Marie und ihr „Wolfskind“.
„Können Sie mit dem Begriff ‚Wolfskind’ etwas anfangen?“ wurde Marie vor ein paar Jahren von einem befreundeten Therapeuten am Telefon gefragt.
„Wolfskind? Ja, ich glaube, ich habe davon gehört, warten Sie, ist das nicht ein Kind, das mit einem stark behaarten Arm oder Bein zur Welt gekommen ist?“ Erst kürzlich hatte sie darüber einen Bericht gesehen.
„Nein, diese Art von Wolfskind meine ich nicht. Es handelt sich vielmehr um Kinder, die in den Wirren der Nachkriegszeit von ihren Eltern getrennt wurden und sich ohne jegliche Hilfe in den Wäldern Ostpreußens durchschlagen mussten. Viele von ihnen landeten im benachbarten Litauen oder wurden von Russen aufgegriffen, die sie nach Russland deportierten.“
Ja, doch, Marie hatte davon gehört. Vor einiger Zeit war auch darüber etwas im Fernsehen gesendet worden, allerdings konnte sie sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern.
Nun erfuhr sie Einzelheiten, denn der Bekannte hatte eine Frau kennen gelernt, die sich als ein solches „Wolfskind“ durchgeschlagen und unvorstellbares erlebt hatte. Als Zehn-Jährige musste sie mit ansehen, wie ihre Mutter buchstäblich verhungerte, wurde Zeugin von Vergewaltigungen, Mord und Totschlag, verlor durch die Wirren der Nachkriegszeit jeden Kontakt zu ihrer Familie, und musste als zehnjähriges Kind ihr Leben ganz alleine meistern.
Jetzt war die Frau achtundsechzig Jahre alt und lebte seit fünfzehn Jahren in Deutschland. Sie war geprägt von den Ereignissen ihrer Kindheit und Jugend und erfüllt von dem Wunsch, sie für Kinder und Enkelkinder auf zu schreiben. Hier jedoch begannen die Schwierigkeiten, denn die Frau hatte nur von 1942 bis 1945 eine deutsche Schule in der Nähe von Königsberg besucht. Später hatte sie sich selbst russisch und litauisch beigebracht, doch zur Schule durfte sie seit 1945 nicht mehr gehen, allerdings hatte sie seit ihrer Ankunft in Deutschland mehrere Deutschkurse belegt.
Der Bekannte fragte Marie, ob sie sich vorstellen könne, der Frau beim Schreiben ihrer Lebensgeschichte behilflich zu sein. Natürlich konnte Marie sich das vorstellen, und so wurde ein Treffen ausgemacht.
Ja, und dann traf Marie auf ihr „Wolfskind“, und war sehr beeindruckt. Diese Frau hatte trotz schlimmer Erlebnisse ein unendliches Gottvertrauen, und betonte immer wieder, dass sie nur durch Gottes Hilfe das alles überlebt habe. In etwas unbeholfenem Deutsch hatte sie begonnen, ihre Geschichte zu Papier zu bringen, und freut sich auf eine rührende Art, dass sie in Marie jemanden gefunden hat, der ihr hilft.
Und Marie? Nun, die freut sich auch, zum einen, dass sie diese Frau kennen gelernt hat, und zum anderen, das sie vielleicht dazu beiträgt, die Schicksale dieser „Wolfskinder“ nicht ganz vergessen zu lassen.
***************************************************
Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen, das Büchlein ist erschienen, und über das ehemalige "Wolfskind" berichtete der NDR in seiner Sendung "DAS"!
Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2010
Alle Rechte vorbehalten