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Es war am Nachmittag des heiligen Abends. Der sechsjährige Till stand auf einem Stuhl am Kinderzimmerfenster und schaute den wirbelnden Schneeflocken zu.
„Danni, schnell, guck mal“, rief er plötzlich aufgeregt seiner Schwester zu, „an meinem
Fenster fährt ein Heißluftballon vorbei, in dem sitzt ein kleiner Weihnachtsmann und schläft.“
„Till, du sollst nicht immer lügen“, schimpfte die neunjährige Daniela, „was du immer für Geschichten erfindest.“
„Ich lüge nicht“, aufgebracht sprang Till von seinem Stuhl, lief zur Schwester und zog sie zum Fenster, „guck doch, da fliegt er.“
Danni schaute hinaus und sah tatsächlich einen großen Ballon, der jetzt auf die Kirchturmspitze zuschwebte, doch von einem kleinen schlafenden Weihnachtsmann sah sie bei der Entfernung natürlich nichts.
„Du spinnst“, sagte sie darum zu Till, „du siehst einen Ballon und dichtest gleich einen schlafenden Weihnachtsmann dazu.“
„Ach, lass mich in Ruhe“, brummte Till und schaute sehnsüchtig dem Ballon nach. Wenn er doch auch einmal damit fahren könnte. Ein einziges Mal nur, er ganz alleine, ohne die ständig an ihm herumnörgelnde Schwester, die zudem noch behauptete, dass er Geschichten erfände. Dabei hatte er so tolle Erlebnisse, dass er sich gar keine Geschichten auszudenken brauchte. Doch wenn er davon sprach, glaubte ihm niemand. Immer sagten alle, dass er zuviel Fantasie habe. So ein Quatsch! Und auch jetzt wusste Till ganz genau, dass in dem wunderschönen bunten Heißluftballon ein kleiner Weihnachtsmann mit rotem Mantel und roter Mütze schlief.
Der Ballon hatte inzwischen die Kirchturmspitze erreicht, und der kleine Weihnachtsmann merkte nichts davon, denn er schlief tatsächlich tief und fest. Wie das kam? Nun, er hatte ganz alleine Hunderte von Weihnachtspaketen einpacken müssen, denn der große Weihnachtsmann hatte einen derben Schnupfen. Und nicht genug damit, ziemlich hohes Fieber war noch hinzugekommen, so dass er ausgerechnet einige Tage vor Weihnachten das Bett hüten musste.
Ja, und so war die ganze Arbeit an dem kleinen Weihnachtsmann, der eher noch ein Weihnachtsjunge war, hängen geblieben. Er hatte Berge von Geschenken verpackt und geglaubt, dass er nie und nimmer damit fertig werden würde. Doch, o Wunder, am Morgen des Heiligen Abends war das letzte Geschenk verpackt, und er brauchte die Päckchen nur noch im Korb des großen Ballons zu verstauen und zur Erde zu schweben, wo schon der Kutscher Rupert mit dem Schlitten und den vier Rentieren auf ihn wartete.
Ja, und unterwegs war der kleine Weihnachtsmann so müde geworden, dass er dachte:
„Nur für einen Moment werde ich die Augen schließen, und wenn ich auf der Erde ankomme, bin ich wieder frisch und munter.“
So schloss er also die Augen und war im Handumdrehen ganz fest eingeschlafen. Winnie, der Winterwind blies ihm derbe ins Gesicht, der kleine Weihnachtsmann merkte nichts. Die Wolken tropften Wasser auf seinen Kopf und der eisige Frost ließ es zu Eiszapfen erstarren, der kleine Weihnachtsmann schlief und spürte nichts. Der Mond sandte einen spitzen Strahl hinunter, der in seine Wangen piekste, der kleine Weihnachtsmann schlug die Augen nicht auf, er schlief und schlief, ja, er schnarchte sogar, was für so einen jungen Weihnachtsmann ziemlich ungewöhnlich war. Die Sterne begannen zu surren und zu tanzen, doch es half alles nichts, der kleine Weihnachtsmann erwachte nicht.
So waren der Mond und die Sterne, der Wind und die Wolken, der Regen und der Frost am Ende völlig ratlos, denn sie wussten beim besten Willen nicht, was sie noch anstellen sollten, um den kleinen Weihnachtsmann wach zubekommen.
Die Zeit verrann, und der Ballon schwebte noch immer in der Luft, denn nun war er zu allem Überfluss auch noch am Wetterhahn der Kirchturmspitze hängen geblieben.

„Ich habe eine Idee“, sagte der Mond, „irgendjemand müsste einen Wecker an sein Ohr halten und klingeln lassen, davon wird er bestimmt wach.“
„Das ist wirklich eine gute Idee“, sagte der Riesenschneemann Rufus, der schon einen ganz steifen Nacken vom ständigen nach oben sehen hatte, „doch wo bekommen wir einen Wecker her?“
„Na, ganz einfach“, lachte seine Freundin, die Schneedame Romina, „wir stehen doch im Garten des kleinen Till. Wenn wir den fragen, hilft er uns bestimmt, denn wenn unser kleiner Freund da oben noch lange schläft, bekommt Till sein Geschenk ja auch nicht.“
„Nun denn“, freute sich Winnie, der Winterwind, „dann will ich mal ordentlich an Tills Fenster rappeln, damit er mich hört.“ Schwupps, sauste er in die Luft und schlug die Zweige des alten Apfelbaumes so kräftig an Tills Fenster, dass der neugierig hinaussah. Wieder blies Winnie seine Wangen ganz doll auf und ließ mit seinem eisigen Atem die Schneeflocken heftig durcheinanderwirbeln.
Till öffnete das Fenster und staunte, denn nun winkte Rufus, der Riesenschneemann ihm zu und sagte mit unglaublich tiefer Stimme:
„Hallo, lieber Till, wir brauchen deine Hilfe.“
„Ihr braucht meine Hilfe? Aber gerne helfe ich euch. Soll ich zu euch hinunterkommen?“
„Ja, komm zu uns, aber zieh dich warm an, und bringe bitte einen Wecker mit. Einen ganz großen, den größten, den du auftreiben kannst.“
„Einen Wecker?“ fragte Till erstaunt, „aber was...?“
„Nun mach schon“, unterbrach ihn Winnie ungeduldig, „wir erklären dir gleich alles. Stell dich auf deine Fensterbank, ich trage dich hinunter.“
„Au, prima“, freute sich Till, schlüpfte flink in seinen Anorak, zog seine dicken Winterstiefel an, und vergaß auch seinen großen grünen Wecker nicht. So kletterte er auf die Fensterbank und hastenichtgesehen nahm ihn Winnie in seine Arme und ließ ihn sacht zur Erde gleiten. Das war vielleicht toll. Unten angekommen sagte der Riesenschneemann ungeduldig:
„Jetzt aber hurtig, wir müssen den Wecker dem kleinen Weihnachtsmann ans Ohr halten, denn sonst bekommt in diesem Jahr kein Kind in unserer Stadt ein Weihnachtsgeschenk.“
„Ja, schläft der denn immer noch?“ fragte Till erstaunt.
„Der schläft immer noch, sieh mal zur Kirchturmspitze“, sagte Rufus und deutete nach oben, wo der Ballon immer noch am Wetterhahn hing und leise hin und her schaukelte.
„Aber wie bekommen wir den Wecker da hinauf?“ wollte Till wissen, „mit dem Wind?“
„Na, sicher mit mir, aber du musst mitkommen, denn ich kann mit solchen Dingern nicht umgehen, und mache am Ende den schönen Wecker noch kaputt“, lachte Winnie und blies schon wieder seine Wangen auf.
„Moment“, sagte jetzt eine Stimme hinter ihnen, erstaunt drehte Till sich um und hielt die Luft an, denn ein prächtiger Schlitten mit vier wunderschönen Rentieren stand plötzlich vor dem Gartentor. Und nun kam ein ziemlich großer Mann in einem grünen Anzug, mit grünem Hut und grünem Umhang durch die Pforte.
„Ich bin Rupert, der Kutscher des Weihnachtsschlittens“, lachte er, als er Tills aufgerissenen Augen sah, „ich warte schon werweiß wie lange auf den kleinen Weihnachtsmann. Es ist schön, dass ihr ihn wecken wollt. Hier ist eine Decke, wenn du dich darauf setzt, kann Winnie dich ohne große Mühe hinaufpusten.“ Er breitete eine Decke aus, Till setzte sich darauf, und schon blies Winnie so kräftig, dass die Decke sich wie ein fliegender Teppich erhob und zur Kirchturmspitze schwebte.
Dort angekommen, verknotete Till einige Fransen der Decke miteinander und knüpfte sie an den Wetterhahn, während Winnie das andere Ende der Decke am Korb des Ballons befestigte, so dass Till nun wie auf einer Hängematte hoch oben in der Luft schaukelte.
Jetzt drehte er geschwind den Wecker auf und hielt ihn ans Ohr des kleinen Weihnachtsmannes, der noch immer schlafend auf seinem Rucksack saß.

„Achtung, jetzt geht’s los“, lachte Till, und schon schrillte der Wecker so laut und eindringlich, dass der kleine Weihnachtsmann erschrocken aufsprang und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.
„Wawawas ist passiert?“ stammelte er verwirrt und schaute sich verwundert um.
„Was passiert ist, fragt er“, prustete Winnie heraus, „ja, mein Lieber, wenn wir dich nicht geweckt hätten, säßen heute Abend alle Kinder in dieser Stadt mit verweinten Augen in ihren Stuben, denn sie hätten bestimmt keine Geschenke bekommen. Nun aber schnell, Rupert wartet schon ziemlich lange mit seinem Schlitten auf dich.“
„Ach, du liebe Zeit“, sagte der kleine Weihnachtsmann und schaute sich entsetzt um, dann löste er geschwind den Ballon vom Wetterhahn und wandte sich an Till:
„Vielen Dank, lieber Till, warte, ich gebe dir gleich dein Geschenk.“ Er begann eilig in den Paketen zu kramen, doch Till winkte ab.
„Ach lass nur, das eilt nicht“, sagte er, „aber wenn du willst helfe ich dir gerne beim Austragen der Geschenke, dann schaffst du es noch rechtzeitig.“
Überrascht drehte der kleine Weihnachtsmann sich um.
„Das willst du wirklich für mich tun?“ fragte er erfreut, und klatschte in die Hände, „das ist ja wunderbar. Ich kann deine Hilfe wirklich gut gebrauchen. Komm, setze dich zu mir, und du Winnie, puste uns bitte hinunter.“
„Aber immer“, lachte Winnie, der Winterwind und schon segelten sie hinab und waren im Nu auf der Erde. Dort sprangen sie schnell auf den Boden und verstauten geschwind die Geschenke auf dem Schlitten.
„Wenn nur der große Weihnachtsmann nicht böse auf mich ist“, murmelte der kleine Weihnachtsmann vor sich hin, da sagte Kutscher Rupert:
„Nein, mein Kleiner, du brauchst keine Angst zu haben, er ist gewiss nicht böse, weiß er doch, wie viel Arbeit du zu bewältigen hattest. Mach dir keine Gedanken, er ist richtig stolz auf dich.“
„Ist das auch wahr?“ fragte der kleine Weihnachtsmann erfreut, und in seinen blauen Augen funkelten doch tatsächlich ein paar Tränchen, so erleichtert war er. Mit einer eiligen Bewegung setzte er seine rote, mit weißem Pelz besetzte Mütze zurecht, die ihm beinahe vom Kopf gerutscht wäre und rannte dann mit vielen Päckchen zum Schlitten, auf dem schon ein ganzer Geschenke Berg aufgetürmt war. Till folgte ihm mit den restlichen Paketen und dann begann eine wunderschöne Schlittenfahrt durch den stillen Winterwald. Die Rentiere liefen wieselschnell über die verschneiten Wege, und die kleinen Glöckchen, die links und rechts am Schlitten befestigt waren, spielten eine richtige Melodie.
Ja, und so kam es, dass am heiligen Abend doch noch rechtzeitig alle Geschenke verteilt werden konnten, denn mit Tills Hilfe ging es natürlich ganz schön fix. Und zum Schluss war Till so müde, dass er noch nicht einmal sein Geschenk öffnen konnte.
Als er nämlich mit seinen Eltern und seiner Schwester Daniela Weihnachtslieder singen wollte, fielen ihm doch tatsächlich die Augen zu und er schlief so tief und fest, dass der Vater ihn in sein Zimmer tragen und ins Bett legen musste. Und an diesem Abend wurde er auch nicht wieder wach.
Ob Till seiner Schwester von seinem Erlebnis mit dem kleinen Weihnachtsmann erzählt hat?
Nein, das tat er nicht, denn dieses wunderbare Abenteuer wollte er sich nicht wieder durch dumme Redereien vermiesen lassen, und so behielt er alles für sich!!!


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Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2009

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