Als Kind wünschte Marie sich nichts sehnlicher, als Besitzerin eines eigenen Fahrrads zu sein. Doch in den Nachkriegsjahren war das Geld recht knapp, sodass dieser Wunsch leider unerfüllt blieb. Umso mehr freute sie sich, dass Schulfreundin Anna sie manchmal ein paar Meter mit ihrem Rad fahren ließ. Doch wie alles im Leben, war auch dieses Vergnügen nicht umsonst zu bekommen, o nein, die gute Anna gab ihren Drahtesel nämlich nur im Tausch gegen Süßigkeiten her.
Marie hob also jedes Bonbon, das sie beim Lebensmittelhändler bekam, auf, und von dem sonntäglichen Kuchen ließ sie heimlich ein Stückchen verschwinden, um es Montag gegen ein oder zwei Minuten Rad fahren einzutauschen.
Und dann entdeckte sie in der Adventszeit ein recht großes Bonbonglas ganz hinten im Küchenschrank. Sie freute sich riesig, denn sie glaubte, dass es niemandem auffallen würde, wenn sie ein paar von den Dingern herausnahm. Gedacht, getan, sie versteckte die Süßigkeiten in der Rocktasche und rannte frohgemut zu Anna.
Am nächsten Tag schaute sie wieder heimlich das Bonbonglas an, komisch, es kam ihr so vor, als ob inzwischen der Vorrat angewachsen war. Also schnell hineingegriffen und ab zu Anna. So ging es ein paar Tage, niemand schien etwas zu merken und der Vorrat war schier unerschöpflich.
Und dann kam der Nikolaustag, und als Marie am Morgen in ihren Schuh schaute, war sie entsetzt, der Schuh war leer. Im Gegensatz zum Schuh des Bruders, denn in dem befanden sich Süßigkeiten, Nüsse und Mandarinen. Der Bruder grinste und die Mutter schien ebenso ratlos wie Marie zu sein, denn sie zuckte nur mit den Schultern. So verging der Tag.
Marie rührte sich nach der Schule nicht aus dem Haus, und an das Bonbonglas traute sie sich auch nicht heran. Was sollte sie nur machen? Ob sie der Mutter von ihrem Bonbondiebstahl erzählen sollte? Nein, sie traute sich nicht und war ganz verzweifelt.
Und dann, gegen Abend polterte es auf der Treppe. Was war das?
Plötzlich stand der Nikolaus im Raum. Furcht erregend sah er aus, mit seinem wilden Bart, dem großen Rucksack und der Weidenrute, und eine schrecklich laute Stimme hatte er auch. Marie begann zu weinen, da sagte der Nikolaus:
„Ja, ja, weine nur, das zeigt mir, dass du doch noch ein Gewissen hast. Warum hast du denn die ganzen Bonbons aufgegessen, die deine lieben Eltern für Weihnachten gesammelt haben.“
Marie erschrak, woher wusste der Nikolaus das?
„Aber ich habe sie doch gar nicht aufgegessen“, schluchzte sie, da wurde der Nikolaus richtig böse, er fuchtelte drohend mit seiner Rute vor Marie und schimpfte:
„Und nun lügst du auch noch, das hätte ich nicht von dir gedacht.“
„Ich lüge gar nicht, ich habe sie doch Anna gegeben, damit ich mit ihrem Fahrrad fahren kann“, sagte Marie unter Tränen.
„Und wie viele hast du gegessen?“ wollte der Nikolaus wissen.
„Kein einziges“, beteuerte sie. Der Nikolaus, Vater, Mutter und Bruder schauten ganz überrascht.
„Stimmt das auch?“ fragte der Nikolaus. Marie nickte heftig, denn es war wirklich die Wahrheit.
„Ja, wenn das so ist, dann bekommst du auch etwas Süßes“, sagte er, griff in seinen Rucksack und holte ein Päckchen hervor, „und mit deiner Anna werde ich auch noch ein Wörtchen reden, denn Freundschaft bedeutet, dass man dem anderen auch dann einen Wunsch erfüllt, wenn man nichts dafür bekommt.“
Marie war erleichtert und glücklich, und tatsächlich, ein paar Mal durfte sie nun mit Annas Rad fahren, ohne etwas dafür zu geben, doch allzu lange hielt dieses Glück nicht an.
Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 15.11.2009
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