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Seit Stunden trommelte der Regen unablässig gegen das trübe Krankenhausfenster. Tiefgrau war das Stückchen Himmel über dem schmalen Lichthof, der schon bei klarem Wetter kaum einen Sonnenstrahl hereinließ, sodass der Raum beinahe ständig vom bläulich kalten Licht einer Neonröhre erhellt wurde.
Ein trostloses Zimmer, in dem mein kranker Bruder lag, karg eingerichtet mit dem typischen Krankenhausbett, einem runden Tischchen, zwei Stahlrohrstühlen mit hellgrauen Plastikpolstern, sowie einem zweitürigen Kleiderschrank. Ein grauer Plastikvorhang versteckte die kleine Waschnische, doch das regelmäßige Platschen des tropfenden Wasserhahnes vermochte er nicht zu verbergen.
Wirklich grässlich, dieses Zimmer, genau so grässlich wie die schreckliche Krankheit, die meinen Bruder auszuhöhlen schien.
„Versuchen Sie jeden Tag zu kommen“, hatte der junge Stationsarzt vor etwa zwei Wochen gesagt, „Ihr Bruder ist so glücklich, wenn Sie da sind, und außerdem“, eine kleine bedauernde Geste hatte diese Worte begleitet, „kann es bald zu Ende sein.“
O ja, ich kam jeden Tag und musste entsetzt mit ansehen, wie mein Bruder sich in rasantem Tempo veränderte. Es war fast nichts mehr von dem alten vertrauten Werner übrig, und doch war ich froh über jeden Tag, den er noch lebte. Lebte??? Mein Verstand erhoffte baldige Erlösung für ihn, doch mein Herz wollte sich nicht mit seinem nahen Tod abfinden.
„Karlchen“, holte mich Werners matte Stimme aus meinen Gedanken. Karlchen, dieser vertraute Name meiner Kindheit, hatte Werner mich jemals Carla genannt?
„Karlchen, mir fällt die Melodie zu Brechts Kanonenlied nicht ein, kannst du es mir vorsingen?“
„Du meinst ich soll hier und jetzt?“
„Ja, hier und jetzt“, nickte mein Bruder und ein kleines verstehendes Lächeln erhellte sein schmales eingefallenes Gesicht wie ein Sonnenstrahl, „wann und wo sonst?“
Tränen schossen in meine Augen, ich räusperte mich, und während noch immer der Regen an die Fensterscheiben schlug, begann ich ein wenig rau zu singen:


Soldaten wohnen
Auf den Kanonen
Vom Cap bis Couch Behar.
Wenn es mal regnete
Und es begegnete...

„Karlchen, weißt du noch, als Klaus Koll und ich in Danzig das alte Gewehr fanden?“ unterbrach mich mein Bruder. Wieder huschte ein Lächeln über seine abgezehrten Züge, und seine blauen Augen, über denen jetzt dieser graue Schleier lag, sahen mich liebevoll an.
O ja, ich wusste noch, doch bevor ich antworten konnte fiel Werner wieder in diesen unruhigen Schlummer und ich sah uns als Kinder in Danzig im Sommer 1944...

„Klaus, guck mal, was ich gefunden habe“, hörte ich Werner rufen. Neugierig lief ich auf die Pferdekoppel, von der die Stimme kam und sah meinen Bruder ein längliches Gebilde über dem Kopf schwenken.
„Mensch, eine Kanone“, schrie Klaus begeistert.
„Quatsch Kanone, das ist ein Gewehr, wenn auch schon ziemlich verrostet“, gab Werner zurück und versuchte, den Abzug zu betätigen, doch der rührte und regte sich nicht.
„Nimm du es, ich guck mal in den Lauf“, sagte Werner und schaute tatsächlich hinein, während jetzt Klaus am Abzug hantierte.
„Nichts zu sehen“, sagte mein Bruder wenig später, als ein ohrenbetäubender Knall ihn und seinen Freund zu Boden riss.
Unsere heißgeliebte Tante Mia kam erschrocken angelaufen, packte die unversehrten Bengels am Schlafittchen und schüttelte sie kräftig hin und her.
„Achottachott, Wernerchen“, jammerte sie, „was soll ich bloß mit dir machen? Dein Vater ist im Krieg, deine Mutter im Krankenhaus und wenn dir etwas passiert, kann ich mich auch gleich aufhängen.“.....

„Und die Sache mit dem Kutschbock? Kannst du dich daran noch erinnern? Es muss damals um uns herum von Schutzengeln nur so gewimmelt haben.“ Werners schmale Hand griff nach dem „Galgen“ über seinem Bett und mir war, als ob eine kalte Hand nach meinem Herzen griff.
„Und wo sind die Schutzengel jetzt?“ dachte ich trotzig und hilflos zugleich, „ich will nicht, dass er stirbt, ich liebe ihn und will meinen einzigen Bruder nicht auch noch verlieren.“
„Sag’ Karlchen, erinnerst du dich?“ murmelte Werner und kämpfte vergeblich gegen die bleierne Müdigkeit, die ihn immer wieder von mir fort holte.
O ja, ich erinnerte mich...

„Die rennt schon wieder draußen rum, Tante Mia, dabei gibt’s bestimmt gleich Alarm“, sagte mein großer Bruder und schubste mich zum wiederholten Male nicht gerade sanft in Tante Mias Küche. Dabei wollte ich nur zu ihm und Cousine Hannelore laufen, die war drei Jahre älter als ich und ständig mit meinem vier Jahre älteren Bruder zusammen, während sie mich nicht dabei haben wollten.
Wieder einmal lief ich trotz aller Verbote zu Werner, als ich ihn vom Küchenfenster aus auf einem Kutschbock sitzen sah. Er hatte irgendetwas in der Hand und ließ die Sonne darin spiegeln.
Als er mich auf dem Hof entdeckte, sprang er schimpfend herunter und Sekunden später flogen uns Kutschbock und Wagen, von einem Granatsplitter getroffen, in Stücken um die Ohren, aber wir hatten nicht die kleinste Schramme.
„Achottachottachott“, erklang kurz darauf die vertraute Stimme unserer geliebten Tante Mia...

„Weißt du, Karlchen, wenn wir in Danzig geblieben wären, hätte ich sicher die Spedition von Onkel Benno übernommen, denn er hatte ja keinen Sohn, und ich war doch schon als kleiner Junge am liebsten bei den Pferden.“ Weit weg war der Blick meines Bruders und das lag jetzt nicht an der Morphiumspritze. Doch plötzlich sah er mich forschend an, umklammerte meine Hand und stieß ängstlich hervor:
„Du gehst doch nicht fort, während ich schlafe?“
„O nein, Werner, ich gehe nicht fort, du kannst schlafen, solange du willst“, antwortete ich mit zugeschnürter Kehle, da schloss er beruhigt die Augen, und meine Gedanken gingen wieder zurück in unsere Kindheit. Mein Bruder und seine Liebe zu den Pferden....

„Wo steckt Werner denn wieder?“ Wann immer diese Frage gestellt wurde, gab ich die prompte Antwort:
„Na, im Pferdestall.“ Und so war es auch. Diese Pferdeliebe meines Bruders beeindruckte mich als kleines Mädchen sehr, hatte ich doch ziemliche Angst vor den schrecklich großen Tieren.
In diesem Sommer 1944, an den ich mich so gut erinnern kann, lag unsere Mutter wegen einer Drüsenoperation lange Zeit im Krankenhaus, unser Vater war als Soldat in Norwegen, und mein Bruder und ich lebten bei unserer Tante Mia, die für uns immer, auch in späteren Jahren, so etwas wie eine zweite Mutter war. Onkel Benno, Tante Mias Mann, war bei der Marine in Gotenhafen stationiert, und konnte häufig nach Hause kommen. Er machte ständig Pläne. So wollte er nach dem „verdammten Krieg“ allmählich die Pferdefuhrhalterei auf Lastwagen umstellen, und nebenbei einen kleinen Reiterhof unterhalten. Natürlich sollten wir drei Kinder jeder ein eigenes Pferd bekommen. Ich wollte zwar nichts davon wissen, aber Onkel Benno und Werner redeten dauernd davon.
Besuchten wir unsere Mutter im Krankenhaus, fuhren wir natürlich mit der Kutsche. Werner flitzte dann immer in ihr Zimmer, um sie zu begrüßen, und war genauso schnell wieder draußen bei den Pferden. Dort stand er während der ganzen Besuchszeit und verscheuchte mit einem Ast, oder was immer er aufgetrieben hatte, die Fliegen.
Als Max, das Lieblingspferd meines Bruders, erkrankte, war er fast ausschließlich im Stall. Mehrmals täglich kam der Tierarzt und des Nachts wurde eine Wache aufgestellt. Nach etwa einer Woche war Max dann glücklicher Weise auf dem Weg der Besserung, und endlich durfte Werner ihn an einer Leine auf die hinter dem Haus liegende Koppel führen.
Langsam marschierten Junge und Pferd über die Wiese, manchmal rupfte Max einen Grashalm ab, doch hauptsächlich gingen sie gemächlichen Schrittes immer im Kreis herum.
Jeden Tag wurde der Spaziergang ein wenig ausgedehnt und täglich ging es dem Pferd besser.
Doch dann, an einem sonnigen Morgen geschah es. Klaus Sperling, der Sohn des Lebensmittelhändlers und Werners Erzfeind, lauerte hinter einem Busch mit einer Steinschleuder. Als Junge und Pferd in Reichweite waren, schoss er einen Stein auf Max, und, ob nun vor Schreck oder von der Wucht des Aufpralls, das von der Krankheit geschwächte Tier brach zusammen und lag zitternd auf der Wiese.
Mein Bruder schrie wie von Sinnen, Klaus Sperling rannte wie der Blitz davon, und im Nu war die Koppel voller Menschen. Werner in seinem Zorn und Schmerz murmelte ständig:
“Ich bring' ihn um, ich bring' den Kerl um..“ und Tante Mia konnte ihn nicht von seinem Liebling trennen.
Der sofort herbei gerufene Tierarzt versuchte alles, doch Max war unfähig aufzustehen.
Später bauten Männer ein Gerüst auf. Mit Hilfe eines Kranes und mittels eines breiten Gurtes, den man um den Bauch des gestürzten Tieres schlang, sollte es wieder auf die Beine gestellt werden, doch es gelang nicht.
Tante Mia brachte mich ins Haus und verbot mir strikt, es zu verlassen, doch ich schlich wieder hinaus und kam gerade recht um einen uniformierten Mann zu sehen, der auf Max schoss. Aus seiner Stirn quoll roter Schaum, sein großer Körper zuckte, machte unter sich und lag dann ganz still. Und mein armer Werner weinte, wie ich ihn noch nie hatte weinen sehen.
Ich lief zu ihm, schob meine Hand in die seine, er legte seinen Arm um mich und schimpfte mich mit Tränen in den Augen aus, weil ich mal wieder nicht gehorcht hatte...

„Ich hatte dich immer sehr lieb, Karlchen“, erneut holte mich die leise Stimme meines Bruders aus der Vergangenheit zurück, „und als du älter wurdest, war ich richtig stolz auf meine hübsche Schwester", krampfhaft bemühte er sich, die Augen offen zu halten, doch sie fielen wieder zu, und der Druck seiner Hand, die ich in meiner hielt, wurde schwächer. Behutsam tupfte ich die Schweißperlen von seinem Gesicht, das hohl und durchsichtig in dem weißen Kissen lag. Nur der Hauch eines Lächelns zeigte mir, dass er es sehr wohl registrierte.
„Auch ich war stolz auf meinen großen Bruder“; dachte ich mit wehem Herzen. Da saß ich nun an diesem regnerischen Junitag bei meinem todkranken Bruder in einem unfreundlichen Krankenzimmer. Unsere Mutter war seit 25 Jahren tot, unser Vater seit neun Jahren und mein Bruder hatte Krebs im Endstadium. Ich fühlte mich plötzlich ganz alleine auf der Welt, obwohl zu Hause meine Familie auf mich wartete.
Mein Blick ging zu dem trüben Fenster, an das seit Stunden unablässig der Regen schlug.
Karlchen, dieser Name meiner Kindheit, niemals wieder sollte ich ihn hören?
„Karlchen“, sagte Werner und seine blauen Augen waren plötzlich ganz klar, „ich möchte im Grab unserer Eltern beigesetzt werden, regelst du das für mich?“
Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich.
„Ich regele das für dich, darauf kannst du dich verlassen“, sagte ich fest und strich über sein dichtes Haar, das trotz Chemotherapie nicht ausgegangen war. Da schloss er beruhigt die Augen und fiel wieder in diesen unruhigen Dämmerzustand.
„Der Schlüssel, wo ist der Schlüssel?“ Ich neigte den Kopf hinunter, denn seine Stimme war kaum zu vernehmen. Da schlug er die Augen wieder auf.
„Karlchen, weißt du, wo unser Danziger Wohnungsschlüssel geblieben ist?“ flüsterte er.
„Nein, Werner, das weiß ich nicht, aber ich weiß noch, dass Mutti ihn in Gotenhafen wegwarf, und du ihn verzweifelt gesucht, und auch gefunden hast.“
„Und nun ist er wieder weg, aber du bist da, und den blöden Schlüssel brauche ich nicht mehr“, sagte Werner, und schloss erneut die Augen.

Es war etwa dreissig Minuten später, als mein Bruder starb, aber die Liebe zu ihm starb bis heute nicht, die Liebe nicht und auch die Erinnerung nicht, die lebendige, fröhliche und auch traurige Bilder hervor zu zaubern vermag, stelle ich nur die Frage:
„Weißt du noch, Werner?“.....


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Tag der Veröffentlichung: 17.10.2009

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