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Die fremde Frau

Josef, der Portier unseres Hotels war der Erste, der die Fremde zu sehen bekam. Er stand regungslos vor einem Berg von Koffern und starrte Richtung Eingangstür, als ich aus meinem Auto stieg.
„Josef, was ist los?“ fragte ich erstaunt, „es regnet und Sie rühren sich nicht von der Stelle. Die Koffer sind schon ganz nass.“
Ich berührte leicht seine Schulter, da drehte er sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir, deutete mit seinem Zeigefinger auf die Tür und stotterte:
„Diese Frau, diese Frau, das kann doch nicht sein.“
„Welche Frau?“ wollte ich wissen, „ich sehe niemanden. Und was kann nicht sein?“ Josef, unsere treue Seele, schien aufzuwachen, er schüttelte den Kopf, brummelte etwas Unverständliches vor sich hin, und machte sich daran, die Koffer ins Haus zu tragen.
Ein wenig verwundert folgte ich ihm. Als ich auf der halben Treppe war, öffnete sich plötzlich die Schwingtüre zu unserem Speiserestaurant, und eine schlanke, elegante Dame mittleren Alters erschien.
„Josef, wo bleiben Sie denn mit meinen Koffern?“ rief sie mit heller Stimme. Ich zuckte regelrecht zusammen, diese Stimme, woran erinnerte mich diese Stimme? Wie in Trance blieb ich stehen und starrte auf die Gestalt in der halbgeöffneten Tür. Nicht nur die Stimme, auch dieses Gesicht kam mir bekannt vor. Fieberhaft suchte ich nach einer Erklärung, als mein Blick auf Josef fiel, der stocksteif mit zwei schweren Koffern in den Händen, stehen geblieben war.
„Wieso kennen Sie meinen Namen?“ fragte er, kalkweiß im Gesicht.
„Wer sind Sie?“ stotterte ich, „ja, und wieso kennen Sie den Namen unseres Portiers?“
Die Dame schaute lächelnd von Josef zu mir, und von mir zu Josef.
„Sie sind doch die Frau, die ihre Schwiegertochter auf dem Gewissen hat“, sagte Josef, ließ die Koffer fallen und ging ein paar Schritte zurück. „Wenn sie stirbt, sind sie die Mörderin“, schrie er und zeigte mit dem Finger auf die Frau, die immer noch lächelte, jetzt aber ein wenig irritiert den Kopf schüttelte.
„Ihren Namen hat mir der Herr an der Rezeption verraten, und …“
„Josef, bringen Sie endlich die Koffer ins Haus“, unterbrach ich sie, denn mir war es wie Schuppen von den Augen gefallen, „und rufen Sie mich in zehn Minuten in meiner Privatwohnung an, dann verrate ich Ihnen, wer die Dame ist.“
Josef raffte die Koffer auf, stolperte mit ihnen durch die Tür und murmelte wieder Unverständliches. Die Dame zwinkerte mir vergnügt zu und ich zwinkerte zurück.
Jetzt musste ich mich aber beeilen, denn in einer Viertelstunde begann meine Lieblingstelenovela, in der der soeben angekommene Hausgast die Rolle der intriganten Schwiegermutter spielte.
Als ich meine Haustüre öffnete, klingelte das Telefon.


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Texte: copyright by rosenjule
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2009

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