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Der Streuselkuchen

Im März 1945 flohen wir, meine Mutter, mein Bruder, meine Tante, meine Cousine und ich vor der heranrückenden russischen Armee mit einem der letzten Schiffe von Danzig nach Dänemark.
Ich kann mich noch heute daran erinnern, dass wir bei Sturm, Schnee und eisiger Kälte mit einem schaukelnden Fischkutter zu einem weit außerhalb der Halbinsel Hela ankernden riesigen Schiff gebracht wurden, auf dass wir über hin und her wehende Strickleitern klettern sollten.
Ich weigerte mich entschieden, eine dieser Leitern zu betreten. Meine Mutter und meine Tante waren schon ganz verzweifelt, denn die anderen Flüchtlinge hatten längst den Kutter verlassen, da kletterte plötzlich ein junger Matrose behände eine dieser Strickleitern herab, klemmte mich schreiendes Bündel unter den Arm, und schwang sich mit mir wieder hinauf. Oben angekommen drückte er mich meiner Mutter in den Arm, und verschwand im Gewühl.
Noch Jahre später bedauerte meine Mutter immer wieder aufs Neue, dass sie sich nicht richtig bei diesem jungen Mann hatte bedanken können.
Nach etwa zwei Wochen kamen wir in Dänemark an, und wurden in ein Lager gesteckt, dass mit Maschen- und Stacheldraht eingezäunt war. Wir lebten zunächst in einer Turnhalle und schliefen dort auf dem Fußboden. Später verteilte man uns in Bretterbaracken, in denen grob zusammen gezimmerte Doppelbetten aus Holz standen. Das Holz war so rau, dass wir so manchen Splitter aus Hand, Arm oder Bein ziehen mussten. Matratzen gab es nicht, dafür bekamen wir Stroh, und kratzende braune Decken.
Die Verpflegung war ziemlich karg, es gab beinahe täglich Kohl, und zum Abendessen eine Scheibe Brot, spärlich belegt und Tee dazu. So wurden wir in der Zeit wohl nie richtig satt.
Allerdings brachten Mutter und Tante jedes Mal, wenn sie Küchendienst hatten, Kohlstrünke mir, die wir Kinder mit Wonne verzehrten.
Es war Ostern 1946, als wir aufgerufen wurden, uns an der Küche aufzustellen, um ein Stück Kuchen abzuholen. Nach Jahren der erste Kuchen!!
Ich sehe noch heute die vielen Bleche mit dem duftenden Streuselkuchen, die hinter der Essensausgabe aufgestapelt waren. Ein Stück Kuchen für jeden. Als ich meines in Händen hielt, konnte ich nicht anders, ich biss hinein und hatte im Handumdrehen mein ganzes Stück verschlungen. Dabei hatte ich vorher meiner Mutter versprochen, damit bis zum Ostersonntag zu warten.
Beschämt ging ich dann hinter Mutter und Bruder, die beide ihre Portionen in den Händen hielten, zu unserer Baracke. Ich machte mich auf ein Donnerwetter gefasst, doch meine Mutter nahm mich tröstend in den Arm, und wollte ihr Stück zwischen meinem Bruder und mir aufteilen. Doch mein Bruder verzichtete großmütig darauf, er aß seinen Kuchen, und meine Mutter und ich jeweils die Hälfte ihres Stückes.
„Du bist so ein dürres Klappergestell“, sagte mein geliebter, vier Jahre älterer Bruder kauend, „ich gönne es dir, aber von mir kriegste nix.“
Ich wars zufrieden, aber immer, wenn ich Streuselkuchen sehe oder rieche, muss ich an diese Begebenheit denken.

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2009

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