Der alte Koffer
Vor einiger Zeit zog Marie von Bielefeld nach Ibbenbüren. Ihr Mann war damals bereits mehrere Jahre tot, Tochter und Sohn längst verheiratet und Eltern eigener Kinder, und sie fühlte sich in dem großen Haus nicht mehr wohl. Also verkaufte sie es und erstand in der Nähe ihrer Tochter ein kleineres.
Vor dem Umzug war natürlich Entrümpeln angesagt.
Über Wochen zog sich das hin, denn in langen Ehejahren hatte sich einiges angesammelt, und sowohl Marie als auch ihr Mann hatten sich angewöhnt, Dinge zunächst einmal auf dem Dachboden zu verstauen. Man wusste ja nie, ob man sie nicht doch noch einmal gebrauchen könnte.
Es war schrecklich, was sie an alten Papieren, Kleidungsstücken, Kinderspielzeugen, Kleinmöbeln und dergleichen mehr entsorgen musste. Damals schwor sie, sich in Zukunft schneller von nicht mehr benötigten Dingen zu trennen.
Ganz zum Schluss nahm Marie sich den alten Lederkoffer vor, den ihr Mann mit in die Ehe gebracht hatte, und der ihre ersten gemeinsamen Urlaube begleitet hatte. Als sie ihn öffnete, quollen uralte Kontoauszüge heraus, die ihr Mann wohl da hinein gelegt hatte. Die ersten ließ sie noch durch den Schredder laufen, doch das war eine mühselige Arbeit, und so gab sie alles ins Altpapier.
Endlich war der Koffer leer und Marie ein wenig traurig, denn wie viele der anderen Dinge erinnerte sie auch dieser Koffer an schöne und glückliche Zeiten. Als sie ihn in den Keller zu dem anderen Sperrmüll bringen wollte, klappte er plötzlich auf, und aus einer halb offenen Reißverschlusstasche rutschte ein Stück alte Zeitung oder ähnliches heraus.
Marie setzte sich auf die Treppe und fischte das Schriftstück ganz heraus. Es war ein Prospekt vom Ötztal in Österreich mit einer Wanderkarte, auf der Maries Mann mehrere Routen angekreuzt und die er zudem mit schriftlichen Notizen versehen hatte.
Da hockte sie nun auf der Treppe und konnte es nicht fassen, die Karte war dreißig Jahre alt. Die Tochter war damals ein süßes kleines Ding mit Pferdeschwanz, und der Sohn hatte sich noch nicht einmal angemeldet. Himmel, wo war die Zeit geblieben? Sie sah Mann, Tochter und sich plötzlich in den Ötztaler Alpen herum kraxeln, sah die kleine Pension, in der sie gewohnt hatten und brach in Tränen aus. Komisch, das Weinen tat ihr richtig gut.
Nach einer Weile stand sie auf, zeriss die Karte, weil sie sich ja vorgenommen hatte, nicht mehr benötigte Dinge gleich fortzuwerfen, und--- über letzteres ärgert sie sich immer wieder aufs Neue!!!
Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2010
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