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Es war einer Reihe von Zufällen zu verdanken, dass es an diesem Tag zu der für mich so wichtigen Begegnung kam, aber, wie pflegte meine Großmutter zu sagen:
„Es gibt keinen Zufall, Zufall ist das, was das Wort sagt, es fällt uns etwas zu, sei es gut oder schlecht.“
Nun, damals lächelte ich über diesen und ähnliche Sprüche, doch heute denke ich, dass Großmutter zumindest in diesem Falle Recht hatte, doch ich will alles der Reihe nach erzählen:
Es war Freitag, nein, nicht der dreizehnte, sondern ein ganz gewöhnlicher Freitag. Bereits in aller Frühe wachte ich mit einem seltsamen Glücksgefühl auf, für das es nur eine Erklärung geben konnte, ich hatte endlich meine Scheidung überwunden.
Vergnügt sprang ich aus dem Bett, duschte singend, frühstückte in aller Ruhe und zog mich besonders hübsch an. Natürlich vergaß ich auch ein sorgfältiges make up nicht.
Bevor ich meine Wohnung verließ, betrachtete ich mich prüfend im Garderobenspiegel. So gut hatte ich schon lange nicht mehr ausgesehen. Mein blondes Haar fiel locker in die Stirn und der blaue Hosenanzug ließ meine Augen noch blauer und größer erscheinen.
Beschwingt machte ich mich auf den Weg ins Geschäft, indem ich jedoch an diesem Tag nicht ankam.
Ich weiß bis heute nicht, was in mich gefahren war, doch meine Hände drehten das Steuerrad meines Wagens nicht nach links in die Hartmannstraße, in der mein kleines Modegeschäft lag, sondern lenkten das Auto beinahe ohne mein Zutun nach rechts in die Bergamo Straße, die direkt zur Autobahn führte.
„Also machen wir heute einfach blau“, dachte ich vergnügt, und nicht die Spur eines schlechten Gewissens regte sich in mir. Die Sonne lachte vom strahlend blauen Himmel, und in mir lachte es ebenfalls.
Endlich schien der hässliche Druck, der seit langem wie eine Zentnerlast auf meine Seele gedrückt hatte, zu weichen. Ich fühlte mich leicht und froh und war unendlich dankbar dafür.
Es lagen schreckliche Wochen und Monate hinter mir. Bereits seit längerer Zeit war meine Ehe, die einst so viel versprechend begonnen hatte, zerrüttet, doch erst vor einem Jahr hatte ich die Scheidung eingereicht. Vor genau sechs Wochen war nun die Scheidung ausgesprochen worden, und seitdem hatten mich Schuldgefühle und Versagungsängste geplagt. Doch nun schien es, als hätte ich die ganze unerfreuliche Geschichte endlich überwunden.
Mein Auto hatte mich mittlerweile zur Autobahn gebracht. Ich nahm die erstbeste Auffahrt und fuhr einfach drauflos. Etwa eine Stunde lang fühlte ich mich großartig, bis mein Blick auf die Benzinanzeige fiel. Oweia, die weiße Nadel zitterte unmittelbar vor dem roten Feld, nur noch kurze Zeit und mein Tank war leer. Glücklicher Weise befand ich mich in der Nähe einer Ausfahrt und so fuhr ich schleunigst ab. Tatsächlich tauchte auch bald eine Tankstelle auf, und wenig später brachte ich meinen Wagen aufatmend an einer der Zapfsäulen zum Stehen. Doch als ich nach meiner Handtasche griff, durchfuhr mich ein eisiger Schreck: Ich hatte versehentlich die schwarze Tasche mitgenommen, Papiere, Handy und Geld befanden sich jedoch in der blauen. Lediglich in meiner Jackentasche hatten vorhin ein paar Münzen geklimpert.
Sekundenlang saß ich wie erstarrt, meine Hochstimmung war verflogen, doch eigentlich wollte ich mir den Tag nicht verderben lassen. So ging ich forschen Schrittes in den Kassenraum der Tankstelle und erzählte mein Missgeschick. Freundlich hörte der Tankwart mir zu und sagte dann ein wenig herablassend:
„Wir haben hier schon die tollsten Geschichten gehört, junge Frau, wenn wir die alle glauben wollten, wären wir längst pleite. Also passen Sie auf, ich fülle Ihnen für zehn Euro Benzin in den Tank, damit fahren Sie zum nächsten Polizeirevier. Dort hilft man Ihnen bestimmt weiter. Nein, behalten Sie Ihre paar Münzen, Sie können mir das Geld ja gelegentlich zurückschicken, hier ist die Adresse.“
Mit fiel ein Stein vom Herzen, der Mann füllte etwas Benzin in den Tank und ich machte mich auf den Weg zur Polizeidienststelle, den er mir ausführlich beschrieben hatte.
Als ich dieses Revier betrat, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, denn genauso sah damals die Wache in unserem kleinen Ort aus. Eine Art Pult, an dessen Ende eine kleine Pendeltür hin- und her schwang, teilte den großen Raum in zwei Bereiche. Der hintere Bereich war mit zwei alten Schreibtischen bestückt, und diente den Beamten wohl als Schreibzimmer, während der vordere Teil anscheinend für Besucher gedacht war.
Es roch nach Kaffee, Holz und Leder und an den blassgrünen Wänden hingen Fahndungsfotos. Auf der Bank des erstaunlich großen Fensters brodelte eine Kaffeemaschine neben mehreren Aktenordnern.
An einem der Computer saß ein junger Polizist und hämmerte ziemlich robust auf der Tastatur herum, während er leise vor sich hinschimpfte. Ich wollte mich gerade an ihn wenden, als plötzlich eine seitlich gelegene Tür aufgerissen wurde, und ein älterer Beamter heraustrat. Er sagte etwas zu dem jüngeren Kollegen und ich schaute durch die geöffnete Tür in den dahinter liegenden Raum.
Dort saß auf einem Holzstuhl ein zusammengesunkener Mann, den Kopf nach unten geneigt, sodass eine fast kahle Stelle in seinem dunklen, von grau durchzogenem Haar sichtbar wurde. Der rechte Arm des Mannes lag auf seinem rechten Oberschenkel, während der linke kraftlos herunter hing. Der graue Anzug, den er trug, hatte zwar eine tadellose Bügelfalte und schien auch bester Qualität zu sein, doch war er voller Schutt- oder Straßenstaub.
Irgendwie rührte mich die zusammen gesunkene Gestalt, denn es ging soviel Hoffnungslosigkeit von ihr aus, dass sich mein Herz zusammen zog.
„Was wünschen Sie?“ fragte mich in dem Moment der junge Beamte, sodass ich förmlich zusammen zuckte.
„Mein Name ist Sybille Weyrich“, begann ich zögernd, ohne den Blick von dem Fremden im Nebenzimmer zu nehmen, da fuhr der Kopf des Mannes hoch und ich sah in zwei große dunkle Augen, die erstaunt aufgerissen waren.
„Sybille“, sagte der Mann und sprang auf. Merkwürdig groß erschien er mir jetzt. Er trat auf mich zu, nahm meine Hände in seine und sagte mit einer dunklen warmen Stimme:
„Gütiger Himmel, Sybille, dich schickt ein Engel.“ Ich überließ dem Fremden überrascht meine Hände und konnte den Blick nicht von diesen braunen leuchtenden Augen lösen.
„Kennen Sie den Mann?“ fragte mich der ältere Beamte. Ich schüttelte langsam den Kopf. Nein, ich kannte den Mann nicht, und dennoch erschien er mir seltsam vertraut. Diese Augen, woran erinnerten mich diese Augen? Und plötzlich wusste ich es, vor mir stand Manfred Weingart, meine erste große Liebe. Wie lange lag diese Geschichte zurück? Ich war gerade 40 geworden, also hatte alles vor 28 Jahren begonnen…

Manfred Weingart, der Schwarm aller Mädchen. Er war 14 Jahre alt, als er an unsere Schule kam, und er hatte die schönsten braunen Augen der Welt. Ich war damals die mickrigste in der Klasse und genau so verliebt wie alle anderen. Und, oh Wunder, er hatte anscheinend nur Augen für mich dürres langbeiniges Geschöpf, das noch Zöpfe tragen musste, weil seine altmodische Mutter nicht erlaubte, sie abschneiden zu lassen. Und doch geschah das Unfassbare, Manfred wartete eines Morgens ausgerechnet auf mich, um mit mir zur Schule zu gehen, und des Mittags brachte er mich, die mickrige Sybille nach Hause. Und nicht genug mit diesem einen Mal, nein, von nun an wartete er jeden Morgen und jeden Mittag auf mich. Meiner besten Freundin Ulla, die leider eine andere Schule besuchte, musste ich täglich darüber berichten, und sie freute sich mit mir
So ging es eine ganze Weile, bis ich eines Tages in der großen Pause zufällig und unbemerkt ein Gespräch zwischen meinem Schwarm Manfred und unserem Nachbarjungen Kurt Pauls mit anhörte.
Kurt war vorher mein ständiger Schulbegleiter gewesen, und jetzt natürlich abgeschrieben.
„Wenn du noch einmal auf Sybille wartest, schlage ich dir die Zähne ein, du Lackaffe“, schrie Kurt Manfred an. Ich wollte mich gerade einmischen, da sagte Manfred grinsend:
„Deine Sybille kannst du wieder haben, die interessiert mich doch gar nicht. Sie hat auch ihren Zweck erfüllt, denn nun bin ich endlich mit ihrer Freundin Ulla zusammen, pah, was soll ich denn mit der kleinen Sybille“, weiter kam er nicht, denn mein Freund Kurt riss ihn zu Boden und drosch wild auf ihn ein. Ich aber schlich wie ein geprügelter Hund von dannen.
Einige Jahre waren vergangen, ich hatte nach der mittleren Reife eine kaufmännische Lehre absolviert und danach mit Hilfe meiner Eltern meinen großen Wunsch realisieren können, ich besaß ein kleines Modegeschäft, das sehr gut ging und das meine ganze Zeit und Kraft in Anspruch nahm.
Auf einer Modemesse in Düsseldorf traf ich eines Tages, Zufall oder nicht, Kurt Pauls, der in der gleichen Branche tätig war. Er vertrat als selbstständiger Handelsvertreter ein renommiertes Modeunternehmen, dessen Ware auch ich in meinem Geschäft erfolgreich verkaufte
Kurt war begeistert von meinem kleinen hübschen Laden und wohl auch von mir, denn er meinte, ich sei eine richtige Schönheit geworden, kurzum, wir trafen uns immer häufiger und an meinem 25.ten
Geburtstag heirateten wir. Doch unser großer Wunsch, recht bald eine richtige Familie zu gründen ging nicht in Erfüllung. So behielt ich mein Geschäft und kümmerte mich bald mehr darum, als um meine Ehe.
Irgendwann merkte ich, dass Kurt seine Geschäftsreisen stets in Begleitung irgendwelcher Sekretärinnen antrat, und bald war ich sicher, dass er mich nach Strich und Faden betrog. Doch ich überging das einfach und flüchtete mich erneut in meine Liebe zu Manfred Weingart, obwohl ich ihn seit der Schulzeit nie wieder gesehen hatte.
So endete nach 14 Jahren meine Ehe, und ich nahm wieder meinen Mädchennamen an.


Ja, und nun stand ich in einer fremden Stadt dem Mann gegenüber, den ich seit vielen Jahren liebte.
Er hielt meine Hände, schaute mich mit seinen wunderschönen braunen Augen an, und sagte mit seiner dunklen einschmeichelnden Stimme:
„Dein Name ist Sybille Weyrich? Heißt das, du bist geschieden?“
Ich konnte nur nicken, und während ich darauf wartete, dass er mich endlich küsste, sah ich plötzlich meine Zukunft hell und klar vor mir.

Ein Jahr ist seit jener Begegnung vergangen und während ich diese Zeilen niederschreibe, geht die Tür auf und mein Mann kommt herein.
Oh ja, ich liebe ihn von ganzem Herzen, und auch mein sehnlichster Wunsch ist endlich in Erfüllung gegangen, wir haben eine kleine Tochter, acht Wochen ist sie alt und bildhübsch. Für unsere kleine Julia schreibe ich auch diese Geschichte auf. Wer weiß, vielleicht hilft sie ihr irgendwann, ähnliche Fehler zu vermeiden?
Manchmal frage ich mich zwar, was wohl Manfred Weingart damals auf dieser Polizeiwache gemacht hat, aber im Grunde ist es mir herzlich egal. Obwohl ich ihm eigentlich dankbar sein müsste, denn als er mich tatsächlich küssen wollte, riss ich mich los, rannte auf die Straße bis zur nächsten Telefonzelle und rief heulend Kurt an. Meine Münzen reichten gerade aus, um ihm mitzuteilen, in welcher Stadt und Straße ich mich befand. Ach ja, bevor es „Klick“ machte konnte ich noch „Ich liebe, liebe, liebe Dich“, in den Hörer rufen. Zum ersten Mal übrigens.
Immer noch heulend saß ich dann in meinem Golf und wartete. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, und ich sah Kurts Wagen heranbrausen Als er mich entdeckte, ließ er ihn mit laufendem Motor und offener Tür mitten auf der Straße stehen und war mit wenigen Schritten bei mir.
„Endlich, du Verrückte“, schrie er und riss mich in seine Arme.
Es ist wohl überflüssig zu erwähnen, dass er seine Geschäftsreisen nur noch mit mir oder alleine antritt?


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Tag der Veröffentlichung: 15.10.2009

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