgen zur Welt, stirbt am Abend und ein Tag ist für sie eine Ewigkeit. So gesehen hast du Recht und ich bin froh, dass ich dich nicht abgeschnitten habe. Wer hätte gedacht, dass ich von einer Rose etwas lernen kann. Ich werde beherzigen, was du gesagt hast.“
Hundegebell riss Marie aus ihrer Versunkenheit, erschrocken sprang sie hoch, sie war doch tatsächlich auf ihrer Bank in der Mittagssonne eingeschlafen. Als sie zum Haus ging, wippte die Rose an ihrem Strauch und es sah aus, als ob sie lächelte.
Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2010
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