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Modern und aufgeschlossen?
Marie will konvertieren...

Maries Vorfahren waren Hugenotten und flüchteten 1683 wegen ihres Glaubens von Frankreich nach Brandenburg. Dort übten über viele Generationen hinweg zumeist die ältesten Söhne der Familie den Beruf des Pfarrers aus, und nun erwägt ihre Nachfahrin Marie zu konvertieren?
Hier nun die Geschichte, die zu solchen Überlegungen geführt hat:
In den fünfziger Jahren verbrachte Marie zum ersten Mal bei Verwandten in Bielefeld ihre Schulferien. Wenige Monate zuvor war ihr Großonkel gestorben, der als Küster an der Martini-Kirche tätig gewesen war, und dessen Witwe mit einem ihrer erwachsenen Söhne noch im Pfarrhaus wohnte. Marie kann sich noch heute an diese gemütliche schräge Dachwohnung erinnern, aber vor allem die hohe Kirche mit ihren schönen Fenstern beeindruckte sie als Kind sehr.
Sonntag für Sonntag ging sie damals mit ihrem Onkel, der im Posaunenchor spielte, zu Fuß etwa vierzig Minuten zum Gottesdienst, und auch während der vielen nachfolgenden Schulferien, die sie bei den Verwandten verbringen durfte, gehörte die Martini-Kirche immer dazu.
Ja, und dann las sie vor einigen Monaten in ihrer Tageszeitung einen Artikel, in dem berichtet wurde, dass die evangelische Martini-Kirche für einen Euro an einen Gastronomen verkauft worden sei, der sie zu einem Restaurant umbauen will.
Marie stockte der Atem, und selbst die Tatsache, dass besagter Gastronom den in den achtziger Jahren wegen Baufälligkeit abgetragenen Turm wieder aufbauen will, konnte sie nicht von dem Gedanken abbringen, sofort zu konvertieren. Die katholische Kirche würde nämlich ihre Gotteshäuser nicht für solche Zwecke zur Verfügung stellen.
Inzwischen sind einige Monate vergangen, Marie ist eingedenk ihrer hugenottischen Vorfahren nicht konvertiert, und hat mit vielen Freunden über das Kirchenrestaurant gesprochen.
Merkwürdiger Weise sind es gerade die katholischen ihrer Freunde die sich nun wundern, hätten sie doch gedacht, Marie sei modern und aufgeschlossen und ginge mit der Zeit.
Also ging Marie in sich, schließlich wollte sie nicht als altmodisch und nicht aufgeschlossen verschrieen sein, und was kam dabei heraus?
Gar nichts, sie blieb altmodisch und unaufgeschlossen, denn die katholischen Freunde hatten gut reden, eine ihrer Kirchen wurde ja nicht für einen Euro verhökert, und wenn modern und aufgeschlossen an derartige Unternehmen gekoppelt ist, soll es ihr wurscht sein, jedenfalls findet sie es nach wie vor schrecklich, dass ihre wunderbare neugotische Martini-Kirche nun eine Gaststätte ist.

Apropos „Martini“-Kirche? Ob die Namensgeber sich damals wohl hätten träumen lassen, dass in ihrem Gotteshaus einmal „Martini on the rocks“ ausgeschenkt werden würde?


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Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 20.12.2009

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