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Sie stand am offenen Fenster und wollte noch eine Zigarette rauchen bevor sie ins Bett geht. Der Schnee hatte angefangen zu schmelzen und rannte in kleinen Bächen die Straße runter. Der Frühling bahnte sich seinen Weg, langsam, aber unausweichlich. Die kleinen Zeichen waren zu erkennen und von Tag zu Tag wurden sie sichtbarer. Es war Anfang März. Die letzte Nacht tobte sich ein Sturm durch die Wälder der oberhessischen Vulkanlandschaft und hinterließ an diesem darauf folgenden Abend einen klaren Himmel. Ihr Teich war noch zugefroren und ließ den harten Winter noch erkennen. Die Straße zog sich an ihrem Haus vorbei, jedoch breitete sich Stille friedlich in ihrem Dorf aus. Die Luft war frisch und roch noch nach Schnee. Die Stille tat ihr gut und sie wusste, dass sie in sich ruhte. Sie weiß nicht wie lange sie da gestanden hatte, bevor sie den Vollmond bemerkte.

Der Mond stand rund und in voller Größe, als er ihr auffiel. Klar und hell ging er über dem Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite auf. Die Sterne reihten sich in dem Bild ein, das wie gemalt erschien. Er ist in all den Jahren ihr Freund geworden, hatte er ihr doch immer gezeigt, dass er verlässlich immer wieder kommt. Auf ihn konnte sie sich verlassen, konnte ihm trauen, dass er sie nicht verlässt. Zu viele Erinnerungen und Schmerzen hatte sie auf ihrem Weg zum Heute machen müssen, dass sie noch vertrauen konnte.

Ihre Gedanken wanderten in Raum und Zeit, sie fragt sich, wie oft er nun schon seine Bahnen gezogen hatte, seit der einen Nacht im Juni. Sie erinnerte sich an diesen einen Vollmond, der ihr Leben verändern sollte. Damals schien er ihr auch so nah zu sein und es kam ihr damals vor, als redete er mit ihr. In dieser Nacht provozierte er sie und ihre ganzen Gefühle kamen mit voller Wucht. Es war niemand mehr da, mit dem sie sonst hätte auch streiten können.

In dieser Nacht vor fast fünf Jahren wollte sie nicht glauben, dass er so einfach am Himmel aufstieg und so weiter machte, wie alle die Jahrtausende vorher. Konnte er nicht verstehen, dass für sie die Zeit stehen geblieben war? Es war die Nacht, in der sie über ihr Überleben nachdachte. Nicht wusste, ob sie all dies alles überleben würde oder dies überhaupt wollte. Sie spürte, dass sie innerlich gestorben war. Sie konnte in dieser Nacht keine klaren Gedanken fassen und fühlte nur eine unbeschreibliche Wut, dass sich die Welt einfach weiter drehte.

Sie sah hinüber zu ihrem Bett, indem sich ihre Kinder in den Schlaf geweint hatten und hatte Angst vor dem Morgen. Wo sollte sie diese Kraft her nehmen, den Kindern in dieser Zeit eine Mutter zu sein. Sie spürte, dass dies die schwierigste Aufgabe in ihrem Leben werden würde. Sie war innerlich tot, hatte sie doch das verloren, was das Wichtigste in ihrem Leben war. Ihre Kinder waren das Ergebnis ihrer Liebe, aber was war all dies ohne diese Liebe? Wie konnte sie ihnen gerecht werden? Sie dachte darüber nach, wie sie arbeiten sollte und dabei für die Kinder da sein konnte. War ihr Beruf nicht doch das Umherziehen von einem Ort zum Nächsten, an dem sie ihre Seminare gab. Wie sollte sie das alles unter einen Hut bringen. Er fehlte ihr nicht nur im Herzen und in ihrer Seele, sondern auch in ihrem „Familienunternehmen“. War er nicht der, der die Rolle der „Mutter“ für ihre Kinder übernommen hatte? Ihr Leben hatte ein Fundament gehabt, das nun eingestürzt war. Als sie auf die Uhr in ihrem Schlafzimmer blicke, bemerkte sie, dass sie um 18:30 Uhr stehen geblieben war.


Ihre Gedanken kreisten zu den anderen Menschen, die sie kannte. Dachte an Freunde, Bekannte und Verwandte und ihr grauste es vor der Vorstellung, jemals wieder jemanden zu begegnen. Sie wollte niemanden sehen. Keine Blicke, die Mitleid ihr entgegen brachten, keine Fragen „wie es ihr ginge“ auch gemeinsames schweigen würde nicht erträglich sein. Sie spürte die Angst vor anderen Menschen und die Blicke fürchtete sie. Andere sahen in ihr immer eine starke unabhängige Frau, sie selbst sah das nicht so. Sie konnte nur so starkes sein, wie ihr Mann sie unterstützte. Er hatte immer an sie geglaubt. Sie war kein einfacher Mensch und ihre Schwächen gab sie nie Preis.

Wie würden sie sich verhalten müssen, war sie doch jetzt Witwe. Es war verwunderlich, aber sie stellte sich diese Frage. Die Menschen im Dorf kannte sie gut, sie wohnte schon bereits 15 Jahre dort und wusste, was erwartet wird, aber sie wusste auch, dass sie anders war und nicht der Moral anderer unterliegen wollte, die sie nicht verstand. Das hatte sie nie getan. Kurz überlegt sie, ob sie überhaupt was Schwarzes anzuziehen hat und wie lange sie es tragen müsste, bevor sie zu ihrem Kleiderschrank ging und wie ferngesteuert eine schwarze Leggings und einen schwarzen Rollkragenpullover heraus holte und anzog.

Wie oft hatte sie sich mit Ihrem Mann über die schwarze Trauerkleidung unterhalten, die er an seiner Mutter so verurteilte. Seine Mutter konnte ihre Trauer um ihren Mann nie richtig überwinden, zuviel hatte sie in ihrem Leben erlebt. So wollte sie ihr Leben nicht führen, sie wollte irgendwann wieder Leben, wollte irgendwann auch wieder glücklich sein dürfen. Sie wurde bei dem Gedanken unsicher und fühlte, dass die Kleidung auch Schutz bedeuten würde. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn mit ihr, als ihr beim Anziehen auffiel, dass sie so oft über seinen Tod gesprochen hatten. In einem Gespräch unterhielten sie sich, dass er sich von ihr wünscht, dass sie nie alleine bleiben sollte wenn er irgendwann einmal sterben müsste. Er sage ihr immer, dass er früh sterben würde, dass wäre in seiner Familie so, da wurde ihr bewusst, dass sie erst 36 Jahre alt war.

In ihrem Dorf gab es bestimmte „Regeln“, was man tut und wie man etwas macht, wenn gestorben worden ist. Ihr waren Regeln, die einfach nur im Raum standen und es keine Begründung dafür gab, nicht wichtig und war immer Stolz ihren eigenen Weg gefunden zu haben. Er war katholisch und wollte eigentlich überwechseln. Sie entschloss sich ihn evangelisch zu beerdigen und würde Ihre Freundin, die Pfarrerin der Gemeinde war, fragen, ob dies möglich ist. Auch wollte sie, dass sie als ihre Freundin die Beerdigung machen würde. Für sie stand fest, dass er nicht katholisch beerdigt werden sollte, da er diese Kirche durch ihre geschichtliche und gesellschaftliche Moral so verurteilte.

Es gehörte zu den Regeln im Dorf, das die Nachbarn das Grab ausheben und sich anschließend zu betrinken. Ihr war von Anfang an ganz klar, dass sie keinen Alkohol am Grab haben wollte und beschloss für sich, dass sie seine Freunde fragen würde, das Grab zu machen. Ihr Schicksal ihrer Familie war kein Grund, dass andere sich betrinken. Auch der Gesangsverein sollte auf keinen Fall singen, da er das immer als unecht empfand. Sie wusste aus einem langen Gespräch mit ihm, dass er verbrannt werden wollte und es war ihr klar, dass sie ihn bei sich haben wollte, was nur auf diesem Wege ging.

Ihre Gedanken wechselnden. Sie fragte sich, warum sie ihn nicht die Nacht noch bei ihr lassen konnten. Er hätte doch noch einmal auf seiner Seite im Bett neben ihr liegen können. In ihr kam Wut an die Oberfläche, als sie daran dachte, dass andere meinten zu wissen, was für sie gut wäre und über ihren Kopf entschieden haben, obwohl sie kein Recht dazu hatten. Selbst die Decken, in die er gehüllt war und seine Sportkleidung hatten sie zum Waschen mitgenommen. Sie hätte ihn noch so gerne gerochen, aber es nichts mehr vom ihm da. Die Lügen am Telefon auf dem Heimweg saßen wie ein Stachel in ihrer Brust. War es nicht ihr Vater, dem sie so vertraute, von dem sie nie geglaubt hätte, dass er sie, zu ihrem Schutz, so hintergeht. Ihr Mann war schon abgeholt worden, als sie nach Hause kam. Sie wusste nicht dass er bereits tot war, aber sie hatte es geahnt.

Die Erinnerung an den Anruf kam ihr wieder in den Sinn, er kam gegen 18 Uhr. Sie gab ein Seminar in Bielefeld, das für diesen Tag gerade zu Ende gegangen war. Das alles konnte sie noch nicht begreifen. Es war alles erst acht Stunden her und nun sah die Welt komplett anderes aus für sie.

Ein Nachbar rief sie im Seminar an und sagte ihr, dass ihr Mann reanimiert werden würde. Sie verstand zu diesem Zeitpunkt die Nachricht nicht wirklich, nur dass sie schnell nach Hause kommen sollte. Am ganzen Körper fing sie an zu zittern und wusste nur noch, dass sie jetzt sofort fahren musste. Sie ließ alles stehen und liegen, sagte niemand ein Wort. Sie hatte Angst, man würde sie nicht fahren lassen und setze sich in Panik ins Auto und fuhr los, bevor jemand ihre Angst bemerkte. Pausenlos hatte sie ihr Handy am Ohr, rief ihren Vater an, der selbst in den schwierigsten Situationen einen klaren Kopf behalten konnte, und bat ihn zu ihrem Haus zufahren und sie von da aus anzurufen. Sie versuchte den Anruf des Nachbarn zu verstehen, aber ihre Seele verbot ihr den Zugang zu dieser Nachricht. Sie fuhr, wie sie noch nie Auto gefahren war. Ihr Vater rief sie an und sagte ihr, dass er leben würde und dass alles wieder gut werden würde. Als sie ihrem Vater einige Telefongespräche später sagte, dass sie den Notarzt sprechen wollte, wusste sie, dass es nicht so war. Ihr war in dem Moment klar, dass es um Sekunden geht, um ihn noch zu sehen.

Diese Worte vergaß sie nie mehr, dachte sie sich, als sie ihre zweite Zigarette am Fenster rauchte und in den Vollmond sah. Er kannte ihre Geschichte nun seit Anfang an und schwieg. Ein Schweigen, wie es unter Freunden oft ist, wenn alles gesagt ist. Sein Anblick gab ihr innere Ruhe.

Ihre Gedanken folgten wieder der Vergangenheit zu diesem Abend im Juni. Auf der Autobahn am Kasseler Dreieck hatte sie plötzlich das Gefühl ihr Mann säße im Auto, sie spürte da plötzlich seine Nähe und wusste dass er kam, um ihr zu sagen, dass er gehen muss. Sie haderte mit Gott, das er ihr alles nehmen durfte, aber nicht ihn, ihn nicht. Die Sonne ging im Westen mit einem atemberaubenden Sonnenuntergang in tiefen Rottönen unter. Die Wolken standen sanft wie angemalt in rosatönen am Himmel. Alles schien außerhalb ihres Autos so friedlich. Nur ihr flossen die Tränen in Strömen über ihr Gesicht und ihre Angst war unermesslich. Ihr Auto fuhr ihr nicht schnell genug.

Im Auto erinnerte sie sich an die Konfirmation ihrer Tochter, die erst im April gewesen war. Es lagen in der Kirche Karten aus, auf denen stand „lieber Gott, was ich dir schon immer sagen wollte….“ Sie trug ein, dass sie sich für ihren Mann bedankte. Band nach dem Gottesdienst die Karte an einen Luftballon und ließ ihn in den Himmel steigen. War es dass, was Gott von ihr wollte, dass sie alles hatte und von nun an alleine weiterleben sollte, weil sie nun laufen könnte? War er nicht mehr nötig in ihrem Leben? War ihr Leben zu gerade gelaufen und nun musste sie die Richtung wechseln?

Ihr Vater fuhr ihr entgegen. Sie hatte nur noch 10 km bis nach Hause, als er ihr entgegen kam. Er stieg aus dem Auto aus und sie ging, nachdem sie ihren Wagen abgestellte, auf ihn zu. Ihr Vater nahm sie schweigend in den Arm und weinte das erste Mal in ihrem Leben mit ihr. Sie konnte sich nicht daran erinnern ihn jemals weinen gesehen zu haben. Wortlos stiegen sie in ihr Auto. Kurz vor ihrem Haus versprach er ihr, wenn sie einen Wunsch hätte, würde er alles dafür tun, um ihn zu erfüllen. Im Radio lief das Lied „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer“.

Es war das Lied, das sie gehört hatte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, bevor sie zum Seminar fuhr. Es war zwei Tage bevor all dies geschah. Sie reiste normalerweise sonntags zum Seminar an, in dieser Woche wollte sie unbedingt erst montags morgens fahren und mit ihm die Morgenstunden noch verbringen. Nach dieser Woche würden sie ja drei Wochen Urlaub haben und könnten sich lange sehen, sagte er ihr. Aber sie wollte ihn nicht verlassen und blieb. Sie liebten sich noch innig an diesem Montagmorgen. Danach ging ihr Mann wie immer zum Abschied mit ihr zum Auto, nahm sie in den Arm und küsste sie.

Als sie los fuhr, sah sie in den Rückspiegel und ein letztes Mal sah sie ihn winken. Sie legte die CD ein und hörte das Lied. Sie erinnerte sich daran, wie sehr sie damals im Auto weinte, weil sie Angst hatte ihn zu verlieren, sie hatte immer Angst gehabt ihn zu verlieren. Heute kam es Ihr vor, als ob sie eine Vorahnung gehabt hatte, wusste, dass sich ihr Weg in dem Moment trennen würde.

Mit ihrem Vater fuhr sie in ihr Elternhaus, wo ihr Kinder, Ihre Mutter, Schwiegermuter und die Geschwister ihres Mannes auf sie warteten. Ihr Sohn kam ihr weinend an der Tür entgegen und sagte nur zu ihr:“ Mama ich habe Papa umgebracht, ich habe nichts tun können.“ Sie nahm ihn weinend in den Arm und versuchte ihn zu trösten, was unmöglich war, aber das begriff sie erst Jahre später. Sie fuhren anschließend gemeinsam zur Trauerhalle.

In der Trauerhalle sie hatte ihn noch kurz sehen können. Ihr Vater hatte sie zu ihm gefahren. Er lag im Sarg und sie küsste ihn auf den Mund. Wie gerne wäre sie mit ihm alleine gewesen, hätte ihn nicht mehr loslassen wollen und sich einfach zu ihm gelegt. Es war so unfassbar, dass er nicht mehr aufstand. Ihre Kinder waren mit gekommen und sie musste sich mit ihrer letzten Kraft zusammen reißen.

Sie sah das Bild wieder vor sich, wie er dort friedlich lag. Als ob er einfach eingeschlafen war. Ihre Kinder schliefen unruhig in ihrem Bett. Sie hatte dem Arzt verboten, den Kindern Beruhigungstabletten zu geben. War sie nicht davon überzeugt, dass Tabletten nicht den Schmerz nehmen können, den wir ertragen müssen, wenn so etwas passiert? Sie wusste, dass Betäubung nur Selbstbetrug ist. Der Tod gehört bei allem Schmerz zum Leben und das mussten jetzt auch ganz ohne Drogen die Kinder lernen. Doch nun machte sie sich doch leichte Vorwürfe. Wäre es vielleicht einfacher für die zwei gewesen, fragte sie sich und überlegt in dem Moment was er getan hätte, wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre. Sie musste schmunzeln. Er hätte dem Arzt nicht widersprochen, da war sie sich sicher.

„Es ist vorbei“ lief in der Bandschlaufe von Rosenstolz auf ihrem CD Player. „alles ist noch so, wie es früher war….eben noch warst du ein Teil meiner Welt …“ Sie hatte es auf Replay gestellt und merkte wie die Tränen sich ihren Weg in die Freiheit suchten. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so geweint. Sie war so müde vom Weinen und fand keinen Schlaf und wusste dass dieses Lied für sie geschrieben wurde. Es half ihr ihre Gedanken auf den Schmerz zu lenken. Sie wälzte sich in ihren Gefühlen, um sich dadurch zu spüren. Mehr spürte sie nicht. Es war alles nicht echt, kam ihr durch den Kopf. Es war noch lange nicht vorbei dachte sie sich und war sich bewusst, dass sie heute gezwungen wurde ein neues Leben anzufangen, dass sie nicht leben wollte.

Der Mond hatte immer noch seine magische Anziehungskraft und sie wollte mit ihm noch einige Zeit verbringen. Sie nahm sich eine Decke und ging in ihr eingehüllt auf ihre Terrasse. Sie setze sich auf ihren Platz. Es war der Platz, an dem sie ihrem Mann nach all den Jahren noch nahe sein konnte. Dem Platz, den sie nach seinem Tod nur zum Schlafen verlassen hatte. Den ganzen Sommer saß sie damals Tag ein Tag aus nur da und schaute in ihren Gartenteich. Drei Wochen vorher hatte er ihr den Gartenteich gemacht, den sie sich schon immer so gewünscht hatte. Vor vier Tagen ließen sie zusammen das Wasser darin ein. Beim Ausgraben des Teiches bekamen sie Streit, er sagte damals zu ihr, dass er ihn nur für sie machen würde, wie Recht er nun haben sollte. Sie dachte über ihr Leben nach und betrachtet ihre Entwicklung, so als ob sie über einen fremden Menschen nachdenken würde.

Sie hatte durch ihren Mann die Liebe kennen gelernt. Für ihre Liebe mussten beide immer kämpfen, was das Band zwischen ihnen immer enger werden ließ. Sie war in seiner Familie nie akzeptiert worden, weil sie anderes war und ein anderes Leben führen wollte, als dass, was man hier auf dem Vulkan lebte. In Ihrer Familie fühlte sie sich oft alleine und unverstanden. Sie war das einigste Mädchen und spürte immer, dass ihr Geschlecht ihr in ihrer Familie im Wege stand. Sie war die zweitälteste und hatte vier Brüder. Oft begleitete sie das Gefühl sich in ihrer Familie beweisen zu müssen und besser sein müsste, wie ihre Brüder. Ihre Mutter hatte wenig Zeit und so fand sie in ihrer Familie nicht den richtigen Platz.

Er begegnete ihr, als sie mit 14 Jahren, nach einem heftigem Streit mit ihren Eltern, sich das Leben nehmen wollte. Einen Plan hatte sie schon, es fehlte nur noch der Mut, den sie sich auf einem Geburtstag antrinken wollte. An einer Wand, neben der Eingangstür vom Partyraum angelehnt, den Cowboyhut ihres Vaters auf ihrem Kopf, rutschte sie immer mehr die Wand runter. Alleine stehen konnte sie nicht mehr, ohne dass sie schwankte. er kam auf sie zu, nahm sie an der Hand, ohne ein Wort zu sagen. Sie war bereits stark angetrunken. Er setze sie auf einen Barhocker und sagte zu ihr, dass er bald wiederkommen würde und sie hier auf ihn warten sollte. Sie kannte auf dem Geburtstag niemand und war nur zufällig hier. Wie hypnotisiert blieb da sitzen und wartete. Er kam nach zwei Stunden wieder, setze sich zu ihr, redete kurz mit ihr und küsste sie. Sie spürte sofort, dass er ihr Mann war.

Es war der erste Kuss und der erste Mann in ihrem Leben, mit dem sie 22 Jahre verbringen durfte. Sie kannte nur die eine Liebe, aber war sich seither sicher, dass diese Liebe einzigartig war. Er lehrte sie zu lieben, sich hinzugeben und zu vertrauen. Sie vertraute ihm blind. Wusste Sie, dass sich ihre Seelen bereits schon sehr lange vorher kannten und sich zu diesem Leben verabredet hatten? Heute glaubte sie daran.

Sie dachte einige Zeit auf der Terrasse darüber nach und steckte sich die vierte Zigarette in der Nacht an, legte ihren Kopf in den Nacken und sah den Sternen am Himmel zu. Licht, das so lange zu unserer Erde braucht, so lange, dass es das ein oder andere schon in dem Moment nicht mehr gab, ging ihr beim beobachten der Sterne durch den Kopf. Sie liebte die Sterne und dachte an die Geschichte des kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry »….Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können! « Es war bereits schon 23 Uhr und sie lachte den Sternen zurück. Der Mond erschien durch den Abstand der Erde bereits weiter weg zu sein, aber sein Licht erleuchtete noch ihren Garten. Ein Freund ging seinen Weg und zog verlässlich seine Bahn und sie wusste, dass er in seinem Rhythmus immer wieder kommen würde.

An die Liebe glaubte sie immer noch, aber sie wollte nie wieder tief lieben, dass hatte sie sich vor fast fünf Jahren in der Vollmondnacht im Juni geschworen. Sie hatte erfahren, dass so tief und schön eine Liebe sein kann, auf der anderen Seite der Schmerz in der gleichen Dimension kommen wird. Für alles gibt es einen Ausgleich. Davor hatte sie Angst Nie wieder sollte ihr jemand so weh tun können. Damals wusste sie nicht, dass Liebe sonderbare Formen annehmen konnte und unterschiedlich gelebt wurde. Das viele Menschen das suchen und es nie finden würden. Es ist wie mit den Rosen, dachte sie, alle Rosen sind schön, aber es gibt nur wenige, die vollkommen sind.

Sie schaute von der Terrasse runter, neben ihrem Teich auf die einigste rote Rose in ihrem Garten, die ihr so viel bedeutet. Ihre Rose lag noch sanft im Winterschlaf und hatte ihre frischen Blätter zum Schutz vor der frostigen Kälte noch in den Knospen eingepackt. Sie liebt Rosen und ihren Garten, aber diese Rose war etwas Besonderes für sie und sie erinnerte sich in diesem Moment an die Träume von ihm.

In den ersten Monaten nach seinem Tod träumte sie oft von ihm. Ihr fiel dabei auf, dass die Träume mit den Jahren nachgelassen hatten. Am Anfang waren die Träume on ihm sehr zärtlich und sie hatte oft das Gefühl, das er bei ihr ist, ihr zur Seite steht. Nach den ersten zwei Jahren änderten sich die Träume. Ihr Verlangen und ihre Hingabe wurden in den Träumen stärker. Oft ging sie gerne ins Bett, mit der Hoffnung, dass er im Traum zu ihr kam. Sie suchte seine Nähe, seine Liebe in den Träumen. Zunehmend erlebte sie ihn in ihren Träumen oft als abweisend, so als wolle er zu ihr sagen, sie solle ihn nun loslassen. Danach wachte sie oft weinend auf.

Sie schaute wieder zu den Sternen und frage sich, was es bedeutet loszulassen. Sie wurde nachdenklich und bemerkte zu sich selbst, dass Trauer sehr egoistisch ist. Es geht in der Trauer nicht um die Gefühle des Verstorben, es geht um die eigenen Gefühle verlassen worden zu sein. Loslassen würde wohl bedeuten seine Gefühle zu verstehen und mit ihnen leben zu lernen. Es ist wohl die schwierigste Aufgabe im Leben der Menschen zu erkennen, dass niemand anderes für die eigenen Gefühle verantwortlich ist, als man selbst. Das diese Gefühle immer der Teil von uns selbst sind und uns an uns selbst Fragen stellen, die wir uns beantworten müssen. So ist es auch mit der Liebe dachte sie. Die Liebe bleibt, sie steckt in einem selbst. Sie verstand nun die Worte, dass Liebe stärker ist, als der Tod. Diese Liebe würde erst eines Tages mit ihr sterben. Ein Trainer, bei dem sie eine der wichtigsten Entwicklungen in ihrem Leben machte, sagte kurz nach dem Tod ihres Mannes zu ihr: “Er ist nicht mehr da, aber du kannst mit ihm immer reden, denn all seine Antworten stecken in dir selbst.“ Oft hatte sie, wenn der Schmerz wieder heftig kam und das Loch sich wieder öffnete, an diese Worte gedacht und fühlte, den Trost in diesen Worten. Es wurde zu ihrem Strohhalm, den sie dann ergriff.

Im August kurz nach seinem Tod, träumte sie von ihm. Sie lag in seinem Schoß, er streichelte ihren Kopf so wie, so oft und sie redete mit ihm. Er wollte, dass sie ihm was verspricht. Seine Augen schauten in ihre und sie nickte. Er hatte selten von ihr Versprechen haben wollen und sie wusste, dass ihm das wichtig war, was er ihr jetzt sagen wollte. Sein Blick ruhte ruhig auf ihrem Gesicht und sie konnte die Berührungen im Schlaf spüren. Seine Stimme wurde leise, als er sagte, dass er sich wünschte, dass sie den Jakobsweg in Spanien gehen sollte. Sie sollte zu seinem ersten Todestag im kommenden Jahr dort ankommen. Er wolle dies nicht für ihn, sondern für sie. Die Erfahrungen die sie dort machen könnte, würden ihr helfen ihren Weg zu finden. Sie versprach es ihm und wachte auf. Es war 5 Uhr morgens.

Sie stand zu dieser Zeit immer sehr früh auf und ging laufen. Sie versuchte sich immer wieder ihre Seele frei zu laufen. Es machte ihren Kopf freier. Wie oft hatte ihr Mann versucht sie dazu zu bringen, dass sie laufen geht und jetzt lief sie freiwillig jeden Tag und bei jedem Wetter. Ihr Weg ging jeden Tag einen alten Koppelweg hinter ihrem Dorf einen kleinen Hügel hoch entlang, an den vier Windmühlen vorbei und an den Weizenfeldern an der Bundesstraße bog sie einen Feldweg ab zum Friedhof. Hier saß sie auf dem Boden vor seinem Grab und redetet mit ihm. Wenn sie ganz früh morgens auf dem Friedhof, genoss sie die Zeit mit sich und den Gedanken an ihn. Sie mochte die Ruhe da. Auf den Weg zum Friedhof begleiteten sie oft drei Raben. Sie redete immer mit ihnen. Für sie waren es die Boten aus der „Anderswelt“, ein Begriff aus dem Schamanissmus. Für die Schamanen ist die Welt in drei Ebenen eingeteilt und der Rabe kann die Ebenen als einigstes Wesen wechseln. Aber das wusste sie damals noch nicht. Für sie waren die Raben ihre treuen Begleiter seit der Beerdigung. Seit der Urnenbeisetzung brachte sie jeden Mittwoch sieben rote Rosen ans Grab. Das tat sie vier Jahre lang. Für jeden Tag eine Rose. Er hatte ihr immer Blumen gekauft, wenn sie vom Seminar zurück kam, nun kaufte sie ihm welche. Sie liebte es, wenn er ihr Blumen schenkte.

Sie lief an diesem Morgen, wie immer ihren Weg und dachte über ihren Traum nach. Der Morgen war frisch und die Sonne ging im Osten über den Hügeln der Vulkanlandschaft in einem sanften gelbrot auf. Sie war kein Wanderer und schon gar kein Pilgerer. Sie hatte mit dem katholischen Glauben nichts am Hut und verurteilte diesen zu triefst in seiner moralistischen Weltanschauung. Er war in ihren Augen nicht menschlich, zu sehr in schwarz und weiß eingeteilt, er hatte keine Schattierungen. Für sie war Gott keiner der straft, es gab keine Hölle und Sünden erst Recht nicht. Es gab für sie keine Fehler, sondern Aufgaben im Leben, die wir lösen sollen und Weg die wir wählen können. Dass war unsere eigentliche Aufgaben im Leben. Durch unser Leben sollten wir lernen zu entscheiden, welche Wege wir gehen und wenn wir dann an der Pforte stehen, sagen zu können, dass wir unser Leben gelebt haben.

Auch glaubte sie, das man auf ihrem Lebensweg immer wieder Menschen kommen, die ihr den eigenen Spiegel vorhalten und zwar in dem Moment, wo es am meisten schmerzt, davon war sie fest überzeugt.

Sie wusste schon immer, dass er „da oben“ für sie einen Plan hatte, nur verstand sie den im Moment nicht. Woran hätte sie auch sonst glauben können? Es musste einen geben, aber sie war zu klein, zu unbedeutend, als dass sie ihn im Moment verstehen konnte, wenn sie das überhaupt jemals konnte. Er half ihr ja auch gerade in dieser schwierigen Zeit. Gab er ihr doch immer wieder kleine Zeichen, dass sie nicht alleine war. Stelle ihr Menschen an ihre Seite, die für sie wichtig wurden.

Als sie wieder an diesem Morgen im August nach Hause kam, setzte sie sich ins Internet und las über den Jakobsweg. Sie wusste nicht viel über diesen Weg, aber das Feuer begann in ihr zu brennen.

Der Mond war bereits schon im Süden über ihrem Dorf angelangt. Sie sah ihn an und lächelte ihm zu, er wusste was sie denkt, kannte ihren Weg. Ihr war ziemlich kalt geworden und sie entschloss sich jetzt doch erst einmal ein warmes Bad zu nehmen. Sie liebte es heiß zu baden. Es ging ihr beim Baden nicht nur darum sich zu reinigen, vielmehr ging es ihr dabei sich selbst wahrzunehmen, die Wärme zu genießen, sich zu pflegen und ihren Körper zu spüren. Das Baden verband sie immer mit ihrer Großmutter, die es auch zelebrierte zu baden. Nachdem sie das Wasser eingelassen hatte, zog sie sich langsam aus und machte ihre Musik an. Zurzeit liebte sie das Lied „geboren um zu Leben“. Sie stellte es auf Replay, damit es die ganze Zeit spielen konnte. Der Sänger sang in diesem Lied“….du hast mir gezeigt wie wertvoll Leben ist…“. Sie wusste, dass ihr Mann ihr genau dies mit auf ihren Weg gegeben hatte und fühlte Dankbarkeit in ihren Herzen.

Musik ist ihr in den letzten Jahren sehr wichtig geworden. Sie liebte es laut zu singen, auch wenn sie es nicht besonders gut konnte. Sie liebte vor allem in dieser Zeit wehmütige Lieder zu singen, denn da konnte sie ihre Gefühle laut heraus singen. Es war ihr sogar wichtig, denn so konnte sie ihre Gefühle betrachten. Konnte sie benennen durch lautstarkes singen der Lieder und fühlte sich dabei nicht allein.

Es war mittlerweile schon 1 Uhr morgens, als sie in die Wanne stieg. Sie ließ noch heißes Wasser nach und legte dann entspannt den Kopf am Beckenrand ab und sang das Lied mit. Nach einer Weile versank Sie wieder in ihren Gedanken in der Vergangenheit und dem Entschluss den Jakobsweg zu laufen.

Ihre Überlegungen, Sorgen und Gedanken kamen ihr von damals wieder in Erinnerung. Ihre Kinder waren gerade mal 14 und 11 Jahre alt und in neun Monaten wollte sie den Weg gehen. Wenn sie 600 km laufen wollte, würde sie 4 – 5 Wochen nicht zu Hause sein können. Was würden ihre Eltern sagen? Wo könnten die Kinder in dieser Zeit hin? Würden ihre Kinder ihren Wunsch verstehen? Wie egoistisch war dieser Wunsch von Ihr? Sie konnte sich heute noch so lebhaft daran erinnern, wie wenig Kraft sie damals hatte. Sie aß seit dem Tag seines Todes nichts mehr, sie trank nur Buttermilch und hatte in den ersten paar Wochen bereits schon 10 kg abgenommen. Aber sie wusste, dass sie ihn gehen musste.

Als sie in ihrer Familie von ihrem Vorhaben erzählten, bekam sie keinerlei Zuspruch und von einem ihrem Brüder wurde ihr Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Auch glaubte dort nicht wirklich jemand, dass sie ihn wirklich gehen wollte und es tatsächlich durchziehen würde. Sie hatte es ihrem Mann versprochen und dieses Versprechen wollte sie nicht brechen. Sie wusste nicht, was ihr der Weg bringen würde, aber sie wusste, dass sie sich auf ihrem Mann auch nach dem Tod verlassen konnte und vertraute ihm. Eins wusste sie aber auch, sie war kein Wanderer und kein Pilgerer und das der Weg sie an ihre eigenen Grenzen bringen würde. Nur hatte sie damals keine Ahnung welche Grenzen ihr der Weg zeigen würde. Im Internet hatte sie gelesen, dass der Weg einen bricht und dann, wenn man in seinen Schluchten der Seele angekommen ist, langsam wieder aufbaut. Sie dachte sie wäre bereits gebrochen worden, aber der Weg sollte sie lehren die Augen zu öffnen, wenn man ihn nicht mehr sah.

Sie hielt ihr Atmen an und tauchte ihren Kopf in der Badwanne unter Wasser. Nachdem sie nach einem Moment wieder aufgetaucht war, strich sie das Wasser mit ihren Händen aus dem Gesicht und legte sich zurück. Sie wusste, dass sie nie den einfachen Weg in ihrem Leben gegangen war. Aber ihr war immer wichtig, dass sie nicht in schon bestehenden Spuren laufen wollte, denn dann würde sie in ihrem Leben keine eigenen Spuren hinterlassen und die wollte sie hinterlassen, dass stand fest.

Sie genießte immer die Zeit mit sich und ihrer Badewanne, trocknete an ihrem Handtuch die Hände ab und zündetet sich die nächste Zigarette an. Der Blick aus dem Badezimmerfenster verriet ihr, dass der Mond schon sehr weit westlich stehen musste. Seltsam dachte sie, als ihr auffiel dass sie immer beobachtet, wie die Sterne, der Mond und die Sonne am Himmel standen. Sie orientierte sich immer an den Himmelsrichtungen, beobachtet dabei die Schatten und konnte an der Stellung der Sonne ungefähr die Uhrzeit bestimmen. Schon in ihrer Kindheit hatte sie immer das Bedürfnis sich daran zu orientieren und wusste immer, wie sie nach Hause kam. Sie nannte es immer ihr „Hänsel und Gretel Syndrom“.

Als Kind war sie ein Einzelgänger, fühlte immer dass sie anderes war. Oft hielt sie sich stundenlang draußen in der Natur auf. Meistens war sie irgendwo am Wasser zu finden, fing Frösche, Molche und lernte woher der Feuersalamander seinen Namen hatte, als sie eines Tages einen auf ihrer Hand hatte. Einen Teil ihrer Kindheit verbrachte sie auf dem oben auf dem Vulkan. Dort gab es nicht viel, das nächste Dorf war weit weg und zum spielen waren da nur ihre Brüder aber viel konnte sie mit ihnen nicht anfangen. Sie wollte in ihrer Familie immer dazugehören, doch stand sich selbst dabei im Weg. Sie zog mit den Schafhirten durch die Landschaft und ab und zu kam eine Malerin, die sie dann an schöne Plätze führen konnte.

In der Schule war sie ein Rebell und das erfolgreicher wie all ihre Brüder. Es gab nur wenig Menschen, die an sie heran kommen konnten, genauer gesagt gab es nur eine Handvoll Menschen, die sie verstanden. Eine enge Bindung konnte sie mit ihrer Grundschullehrerin eingehen. Bei ihr hatte sie das Gefühl angenommen zu werden, so wie sie war und diese Bindung hielt noch heute nach 33 Jahren an.

Sie zog an ihrer Zigarette und lies ihr Leben Revue passieren. Ihr kam ein schmunzeln über ihr Gesicht und dachte in diesem Moment, dass sie wahrhaftig ein Rebell selbst heute noch war. Ihr kam die Beerdigung in ihre Erinnerung. Nach dem Tod hatte sie Angst Menschen zu begegnen, konnte nicht in fremde Augen sehen und musste sich doch damit auseinandersetzen seine Beerdigung durchzustehen.

Sein bester Freund kam sie besuchen und sie sprachen über dir Beerdigung. Sie bat ihn die Lieder für diesen Tag mit auszusuchen, weil sie wusste, dass er ihn am Besten kannte. Vier Lieder für diesen Tag wollten sie bestimmen. Er wusste, dass ihr Mann das Lied „Dust in the Wind“ von Kansas auf einer Beerdigung eines Freundes für eine gute Wahl hielt und so fiel die erste Entscheidung. Die Frau seines besten Freundes schlug das Lied „Du erinnerst mich an Liebe“ von Ich + Ich vor, da es genau die Liebe beschreibt, die beide so verbunden hat. „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer stand für sie von vornherein fest, da es das Lied war, dass sie mit seinem Tod verband. Ihr Mann hatte ihr damals die CD mitgebracht und ihr die Geschichte zu der CD erzählt. Auch war klar, dass es nach alldem ihr Lied war. “When a blind man cried“ von Deep Purple war eins seiner Lieblingslieder und gehörte so zu seinem Abschied. Als Kirchenmusik wählten sie „Wenn das Brot, das wir teilen…“ es war das Lied der Konfirmation ihrer Tochter und ihre Tochter wünschte sich das Lied.

Die Beerdigung sollte nicht so sein, wie sie hier im Dorf abgehalten wird. Sie wollte Ihre Liebe ihm gegenüber zum Ausdruck bringen. So wie es ihm gegenüber würdig war. Sie wusste, dass sie es nicht sehen konnte, dass man Erde in sein Grab warf und so schnitt sie alle Rosen in ihrem Garten ab und gab die Blüten in einen Korb, die dann statt Erde das Grab bedecken konnten. Die Leichenhalle musste sie zwei Stunden vor der Beerdigung alleine putzen, was sie bitterlich verletzt hatte, dass ihr bei den Vorbereitungen niemand aus seiner Familie half. Aus Wut stellte sie auch nur drei Stühle, für sich und ihre Kinder in der Trauerhalle hin.

Wusste sie doch selbst nicht, wie sie all dies an diesem Tag schaffen sollte und es war doch allein der Wunsch ihrer Schwiegermutter die Beerdigung für alle offen zu machen. Am meisten fürchtete sie die neugierigen Blicke der anderen, wie sie sich während der Beerdigung verhalten würde. Auch die Dorfgespräche nach der Beerdigung, die anschließend die Beerdigung „bewerten“ würden, machte sie zornig. Es war ihr egal was andere über sie redeten, nicht aber über ihn und ihren Kindern. All dies wollte sie nicht. Sie wollte nur die an seinem Grab haben, die auch mit ihnen zu verbunden waren. Dies alles hatten sie mit ihr zwei Tage zuvor mit der Pfarrerin besprochen und gab dann doch ihrer Schwiegermutter nach.

Sein Onkel und seine Tante kamen vorher um sie zu besuchen. Damals wunderte sie sich, denn Besuch von ihnen hatte sie noch nie gehabt. Die Familie ihres Mannes hielt immer Abstand zu ihnen und man sah sich nur einmal im Jahr auf dem Geburtstag ihrer Schwiegermutter. Jetzt wollten sie an der Beerdigung teilnehmen und dafür sprechen, dass sie sich damit einverstanden erklärte, dass sie kommen könnten. Sie konnte und wollte ihnen nicht verbieten zur Beisetzung zu kommen und war erstaunt, dass diese Frage im Raum stand.

Das wichtigste war ihr, dass sie die Urne selbst zum Grabe tragen würde und sie ihn hinab lassen wollte. Der Bestatter versuchte erfolglos ihr das auszureden. Sie stellte einen Beamer auf und ließ Bilder von ihm laufen, die neben der Urne an der Wand der Trauerhalle sichtbar waren. Das Wetter war wunderschön und die Sonne stand im Südwesten. Es schien als wäre die Welt in Ordnung.

„…Ihr beide habt euch ergänzt: du der forsche Teil, der auch mal über das Ziel hinausschießt, und er eher der ausgleichende Teil, die Ruhe. Du konntest so forsch sein, weil ja sein Ausgleich da war und er konnte ausgleichend sein, weil ja deine Power da war…..ihr habt euch gegenseitig stark gemacht….“ sprach die Pfarrerin ihre Traueransprache, sie kannte beide sehr gut, war ihnen in den letzten Jahren eine gute Freundin geworden. Oft saßen sie vor seinem Tod zusammen in der Küche zum Kaffeetrinken, während die Kinder gemeinsam miteinander spielten. Sie wusste wie fest das Band zwischen ihr und ihrem Mann gewesen war und sie stand nicht nur als Pfarrerin, sondern als Freundin am Grab, was ihre Stimme wären der Beisetzung verriet.

Als sie danach die Urne ihres Mannes holen wollte, musste sie erst mit dem Bestatter kämpfen, der sie nicht mit der Urne gehen lassen wollte. Sie sagte aggressiv zu ihm, dass sie jeden Weg mit ihrem Mann gegangen ist, dass sie jedes Schicksal mit ihm getragen hat und dass sie jetzt dies auch tun würde und sie niemand davon abhalten konnte. Ihr Blick musste Funken gesprüht haben, denn der Bestatter war sichtlich eingeschüchtert.

Sie nahm danach einfach die Urne klammerte sie fest an ihre Brust und ging langsam hinter der Pfarrerin her zum Grab. Sie hielt die Urne wie den wertvollsten Schatz der Welt an ihrer Brust. Ihr kam dieser Weg wie eine Ewigkeit vor, den sie mit Ihm schritt. Raben krähten laut oben auf den Pappeln hinter der Friedhofsmauer. Es war als wollten sie ihr sagen, dass sie da waren und auf sie achten würden. Ihr Blick sank jedoch auf dem Boden und sie weinte innerlich, damit keiner ihre Schwäche sah. Sie war bereits dabei zu erkennen, dass man auch innerlich weinen kann.

Sie wusste dass ihre Entscheidung richtig war. Am Grab angekommen, lies sie die Urne nach der Traueransprache der Pfarrerin hinunter. Es war der Moment, an dem der Schmerz zur Wirklichkeit wurde, an dem ihr bewusst wurde, dass sie anfangen musste loszulassen und wenn es hier in diesem Moment bedeutete, die Seile aus ihrer Hand zu gleiten zu lassen, die sie so fest hielt. Es kostete sie unendliche Kraft die Hand zu öffnen. Als sie dann endlich ihre Hand öffnete brauch alles über sie ein. Was wäre sie jetzt so gerne weggelaufen irgendwohin, wo sie hätte vor Verzweiflung weinen können. Nun sah sie all die Gesichter, denen sie aus dem Weg gehen wollte. Spürte die Blicke, denen sie ausweichen wollte und in ihr kam Scham hoch, dass man sie hier so schwach sah. Du musst jetzt stark sein, hatte man zu ihr am Grab gesagt. Wann, fragte sie sich, wann durfte sie jemals wirklich schwäche zeigen, wenn nicht jetzt? Aber die Erlaubnis konnte sie sich nur selbst geben.

Mit ihren Kindern hatte sie festgelegt, dass sie nicht schwarz tragen müssten. Beide wollten dies nicht. Sie selbst trug ein schwarzes Kleid. Sie fühlte sich mittlerweile in schwarz wohler als in anderer Kleidung. Sie konnte nun ihre Schwiegermutter verstehen, die so lange nach dem Tod ihres Mannes schwarz getragen hatte.

Die schwarze Kleidung bedeutet für den Trauernden Schutz, er symbolisiert nach außen, dass das Leben für einen noch nicht weiter geht. Das Leben kann noch nicht so angenommen werden und die Seele hinter der Kleidung ist noch zu sehr verletzt. Auch wäre Farben in der Kleidung nicht erträglich gewesen. Sie konnte nun den Brauch der schwarzen Kleidung verstehen, für sich annehmen und war dankbar dafür.

Zum Tröster lud sie nicht ins Dorfgemeinschaftshaus ein, wie es üblich war. Sondern entschied sich, diesen in ihrem Garten abzuhalten. Sie wusste, dass ihr Haus nur die betreten, die sie mochte. Es gab nur Kaffee und Kuchen. Alkohol zur Beerdigung fand sie schon immer abstoßend und konnte es nicht verstehen, wie man sich da betrinken kann. In Ihrem Dorf heißt dieser Brauch beim „Leichenschmaus“ „Die Haut versaufen“. Das hätte sie nicht ertragen. Ihr Vater kam etwas später zum Tröster. In der Hand hielt er den Karton. Sie erkannte den Karton und da wusste sie, dass ihr verstorbener Mann seinen Platz in ihrer Nähe haben würde und bei ihr war. Es war ein Gefühl von Gewinnen und sie triumphierte innerlich. Ihr Vater hatte ihr ihren Wunsch wirklich verwirklicht, so wie er es in der Nacht als ihr Mann starb, versprochen hatte.

Die Zigarette war fertig geraucht und sie drückte sie im Aschenbecher, der am Beckenrand stand, aus. Das Wasser war kälter geworden, sie lies heißes Wasser nach. Sie versank ihren Kopf wieder im Wasser und tauchte ab. Die Bilder waren nach all den Jahren noch so real und sie war erstaunt, dass sie sich an die Worte erinnern konnte. Sie dachte darüber nach, dass sie heute noch seine Sachen hat. Es war noch alles da, selbst der Rasierpinsel im Bad stand noch unter dem Spiegel. Sie konnte ihn von der Wanne aus sehen.

Ihre Gedanken stellten sich in dem Moment die Frage, warum sie bis heute noch alles von ihm aufgehoben hatte. Es war wohl der letzte Rest, den sie nicht losgelassen hatte, an dem sie festhielt. Brauchte sie noch materielle Erinnerungen? Ihr kam es die Jahre als Verrat vor, als sie darüber nachdachte. Was würde sie denn verraten? Würde er das so empfinden, wenn er ihr zusähe? An was hat sie festgehalten? Es war, wie eine Art „Versicherung“, dass es vielleicht nicht ganz endgültig ist und hatte darüber noch Macht. Sie wusste aber nun auch, dass die Zeit kommen wird, in der sie auch diesen Schritt machen würde. Ihr Vater sagte immer „Alles hat seine Zeit“. Sie mochte den Spruch nie hören, aber er hatte wie immer in solchen Sachen recht. Es war bereits 2 Uhr morgens und sie entschloss sich nun ins Bett zu gehen. Sie stieg aus der Badewanne aus trocknete sich ab und sah dabei in den Spiegel. Ihr Gesicht hatte sich in den letzten Jahren verändert. Es war schmaler geworden, irgendwie weiblicher. Bis heute hat das Schicksal ihr Gesicht nicht zeichnen können.

Sie saß mit ihrem Mann oft in Cafes zum Frühstücken. Zusammen beobachteten sie dann die Menschen auf der Straße. Sie sahen sich Gesichter an und interpretierten deren Schicksäle, die in den Gesichtern der Menschen geschrieben waren. Manche Gesichter machten sie nachdenklich. Es gab Gesichter mit prägenden Falten, nicht schön, aber die in ihrem Gesicht die Lebensfreude zum Ausdruck bringen konnten. Dann gab es Gesichter die eher grau waren. An solchen Gesichtern konnte man sehen, wie sehr dem Leben die Farbe fehlte, dass sie führten. Aber einige Gesichter waren nicht nur grau, sondern hatten noch zusätzlich verhämte prägnante Züge, die verrieten ihnen, wie negativ den Gesichtern die Welt erschien und waren vom Schicksal gezeichnet worden. Sie wollte es nicht zulassen, dass ihr Gesicht gezeichnet wurde. Ihr Spiegelbild lächelte ihr zu. Auch sie hatte eine Falte im Gesicht bekommen, eine auf der Stirn, senkrecht über der Nase. Sie nannte sie ihre Nachdenkfalte, denn sie war selten alleine, aber oft einsam und dachte oft über sich selbst nach. Für sie kam schon immer Schönheit beim Menschen von innen. Es war dass Licht was ein Mensch ausstrahlen konnte. Das Licht, was dem Menschen eine Schönheit verleit, weil man ihm ansieht wie glücklich er war. Es war das, was wir von diesem Menschen empfangen, egal wie er sonst aussah. Ihr Licht konnte heute auch wieder leuchten, wenn sie glücklich war, dass wusste sie.

Langsam cremte sie ihren Körper ein. Sie liebte es sich zu pflegen und ihren Körper dabei zu betrachten, wie er die Creme aufnahm. Das hatte sie immer bei ihrer Großmutter in Wiesbaden beobachtet als Kind, wenn sie beide zusammen gebadet hatten und anschließend sich eingecremt hatten. Damals cremte sie sie ein und den Duft von CD Creme hatte sie nie vergessen. Wenn sie zu Besuch bei ihr war, durfte sie Mädchen sein, war ihre Prinzessin und fühlte sich in ihrer Wohnung und bei ihr aufgehoben, geborgen und geliebt, so wie sie war. Morgens wurde sie von ihrer Großmutter in dem warmen dicken Federbett mit einem Kuss geweckt und das Frühstück war nicht nur eine Mahlzeit, es war ein Ritual. Sie hatte ihre Großmutter immer bewundert, die für die Liebe ihres Lebens gekämpft hatte. Es war der Mann ihrer Schwester, den sie liebte, dem sie aus dem Weg gehen musste. Sie musste damals von zu Hause weg nach Leipzig, Erfurt und England, damit sie ihn nicht mehr sah. Als sie wieder nach Wiesbaden kam, war es um sie geschehen. Er ließ sich scheiden und heiratete sie. Er starb an einem Fieber, als sie Ende 30 war.

Sie schaute in den Spiegel, sie wusste, was ihr die Geschichte ihrer Großmutter bedeutete. Er war das Feuer, dass seit der Kindheit in ihr brannte, dass sie auch in ihrem Leben für ihre Liebe kämpfen würde. Wie oft hat sie schon in ihrem Leben darüber nachgedacht, dass auch sie mit Ende 30 Witwe geworden war und sie für ihre Liebe immer kämpften musste. Die Stärke dieser Frau hatte sie immer bewundert und oft stellte sie sich vor, wie es ihr damals erging, als er starb. Wie konnte sie weiterleben, war doch die gesellschaftliche und moralische Vorstellungen doch gerade in dieser Zeit im und nach dem Krieg eine ganz andere wie heute? Ihre Großmutter hatte damals ein Tabu gebrochen und war dann mit Kind und ihrer Trauer alleine. Es gibt Familiegeschichten, die sich vererben, hatte sie in einer Fortbildung über systemische Beratung gelernt und stellte in dieser Fortbildung damals ihre Großmutter und deren Situation in einer Familieaufstellung auf. Zu dieser Fortbildung hatte sie sich noch mit ihrem Mann zusammen angemeldet und entschloss sich nach seinem Tod trotzdem alleine daran teilzunehmen.

Langsam zog sie ihren Schlafanzug an und dachte daran, was sie da alles in ihren Rucksack des Lebens gepackt hatte. Sie kämmte ihre Haare und fönte sie. Für sie trug sie ihren Stolz in ihren Haaren. Vom Sternzeichen war sie Löwe und ihre Haare waren ihre Mähne. War der Löwe nicht ein stolzes Tier, der es verstand zu leben, in einem Land das schon immer ihre Sehnsucht weckte? Sie war müde und ging in ihr Schlafzimmer. Es war ihr Schlafzimmer, das sie sich nach dem Tod ihres Mannes neu gemacht hatte. Sie wählte damals darin alles sehr bewusst aus. Der Grundton war ein dunkles Rot. Die linke Seite war mit einer weißen Rose tapeziert. Das Rot stand für die Liebe an die sie glaubte. Die weiße Rose war für sie ein Symbol der Hoffnung und die alten Möbel, waren ein Teil der Geborgenheit die sie seither suchte.

Sie hatte in den fast fünf Jahren gelernt alleine zu schlafen. Nicht eine Nacht war jemand bei ihr geblieben und sie sehnte sich so danach morgens mit einem Kuss geweckt zu werden und in den Armen Raum und Zeit für den Augenblick vergessen zu können. Mit dem Gedanken legte sie sich unter ihre Bettdecke kuschelte sich ein und schlief. Der Mond war im Westen am Horizont angekommen und versank in der Nacht dahinter bis er zu ihrem nächsten Treffen voll und klar wieder erschien.

Impressum

Texte: A.Mai
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
meinen Eltern, die mich nie alleine gelassen haben, meinen Kindern, die mich fordern zu leben, meinen Freunden, die immer ein Ohr für mich hatten ...Bon Camino

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