Cover


I



Es war ein verregneter Herbsttag. Die Häuser des kleinen Dorfes vermittelten eine düstere Atmosphäre. Das Dorf lag mitten in einem Sumpfgebiet. Nur ein Weg führte in den Ort. Das Dorf bestand aus achtzehn Häusern, einem Stall, einem Pub und einer Kirche. Durch die recht steilen Dächer auf den niedrigen Mauern wirkten die Häuser mehr wie Hütten, die von einem Garten umgeben waren, in dem Sonnenblumen blühten. Jedes Grundstück war von einem dunkel gestrichenen Zaun umgeben, dessen Latten an einigen Stellen schon recht schief standen, als hätte jemand ein paarmal dagegengetreten. Der Stall war ein großes Holzgerüst, in dem Schafe untergebracht waren. Lange, alte, fast schon morsche Latten stellten die drei Wände dar. Die Eckpfeiler sowie in jeder Wand zwei weitere Pfeiler waren aus massiveren Buchenstämmen gefertig worden, damit das alte Gebäude Stabilität bekam. An der vierten Seite gab es ein schweres altes Holztor, das mit Stahlbolzen besetzt war, damit die Schafe es nicht einrennen konnten. Das Tor bestand aus zwei Flügeln. Die linke Hälfte wurde nie geöffnet, da es über die Jahre in den Boden eingesunken war. Auch wurden zur Sicherheit weitere fünf Buchenpfeiler im Stall angebracht, sodass ein weiteres Absacken nicht möglich war. Eine Kombination aus Binsen und kleinen Ästen bildeten das flache Dach. Auf vier Pfetten, die von der Torseite zur Rückwand führten, lagen die Binsen und Äste. Sie wurden außerdem mit Schilf befestigt.
Das größte Gebäude des Dorfes war die Kirche. Die Kirche glich mehr einer Kapelle - graues Mauerwerk, in das sich Pflanzen hineingefressen hatten und den größten Teil mit einem grünen Schutz aus Blättern umgaben. Die Kirche war neben dem Pub, Treffpunkt für die kleine Dorfgemeinde.
Der Pub war Dreh- und Angelpunkt im Dorf. Dieser stach etwas unter den anderen Häusern hervor. Er war einen bis zwei Meter höher als der Rest der Häuser, hatte viele grüne Fenster, hinter denen man nur den Rauch sehen konnte, der noch eisiger wirkte als der Atem an einem kalten Wintermorgen. Die Tür stand einen halben Meter ins Haus versetzt, sodass eine unbehagliche Tiefe entstand. Es schien wie ein Sog, der jeden hineinzog, aber nicht mehr frei gab. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift „Fen-Wood“, das bei jedem Windstoß knarrte. So eisig kalt, unfreundlich und rau er von aussen wirkte, war er für jeden Fremden auch von innen. Im Pub standen sechs alte Tische, die ihre eigene Geschichte erzählten. Sie waren teilweise gebrochen, mit Alkohol getränkt oder einfach von Messerklingen zerkratzt. Um jeden Tisch standen viele kleine Hocker. Zudem gab es noch eine Theke. Die Theke war aus einer Eiche gefertigt worden, die in der Mitte zersägt war. Die Oberfläche des Holzes war nie bearbeitet worden, sodass man schon ein harter Bursche sein musste, wenn man mehrere Splitter in den Handflächen hatte. Im „Fen-Wood“ wurden seit Jahren nur zwei Getränke ausgeschenkt – Ale und die Spezialität des Hauses, der Fen-Wood. Die Bestandteile des Fen-Woods waren das Wasser aus den Sümpfen, alte Binsengräser, die zwei Wochen lang zwischen Eichenholzspänen getrocknet wurden, um den bissigen und herben Geschmack zu erhalten, der es in sich trug.
Weit hinter dem Dorf erstreckte sich ein riesiger finsterer Eichenwald. Die mächtigen alten Bäume wuchsen so weit aus dem Boden, als wären sie von Feen und Gnomen herangezogen. Der Wald wirkte wie eine riesige Wand, sodass kein Menschenauge der Welt erkennen konnte, ob die Bäume versetzt hintereinander standen oder nebeneinander wuchsen. Selbst wenn keine Wolke am Himmel zu sehen war, trafen die Sonnenstrahlen nie den Boden, sie blieben immer in den Baumkronen hängen. Es war auch nie das Zwitschern von Vögeln zu hören, nie das Rascheln im Gras kleiner Tiere. Nie sahen Menschen auch nur ein Tier - ein toter Wald. Und dennoch sah man viele kleine Irrlichter, die an der Grenze des Waldes ein prächtiges Farbenspiel für jeden Zuschauer boten. Und wenn es nur ein Trugschluss war? Flogen die Irrlichter vielleicht über den Sümpfen? Wenn all das Leben nur der Weg in den Tod wäre? Antworten auf diese und andere Fragen wird man nur erfahren, wenn sich Menschen den Geheimnissen stellen, die die Natur ihnen zu bietet hat.

Mit halber Kraft quälte er sich aus dem Bett und ging mit hängendem Kopf in den entgegengesetzten Winkel der Hütte zum Ofen. Er setzte sich neben den Ofen, legte die Hände an die Kacheln, hustete kräftig aus und blickte in den Wald. Seit Wochen plagte William McIsh eine unheimliche Erkältung. Das Wetter der letzten Wochen war ein naßkaltes, miserables und hassenswertes Wetter. William konnte sich diese Krankheit nicht leisten. Er war Jäger, lebte abseits des kleinen Dorfes im mächtigen, finsteren Wald. Er hatte eine kleine Hütte im Wald und war nun ihr Gefangener.
Eine kahle, nüchterne und unbequme, aus dunklen Hölzern gezimmerte Hütte. Tabakrauch schwebte umher. Zwei Kerzen brannten. Brotkrumen und Käse lagen auf einem Tisch. Daneben ein Beutel mit Schnupftabak. Dunkelgrüne Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Tücher nur, symmetrisch geraffte Kattune.
Das rote Haar des Mannes war aus der hohen Stirn zurückgestrichen und legte blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei. Tiefliegende, wunde Augen traten aus dem erschlaften Gesicht hervor. Unzählige Spinnen krabbelten an seinen Beinen hoch. Er versuchte sie mit seinen inzwischen kargen Händen zu greifen, doch es gelang ihm fast nie. Sein bleiches, erschlaftes Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen schwer auf sein Alter zu schließen war, schaute mit schwerem Blick auf sein Jagdgewehr, das auf der gegenüberliegenden Seite der Hütte an die Wand angelehnt stand.
Der kränklichen Gestalt war bewusst, dass er bis zum nächsten Blick der Mooraugen eine Opfergabe bringen musste. Äußerst verarmt an Lebenskräften, mit einem fürchterlichen Reizhusten, bemühte er sich zu seinem Gewehr, schleppte sich längs zur Tür und drückte die Klinge nach unten. Kaum hatte er die Klinge nach unten gedrückt, wurde ihm die Tür aus der Hand gerissen. Ein wehleidiges Schreien, ein Jammern pfiff durch den finsteren, mächtigen und angsteinflößenden Wald. Die Äste der Bäume knarrten. Die tiefliegenden wunden Augen blickten auf. Es schien, als ob tausend Augen William beobachten. Er blickte nach rechts, nach links, drehte sich um, doch niemand war zu sehen. Dennoch spürte er die Anwesenheit einer Gestalt. War es sein Meister? Er hatte noch ein paar Tage Zeit, bis Trowe die Opfergabe abholen würde. Außerdem würde sich Trowe nicht in den Wald wagen. Wer in den Wald wollte, musste die Moore durchqueren.

Ein dunkler Schleier lag über den Mooren. Die Moore waren geheimisvoll. Viele kleine Löcher, die ein gewisses Gefühl der Spannung, aber auch der Ungewissheit erzeugten. Alte Weiden waren zur Hälfe im schlammigen Wasser versunken, Seggen, Rohrkolben, Schilf und Sträucher wucherten, unzählige Libellen folgen umher. Irrlichter spielten ihren Betrachtern Streiche. Ein Ort, wo ein einziger Schritt über Leben und Tod entscheiden konnte. Azurblaue Vergissmeinnichtblumen wuchsen an den Korkweiden. Wie einzelne Kissen lagen im Moor, Wasserminzen mit ihrem kugelförmigen Blütenstand, der von weiß über rosa bis violett gefärbt war. Blutaugen blüten zwischen den Rohrkolben. Mit ihren langen Stielen und dunkelroten Blüten stachen sie ihren Zuschauern direkt ins Auge. Die Dorfbewohner erzählten sich, dass eine junge Frau – zierlich, wunderschön und unerreichbar – jeden Abend durch das Moor spazierte. Viele ahnungslose Wanderer folgten ihr schon in den Tod. Niemand wusste genau, ob es nur Irrlichter waren oder Nixen. Vielleicht war die Frau eine Heilige. Oder sie stand unter einem Fluch. Die meisten Dorfbewohner glaubten, dass die junge Frau das Opfer einer Vergewaltigung war. Es wurden schon oft junge Frauen am Rande der Moore gefunden. Meist trugen sie keine Kleidung mehr. Ihre Körper waren blaß und kalt. Jedesmal kam Scotland Yard, jedesmal stellten sie ihre Fragen und jedesmal fuhren sie ohne Erfolg zurück. Scotland Yard wusste, dass der Mörder aus dem Dorf kommen musste, aber sie konnten nie Beweise finden.
Doch Trowe kannte den Weg durch das Moor nicht. Er einzige aus dem Dorf war Broin. Nur Broin war seit Tagen verschwunden. Niemand wusste genau, wohin er gegangen war. Broin war ein ruhiger, fast schon lautloser junger Mann. Über seine Vergangenheit wusste McIsh wenig. Broin wuchs ohne Eltern auf. Er wurde von einem Mann erzogen, den McIsh nur als Recak kannte. Broin war mittlerer Größe, lachte so gut wie nie und hatte viele kleine Narben am linken Unterarm sowie eine lange schmale am Kehlkopf. Trotz seiner ruhigen Art, bot Broin ein sich stark einprägendes Gesicht. Seine stechenden Augen schienen alles und jeden jederzeit zu beobachten. Auffällig war auch sein markantes Kinn und seine scharfen Eckzähne, die einem Vampir ähnelten. McIsh konnte froh sein, dass Broin ihn leiden konnte. Broin bewegte sich oftmals wie Katze. Er schwebte förmlich umher. Trowe hatte McIsh schon mehrmals erzählt, dass Broin viele junge Frauen auf dem Gewissen habe. Dabei war Broin mit Abstand das jüngste Mitglied des Clans.

Beim letzten Blick der Mooraugen hatte McIsh Broin zuletzt gesehen. Das Licht von Broin, oder besser gesagt der Schatten von Broin, war so gefährlich wie schützend. Broin war der Schatten, den ein Kind sieht, wenn es im Bett liegt und nicht schalfen kann. Die Dunkelheit ist Broin oder Broin die Dunkelheit. Trowe hatte McIsh oft erzählt, dass die Polizei einen Mörder junger Frauen sucht. Junge Frauen, die die Polizei im Moor fand. Jeder im Dorf glaubte den Mörder zu kennen, doch keiner sprach über seinen Namen. Alle hatten sie Angst vor ihm. Er war wie ein Fluch. Die Dorfbewohner erzählten sich öfters, seine Stimme im Wind gehört zu haben. Laute aus dem Reich der Toten. Ein eiskalter Mann.
Doch William hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Die nächsten Mooraugen kamen mit jeder Sekunde näher und noch immer hatte er keine Beute gefunden. Das wehleidige Schreien um ihn herum nahm kein Ende – im Gegenteil, es wurde immer stärker. Äste peitschten ihm vor das Gesicht. Laub wurde aufgewirbelt, wehte um die Bäume, Sträucher, über den Bach, der sich im Moor verlief und blieb teilweise an seiner Kleidung hängen. William konnte kaum noch sehen. Auch seine gehobene Hand vor dem Gesicht hatte keinen Erfolg. Er versuchte sich zu konzentrieren, damit er nicht vom Weg abkam und nicht ein Gefangener des Waldes wurde. Der Wald war mächtig wie finster, und auch wenn William schon viele Jahre hier lebte, schien der Wald immer noch ein Labyrinth für ihn zu sein. Mit schwachem Schritt stolperte er nur noch auf das linke und dann wieder auf das rechte Bein. Kränklich, müde und zu schwach um noch einen Schritt zu gehen, sackte er zu Boden. Sein Körper kauerte, während der Wind um ihn pfiff. Der Wind! Das Schreien! Hatten die Dorfbewohner auch diese Laute gehört?

«Na, Felan. Bist Du krank?»
« Broin! Hilf mir!»
« Warum sollte ich? Ich beobachte Dich schon mehrere Tage. Kränklich kauerst Du in Deiner Hütte wie ein Häufchen Elend...»
«Was! Und Du hilfst mir nicht? Ich sollte...»
«Was? Was willst Du schon gegen mich machen? Du kranker Rotschopf mit Deinen wunden Augen. Sieh Dich doch an! Vergiss nicht, wer ich bin!, Vergiss nicht, wer mein Meister ist!»
«Ich habe keine Angst vor Deinem Meister! Trowe ist mein Meister, und Rerraf kann nichts machen.»
«Ich spreche nicht von Rerraf. Ich spreche von Recak. Recak war mein Meister, noch bevor ich einen Fuß in dieses Dorf, in diesen Wald setzte. Aber egal,...schlaf nun...»
«Dir werd ich...»
«Nein, wirst Du nicht.»
Broin griff geschwindt unter seinen schwarzen Umhang, holte einen Knüppel hervor und schlug gezielt auf dem Hinterkopf von William.

Trowe war ein fürchterlicher, mächtiger Mann. Sein Einfluß im Dorf und seine Beziehungen zur Aussenwelt sicherten dem Clan viele Vorteile. Vor 20 Jahren wurde der Clan gegründet. Neben Trowe gehören noch Rerraf und Recak zum Clan. Recak hatte den Vorsitz. Trowe war seine rechte und Rerraf seine linke Hand. Die rechte und die linke Hand hatten beide einen Diener. Felan war der Diener von Trowe und Broin von Rerraf.
Recak hatte zwar den Vorsitz, doch ihm gehörte kein Lakai. Er war auch nicht im Dorf. Er war ein Mann mit Geld. Trowe's rechte Hand und Rerraf's inke Hand hingegen lebten im Dorf.
Trowe war ein kleiner, dicker Mann. Er war nur halb so groß wie Rerraf. Nur wenige Haare zierten seinen Kopf. Seine Beine waren so kurz, sodass er mit seinem Bauch schon fast den Boden streifte. Würde er nicht sprechen, dann könnte Trowe auch gut als Bierfass durchgehen.
Rerraf hingegen war hoch gewachsen, trug trotz des schmalen Gesichts eine Brille mit dickem Gestell und auf seinem Kopf wuchsen die Haare in einem nach oben stehenden Wirbel, den wohl auch keine Bürste bändigen konnte.
«John, hast Du noch einen Fen-Wood für mich?»
«Selbstverständlich. Aber, seit wann nennst Du mich "John", wenn wir eine Sitzung haben Trowe?»
«Ich weiß nicht, aber deine Tochter ist nicht da, und auch sonst ist keiner hier. Recak kommt erst in zwei Wochen. Solange er nicht da ist, kann ich Dich doch auch "John" nennen.»
«Lass es aber nicht zur Gewohnheit werden Trowe. Wenn Recak mitbekommt, dass Du mich mit "John" und nicht "Rerraf" ansprichst, dann hetzt er Broin auf Dich. Und selbst ich, als sein neuer Meister, kann Broin nicht aufhalten. Du weißt genauso gut wie ich, dass Broin eiskalt ist.»
«Wo steckt Broin eigentlich?»
«Er ist auf der Jagd. Die nächsten Mooraugen stehen kurz bevor. Außerdem wollte er einer alten Freundin einen Besuch abstatten.»
«"Einer alten Freundin"...verstehe. Wundert mich schon, dass seine alte Freundin noch lebt...»
«Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Broin hat es nur beiläufig erwähnt. Vielleicht...»
«Vielleicht...?»
Bevor Rerraf antwortete, nahm er noch einen Schluck Ale.
«Vielleicht ist es jemand aus seiner Vergangenheit.»
«Aber, es ist doch nicht...oder doch...»
«Du meinst, es könnte die Tochter von dem Anwalt sein, den Broin töten sollte?»
«Ja, genau. Recak hat uns beiden doch einmal erzählt, dass Broin...ähm...einen Auftrag nicht ausgeführt hat.»
«Das kann sein, Trowe. Der Anwalt soll doch eine Tochter haben. Das Mädchen müsste im Alter von Broin sein.»

Unterdessen lief Broin wie ein Schatten durch den finsteren Wald. Wie ein Besessener, der von Dämonen gejagt wird, rannte er. Immernoch umgab ihn das wehleidige Schreien des Windes. Er rannte so schnell, dass er den Ästen der Bäume nicht auswich. Wie Peitschen knallten die Äste an seinen Körper.
Je näher er dem Moor kam, desto mehr schien es zu regnen. Durch die dichten Baumkronen spürte er den Regen im Wald kaum, doch jetzt, da er nur noch ein paar Schritte vom Moor entfernt war, prasselte der Regen ihm immer stärker ins Gesicht. Einige Bäume stellten sich ihm noch in den Weg. Er sah schon die Irrlichter, die funkelnden Lichter.
Kaum berüht er mit seinen Füssen den Boden am Rande des Moores, ließ er seinen Kopf in den Nacken fallen, reckte seine Arme zum Himmel und atmete erschöpft aus. Seit Tagen hatte er nicht geschlafen. Jede Sekunde opferte er, um William zu beobachten. Nun, da er keine Gefahr mehr für ihn darstellte, konnte er in Ruhe seine Aufgabe erledigen.
Plötzlich sprach eine bekannte Stimme zu ihm.
«Du kommst spät!»
Es gab nur einen Menschen, der ihn an diesem gottverlassenen Ort finden würde. Broin verharrte.
«Willst Du mir nicht antworten? Sprich endlich!»
«Meister Recak. Warum seit ihr hier? Wollte ihr Meister Rerraf und Meister Trowe nicht erst in zwei Wochen besuchen?»
«Du kannst ja doch reden. Es gibt noch einige Vorkehrungen zutreffen. Die nächsten Mooraugen sind komplexer als sonst.
Wo willst Du eigentlich hin?»
Broin überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete.
«Ich habe noch kein Opfer für die Mooraugen.»
«Und dafür spionierst Du tagelang Felan aus, schlägst ihn bewusstlos und rennst anschließend wie ein Besessener durch den Wald?»
«Ja, Meister. Mein Opfer ist...»
«Ist...?»
«Wertvoll.»
«Wertvoll!?»
«Ja, Meister. Ich werde Euch nicht enttäuschen. Ich werde auch Rerraf, meinen neuen Meister, nicht enttäuschen. Nur ich brauche einen kleinen Vorsprung vor Felan.»
Recak schaute Broin mit finsterem Blick an. Er glaubte ihm kein Wort. Auch wenn diese Mooraugen viel wichtiger für den Clan waren als sonst.
«Also gut Broin, aber enttäusche mich nicht. Denk an die Narben auf deinem Unterarm.»
«Ich werde Euch nicht enttäuschen, Meister. Ich werde mein Opfer holen.»
«Setze deinen Weg fort, mein Schüler. Ich werde mich nun zu Trowe und Rerraf begeben. Wir haben noch viel zu erledigen»
Kaum hatte Broin Recak aus den Augen verloren, betrat er das Moor und machte sich auf den Weg.


II



«Guten Morgen, Chief Inspector Absent.»
«Guten Morgen, Constable Eliot. Warum haben Sie mich so früh aus dem Bett gerufen?», fragte Chief Inspector John Absent seinen Assistenten Peter Eliot, während er seinen Trenchcoat über seinen Schreibtischstuhl warf. John Absent war ein groß gewachsener, nervöser Chief Inspector mit blauen Augen. Kurze dunkle Haare zierten sein Haupt. Seit vielen Jahren stand er schon im Dienste der Polizei, -Familie hatte er nicht. Er hatte für sich einfach noch nicht die richtige Frau gefunden. Mit Peter Eliot arbeitete er erst wenige Wochen zusammen. Eliot war im Rang eines Constable. Eliot war von mittlerer Größe, hatte braune Haare und lispelte ein wenig. Eliot hatte eine feste Freundin, – zumindest prahlte er damit.
Eliot schenkte sich noch kurz Kaffee ein und begann anschließend die Frage seines Chefs zu beantworten.
«Mr. Baker hat mich vorhin angerufen. Er hat seine Frau mit einem Messer im Rücken gefunden. Ich habe Dr. Parker schon verständigt.»
«Hm. Dr. Parker ist also schon vor Ort. Gut gemacht, Eliot. Dann machen wir uns gleich auf den Weg zum Tatort. Wo sagten Sie, wurde Mrs. Baker tot aufgefunden?»
«Im Haus der Bakers. Eldon Road, Sir.», antwortete Eliot, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte. Wenige Minuten später warf sich Chief Inspector John Absent seinen Trenchcoat wieder über und verließ zusammen mit Constable Peter Eliot das Büro.

«Wissen Sie, Eliot, zur Eldon Road können wir auch kurz laufen. Dann werde ich wach. Außerdem hatte ich schon lange keine Zigarette mehr.»
«Wie Sie meinen, Chief Inspector. Brauchen Sie Feuer?»
«Ja, danke. Die nächste Straße müssen wir links.»
«Grenville Place. Meine Großeltern haben hier gewohnt. Leider sind beide letztes Jahr verstorben.»
«Mein aufrichtiges Beileid. Es waren die Eltern Ihrer Mutter, oder?»
«Ja, genau. Sie wohnten in diesem Haus.»
Absent und Eliot blieben vor einem Haus mit rotbrauner Fassade stehen.
«Sehen Sie, dort oben in der zweiten Etage war ihre Küche.» Eliot deutete auf das erste Fenster von rechts.
Beiden hielten noch einen Moment inne, bevor sie weitergingen.
«Bis zum Hyde Park müssen wir geradeaus gehen. Dann müssen wir links gehen, bis wir rechts in die Victoria Road müssen. Die erste Straße, die nach links abkniegt, ist dann die Eldon Road.», sagte Absent, nachdem er einen Zug von der Zigarette nahm.
«Wie klang Mr. Baker eigentlich am Telefon? War er traurig? Oder wirkte er kühl und nicht betroffen?», fuhr Absent fort.
«Tja, wenn ich so darüber nachdenke, wirkte er am Anfang des Gespräches kühl. Ich hatte eher das Gefühl, als ob wir Geschäftspartner wären, die kurz vor einem Vertragsabschluss stünden. Je länger das Gespräch allerdings wurde, desto nervöser wurde er. Mir kam es so vor, als hätte er keine Zeit mehr, - als wollte er noch schnell etwas erledigen.»
«Etwas erledigen? Interessant. Vielleicht wollte er Spuren verwischen...», überlegte Absent laut.
«Aber warum sollte uns dann anrufen?», fragte Eliot verständnislos.
«In all den Jahren, die ich im Dienste der Polizei stehe, habe ich schon die merkwürdigsten Verbrechen gelöst. So viel ich weiß, soll Mrs. Baker ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann gehabt haben.»
«Oh! Mord aus Eifersucht meinen Sie?», lispelte Eliot aus sich heraus.
«Nun, ich will da keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ein Motiv wäre es schon.»
Während Absent und Eliot anfingen, sich über den Mord Gedanken zumachen, bogen sie schon in die Eldon Road ein.
«Familie Baker wohnt Haus No. 8», sagte Eliot.
«No. 8 ist das übernächste Haus.»
Diese Aussage fiel Chief Inspector John Absent nicht schwer, da ein weiterer Constable sie bereits erwartete.
«Guten Morgen, Chief Inspector. Wenn Sie mir bitte folgen würden.», sprach der Constable Absent direkt an. Absent und Eliot folgten ihrem Kollegen auf einem breiten Weg zur Haustür. Die drei durchschritten die Haustür, die im Vergleich zum Rest des Hauses winzig wirkte. Der Constable verlies Absent und Eliot nun wieder und verschwand über die Treppe in den ersten Stock.
«Ah!, da sind sie ja endlich!», rief eine laute Stimme quer durch die Raum.
Absent blickte nach links. Ein kleiner Mann mit grauen Haaren, einem faltigen Gesicht und zittrigen Händen kam auf sie zu.
«Peter! Schön Dich zu sehen. Wie geht es deiner Frau?», fragte Absent das Männchen.
«Gut, danke der Nachfrage John. Sag mal, wer ist dein warmer Bruder?»
«Dr. Peter Parker, darf ich vorstellen Peter Eliot. Er ist mein neuer Kollege.»
«Dein neuer Kollege? Was ist mit Alan Crab passiert?»
«Ähm...naja...»
Eliot drehte sich zu Absent und fragte ihn mit klarer Stimme:
«Sir?, sollte ich da etwas wissen?»
«Nein, nein. Wo denken Sie hin. Alan Crab wurde nur versetzt. Fragen Sie mich nicht warum.», Absent fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum, während er Eliot die Antwort gab.
Dr. Parker konnte sich unterdessen das Lachen nur schwer verkneifen.
«Da wir uns nun alle beschnuppert haben, werde ich Euch mal die Leiche zeigen. Die ermordete Jane Baker finden wir im ersten Stock, ihren Mann Richard Baker findet Ihr im Salon.», sprach Dr. Parker mit lauter Stimme.
«Gut. Dann werde ich mit Dir in den ersten Stock gehen und Sie, Constable, werden Richard Baker befragen.», sagte Absent in die Runde.
Nach einem kurzen Nicken von Eliot, verschwand dieser auch schon im Salon, der links von der Haustür lag. John Absent und Dr. Parker begaben sich in den ersten Stock. Dr. Parker ging voran und führte John Absent ins Badezimmer.
Ein lebloser weiblicher Körper lag auf dem Bauch diagonal im Badezimmer. Die Tote hatte sieben Einstiche im Rücken. Dr. Parker begab sich in die Hocke und fing an, seine Feststellungen zu erklären:
«Die Tatwaffe, das Messer, haben ich der Toten schon entnommen. Vor den sieben Einstichen am Rücken muss übrigens ein Kampf stattgefunden haben. Siehst du hier am Collum ist deutlich zu erkennen, dass die Tote gewürgt wurde. Außerdem muss sie bei dem Kampf nach hinten gestürzt sein. Dabei ist sie wohl auf einen scharfen Gegenstand gefallen, der sich genau in diesem Bereich ihres Musculus latissimus dorsi gedrückt hat.», sagte Dr. Parker, diesmal mit ruhiger Stimme, zu John Absent, während er mit seinen Fingern auf die einzelnen Körperpartien zeigte.
«Gut, dass ich Dich mal wieder nicht verstanden habe. Kannst Du es nicht so sagen, dass ich es auch verstehe?», schaute Absent zu Dr. Parker.
«Du siehst doch, wo die Einstiche sind, oder?»
«Ja, ist ja schon gut. Danke erstmal. Ich gehe jetzt wieder runter. Hoffentlich hat Eliot schon Informationen für mich.»
«Ach so, bevor Du gehst, solltest Du vielleicht wissen, dass Mrs. Baker ca. schon 1-2 Tage hier gelegen haben muss.»
Ohne darauf zu antworten ging Absent die Treppe runter.

Im Salon angekommen, fanden Absent und Constable Eliot und einen korpulenten Mann vor. Der korpulente Mann hatte ausgeprägte Wangenknochen, was für Härte und Entschlossenheit stand.
Der saß in einem dunkelroten Sessel und rauchte eine dicke Zigarre. Mit sicherem Blick musterte er Chief Inspector John Absent.
«Guten Morgen, Herr Baker. Darf ich Ihnen erstmal mein Beileid aussprechen?»
«Sie dürfen.», sagte Richard Baker, ohne John Absent dabei in die Augen zu sehen. Nach einem kurzen Zug an der Zigarre fuhr er fort:
«Und sowas ist nun bei der Polizei? Nun gut, was wollen Sie wissen? Ihr Kollege hat mir ja schon ein paar Fragen gestellt.», knurrte Richard Baker.
Die erste Frage hatte John Absent überhört und fing sofort an zu fragen:
«Wo waren Sie in den letzten zwei Tagen?»
«In Birmingham bei einem Geschäftsfreund. Er heißt Frank William Carey, bevor sie mich fragen. Er wird meine Aussage bestätigen.»
«Wieso sind Sie sich so sicher?», fragte Absent skeptisch.
«Ich weiß es einfach.», antwortete Richard Baker kühl.
«Wohnt ausser Ihnen noch jemand in diesem Haus?»
«Meine Tochter. Doch Jane ist gerade bei ihrer Tante Amanda Griffin. Amanda Griffin wohnt nicht in London, sondern in einem kleinen Dorf nordwestlich von London. Jane ist zeitgleich mit mir weggefahren. Das war vor zwei Tagen.»
«Mit anderen Worten wollen Sie sagen, dass niemand ausser Ihrer Frau sich in den letzten zwei Tagen in diesem Haus aufgehalten hat.», schlussfolgerte Eliot.
«Ob sie alleine war, kann ich Ihnen nicht sagen. Vielleicht fragen Sie mal Bryan Smith, Elaine Black und Arthur Orbinson. Alle drei haben uns in letzter Zeit öfters besucht.»
«Wer sind dieses drei Menschen?», fragte Eliot.
«Menschen, mit denen ich und meine Frau Probleme hatten.», sagte Richard Baker mit zornigen Blick.
«Sagen Sie, Mr. Baker, hatte Ihre Frau nicht ein Verhältnis mit einem jüngeren Mann? Wird man da nicht eifersüchtig?», fragte Absent, während er im Salon auf und ab ging.
«Wollen Sie mir einen Mord anhängen? Ich habe Ihnen doch gesagt, wo ich war.», wütend blickte Mr. Baker Absent an.
«Ich will gar nichts. Ich muss nur Fakten sammeln. Wir werden jetzt gehen. Haben Sie zufällig die Adressen von Mr. Smith, Mrs. Black und Mr. Orbinson?»
«Zufällig. Hier bitte.», Mr. Baker griff in seine Hosetasche und zog ein Stück Papier heraus, auf dem drei Namen mit den Adressen standen.
«Danke. Desweiteren möchte ich Sie noch bitten, London nicht zu verlassen.», sagte John Absent abschließend, bevor er und Constable Eliot den Salon und das Haus der Bakers wieder verließen.


Während Absent und Eliot auf dem breiten Weg von der Haustür zur Straße gingen, zündete sich Absent erneut eine Zigarette an.
«Warum war Mr. Baker so kühl? Können Sie mir die Frage beantworten, Eliot?»
«Nein, Sir. Es scheint so, als ob sich Mr. Baker einen Plan überlegt hat...»
«Ja, schon...aber warum hatte er eine Liste von diesen drei Menschen. Was hat er vor?...»
Eliot hatte keine Antwort auf die Frage seines Vorgesetzten.
«Wer steht eigentlich als Erster auf der Liste», fragte Eliot.
Absent griff in eine Tasche seines Trenchcoats und holte die Liste mit den Namen hervor.
«Bryan Smith wohnt Grenville Place. Interessant. Er wohnt nicht nur Grenville Place, sondern auch noch in No. 5.»
«No. 5! Was für ein Zufall!», lispelte Eliot.
«Ja, genau. Und mit Bryan Smith hatte Jane Baker auch ein Verhältnis.»
«Woher wissen Sie das?», fragte Eliot verwirrt.
«Bevor ich in den Salon gekommen bin, habe ich mich noch ein wenig im Haus umgesehen. Auf einer kleinen Kommode im ersten Stock lag ein Brief an Jane Baker. Ich habe den Brief kurz überflogen. Es war ein Liebesbrief, der von Bryan Smith unterschrieben war.»
Eliot sah Absent erschaunt an. Er war sprachlos. Absent hingegen griff erneut in eine Tasche seines Trenchcoats und zog ein gefaltetes Stück Papier raus.
«Hier,», er hielt Eliot das Papier hin und fuhr fort, «wenn Sie den Brief selber lesen wollen.»
Eliot war immer noch sprachlos.
«Wir sind da.»
Absent bliebt vor dem Haus mit der rotbraunen Fassade stehen. Wortlos gingen beide zur Haustür. Kaum hatten sie die Haustür erreicht, kam ihnen auch schon ein junger Mann entgegen. Der großgewachsene Mann mit rotbraunem Haar und einem gepflegtem Äußeren schaute irriert.
«Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?», fragte der Hüne.
«Guten Tag. Ich bin Chief Inspector Absent und das ist Constable Eliot. Wir hätten ein paar Fragen an Sie. Es geht um Jane Baker.»
«Ich kenne keine Jane Baker.»
«Dieser Brief sagt etwas anderes.»
Absent hielt Smith den Brief hin.
«Wollen Sie immer noch behaupten, dass Sie Jane Baker nicht kennen?», fragte Eliot scharf.
«Nein, schon gut. Ja, ich kenne Jane Baker, aber ich habe Jane nicht umgebracht.»
«Wer hat den etwas von einem Mord gesagt?», fragte Absent den Hünen.
«Ähm...haben Sie nicht...»
«Nein. In welchem Verhältnis standen Sie beide?»
«Wir...wir hatten ein paar schöne Wochen. Jedesmal, wenn ihr Mann nicht da war. Das alte Ekel konnte mich noch nie leiden. Ich wollte, dass Jane ihren Mann verlässt. Doch Jane wollte immer nur mein Geld. Nie hat sie meine Liebe erwidert.»
«Und wo waren Sie die letzten zwei Tage?»
«Vorgestern war ich bei Jane. Wir hatten einen furchtbaren Streit. Es ging mal wieder um mein Geld. Sie wollte, dass ich ihr Geld gebe, da sie bei jemanden Schulden hatte. Sie konnte wohl nie mit ihrem Mann darüber sprechen. Ich glaube, Orbinson hieß der Mensch. Wir gingen im Streit auseinander. Und gestern war ich den ganzen Tag im Hyde Park spazieren. Zu meinem Pech bin ich keinem Menschen begegnet. Auch auf dem Weg vom Park hierher, ist mir niemand über den Weg gelaufen.»
«Gab es öfters Streit?», fragte Eliot gespannt.
«Ja, in letzter Zeit immer öfter. Jane wollte immer mehr Geld von mir haben. Ich gebe zu, dass hat mich sauer gemacht. Aber ich habe sie nicht umgebracht.»
«Aber Sie haben auch kein Alibi für gestern! Jane Baker wurde in ihrem Haus heute morgen erstochen aufgefunden. Nach Aussage ihres Mannes war Jane Baker für zwei Tage alleine.
Es wäre ein leichtes für Sie gewesen, Jane Baker zu ermorden. Jane hätte Ihnen die Tür geöffnet ohne Verdacht zu schöpfen und im richtigen Augenblick hätten Sie Jane erstechen können.», sagte Absent scharf.
«Sie haben keine Beweise!», schrie Smith los und fuhr fort, «Verlassen Sie bitte auf der Stelle das Grundstück.»
Absent bat Smith ebenfalls, die Stadt nicht zu verlassen und verließ anschließend mit Eliot das Grundstück. Vom Hünen mit dem rotbraunen Haar hatten sie genug Informationen erhalten.


III



Am frühen Nachmittag traf ein Zug im Londoner Bahnhof West Brompton ein. Der junge Mann mit dem markanten Kinn und den scharfen Eckzähnen stieg aus dem zweiten Waggon aus. Zielstrebig bahnte er sich seinen Weg rücksichtslos durch die Menschenmenge.
«Eh! Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!», rief ein älteren Mann mit lauter Stimme dem jungen Mann zu, als dieser ihm auf die Füße trat. Broin drehte um und blickte mit seinen stechenden Augen dem alten Mann direkt in die Augen. Er machte keine Anstalten zu antworten.
«Oh, verzeihen Sie, dass ich Sie aufgehalten habe», sagte der alte Mann plötzlich mit leise Stimme, als er die lange schmale Narbe am Kehlkopf sah. Broin betrachtete den alten Mann noch kurz, bevor er sich wieder umdrehte und seinen Weg fortsetzte.

Unterdessen fuhren Chief Inspector John Absent und Constable Peter Eliot im Wolseley 6 zu Arthur Orbinson. Sein Haus lag in der Chester Street.
«Eliot, biegen Sie bitte die nächste Straße rechts ab.», sagte Absent, zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort, «Wir befinden uns hier östlich vom Tatort auf der anderen Seite des Hyde Parks. Bitte halten Sie davorne hinter dem blauen Morris an.»
Nachdem Eliot den Wolseley 6 geparkt hatte, wollte er den Wagen verlassen, doch Absent hilet ihn am Unterarm fest.
«Was glauben Sie Eliot? Hat Bryan Smith den Mord begangen?»
«Ich weiß nicht. Ich meine, zur Tatzeit hatte er kein Alibi. Nach seiner Aussage hat er sich zuletzt nur noch mit Jane Baker gestritten. Ich denke schon, dass er einen Grund gehabt hätte, aber ob es für einen Mord reicht?»
Eliot schaute Absent fragend an.
«Ich habe eine Theorie Eliot. Aber zuerst müssen wir Arthur Orbinson befragen. Außerdem müssen wir uns in Verbindung mit den Kollegen in Birmingham setzen. Die sollen Frank William Carey befragen, ob dieser die Aussage von Mr. Baker decken kann.»
«Kann ich jetzt aussteigen?», fragte Eliot vorsichtig.
Absent nickte zustimmend und beide stiegen aus dem Wolseley 6 aus.
«Laut dem Zettel von Mr. Baker wohnt Arthur Orbinson in Haus No. 14.», sagte Absent.
Eliot drehte sich um und fing an nach No. 14 zu suchen.
«11, 12, 13,...ah 14. No. 14 ist das dunkelbeige Haus dadrüben.», Eliot zeigte auf ein Haus, an dem Efeu wuchs.
«Gut gemacht Constable. Dann wollen wir Mr. Orbinson mal einen Besuch abstatten.», sagte der Chief Inspector bevor er seine Zigarette mit seinem Schuh ausdrückte und anschließend mit Constable Eliot zum dunkelbeigen Haus ging.
Beide gingen über einen schmalen Weg, der von Rosenbeeten umgeben war, von der Pforte bis zur Haustür. An der Hausfront wuchs Efeu empor. Absent versuchte einen Blick durch die Fenster links von der Haustür zuwerfen, doch erkennen konnte er nichts. Dunkele samtrote Vorhänge versperrten ihm die Sicht. Eliot erreichte als Erster den Türklopfer und betätigte diesen.
«Sieht nicht gerade einladend aus.», bemerkte Eliot, während er klopfte.
Der Türklopfer hatte die Form eines Löwenkopfes mit grimmigen Blick.
«Guten Tag. Sie wünschen?», fragte eine kleine Frau, die den beiden Männern die Tür öffnete.
«Guten Tag. Ich bin Chief Inspector Absent und das ist mein Kollege Constable Eliot. Wir würden gerne mit Mr. Orbinson sprechen.»
«Sie sind von der Polizei?», fragte die kleine Frau verdutzt.
«Ja.», antwortete Absent und fuhr fort, «Können wir nun Mr. Orbinson sprechen?»
«Bedauere, aber Mr. Orbinson ist nicht da.»
«Und wer sind Sie?», fragte Eliot drängend.
«Ich bin Mrs. Whistle. Mr. Orbinsons Wirtschafterin.»
«Können Sie uns denn sagen, wo sich ihr Arbeitgeber befindet?», fragte Absent.
«Warten Sie einen Augenblick.», sagte Mrs. Whistle.
Noch bevor Absent antworten konnte, machte Mrs. Whistle die Tür zu.
«Nette Frau.», bemerke Eliot.
«So kalt ist es auch nicht. Aber interessant ist, dass Mr. Orbinson nicht zu Hause ist.»
«Orbinson.», überlegte Eliot laut, «Das war doch auch der Name, den uns Mr. Smith gegeben hatte. Meinen Sie, dass es sich hierbei um die gleiche Person handelt?»
«Ja, Eliot. Mr. Black erwähnte ebenfalls diesen Namen. Laut Mr. Smith hatte Jane Baker Schulden bei Mr. Orbinson.»
«Mr. Baker erwähnte heute Vormittag doch, dass Mr. Orbinson öfters zu Besuch kam. Also wäre auch er leicht in das Haus der Bakers gekommen und hätte Jane Baker im richtigen Moment umbringen können.», sagte Eliot.
Absent wollte noch etwas sagen, doch da ging die Haustür schon wieder auf.
«So, meine Herren. Ich hoffe ich habe Sie nicht zu lange warten lassen», sagte Mrs. Whistle.
«Nein.», sagte Absent mit freundlicher Stimme.
«Ich denke, dieses Schreiben wird Ihnen Ihre Antwort geben.», sagte Mrs. Whistle und zeigte Absent einen Brief:


Mein lieber Arthur,
am kommenden Wochenende feiert meine Frau
Amanda ihren Geburtstag. Wir würden uns freuen,
wenn Du die Zeit finden würdest.
Bis dann in unserem kleinen Dorf.

Dein Freund William Griffin

«Sie wollen uns sagen, dass Mr. Orbinson zu dieser Feier gefahren ist?», fragte Eliot.
«Ja, genau. Mr. Orbinson ist vor zwei Tagen mit dem Zug losgefahren.»
«Vor zwei Tagen sagen Sie?», hackte Absent nach.
«Ja, vor zwei Tagen. Er hat gleich den ersten Zug genommen.»
«Woher wissen Sie das so genau Mrs. Whistle?», bohrte Eliot.
«Ich habe ihn zum Bahnhof begleitet. Ich musste selber noch einige Besorgungen machen.»
«Sind Sie beide direkt zum Bahnhof gefahren?»
«Nein, nicht direkt. Mr. Orbinson wollte, bevor er London verließ, noch einmal in die Eldon Road. Anschließend sind wir sofort zum Bahnhof West Brompton gefahren.»
«In die Eldon Road! Wissen Sie was Mr. Orbinson dort wollte?», fragte Eliot.
«Überrascht Sie das? Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin nur die Wirtschafterin von Mr. Orbinson. In seine Geschäfte mische ich mich nicht ein.», sagte Mrs. Whistle ruhig.
«Hat Mr. Orbinson eigentlich einen Wagen? Oder wie sind Sie zur Eldon Road und zum Bahnhof gekommen?», fragte Absent und schaute Mrs. Whistle mit scharfen Blick an.
«Nein, Mr. Orbinson hat keinen Wagen. Teilweise sind wir durch den Hyde Park gegangen oder haben eine Pferdekutsche genommen. Haben Sie noch Fragen an mich? Ich habe nämlich keine Zeit mehr für Sie.», sagte Mrs. Whistle ernst.
«Nein, danke Mrs. Whistle. Nur eine Frage noch: Den Brief können wir mitnehmen?», fragte Absent.
Mrs. Whistle nickte zustimmend, verabschiedete sich kurz von den beiden Männern und schloß erneut die Hasutür.
«Warum haben Sie Mrs. Whistle gefragt, ob Mr. Orbinson einen Wagen hat?», fragte Eliot.
«Nun sehen Sie, während Mrs. Whistle uns in der Kälte hat warten lassen, ist mir folgendes aufgefallen. Kommen Sie mal mit, Eliot.»
Constable Eliot folgte Chief Inspector Absent, der von der Haustür nach links ging.

«Sehen Sie das Eliot.», Absent deutete auf Reifenspuren im Rasen und fuhr fort, «An allen anderen Stellen ist der Rasen gut gepflegt. Nur an dieser Stelle sind Reifenspuren, die zur Straße führen. Neben dem Haus von Mr. Orbinson gibt es keine Möglichkeit einen Wagen abzustellen und dennoch muss hier vor kurzem ein Wagen gestanden haben.»
«Aber warum sollte Mrs. Whistle uns anlügen?», fragte Eliot irriert.
«Vielleicht, wusste Mrs. Whistle doch, was ihr Arbeitgeber in der Eldon Road zu suchen hatte.»
«Chief Inspector Absent, ich denke wir sollten losfahren. Wir werden beobachtet.», Constable Eliot deutete mit den Augen Richtung Haus. Mrs. Whistle beobachtete beiden durch das Fenster mit den samtroten Vorhängen.
Chief Inspector Absent nickte kurz und ging anschließend mit Constable Eliot zurück zum
Wolseley 6. Sobald Absent die Beifahrertür geschlossen hatte, startete Eliot den Motor und fuhr los.
«Eliot fahren Sie bitte schnell zum Revier. Wir müssen uns in Verbindung mit den Kollegen in Birmingham setzen.»

Broin hatte sein Ziel erreicht. Am Nachmittag stand er vor Haus No. 11 am Cadogan Square. Er betätigte den Türklopfer und eine schlanke Frau mit hasselnußbraunem Haar öffnete ihm die Tür. Wortlos bot sie ihm an ihr ins Haus zu folgen. Die schlanke Frau führte Broin über einen langen Korridor in ein Arbeitszimmer. Sie setzte sich auf eine burgundrote Sofagarnitur, während Broin neben einem Kamin aus Marmor stehen blieb.
«Recak hat Dich also gehen lassen.», fragte die Frau spitz.
«Ja, Meisterin. Ich will mein Opfer für die nächsten Mooraugen holen.», sagte Broin ruhig.
«Wenn Du Ella meinst, dann solltest Du dich beeilen. Geh zu dem Haus ihrer Familie und sieh nach, wo sie ist. Wenn Du es weißt, dann komm zu mir zurück, aber alleine.»
«Jawohl, Meisterin.», sagte Broin, bevor er wieder verschwand.

Jemand klopte an der Tür.
«Ja!», rief Chief Inspector John Absent.
Constable Eliot steckte seinen Kopf durch die Tür.
«Kommen Sie doch herein Eliot.»
Eliot trat ein und schloss die Tür hinter sich.
«Was wollen Sie», fragte Absent.
«Unsere Kollegen aus Birmingham haben sich mal mit Frank William Carey unterhalten.», begann Eliot.
«Und? Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter.», sagte Absent unruhig.
«Interessant ist, dass Mr. Carey nicht mit Gewissheit sagen kann, wann Mr. Baker in Birmingham angekommen ist. Mr. Carey weiß nur, dass Mr. Baker am zweiten Tag wieder nach London zurück gefahren ist. Mit anderen Worten Mr. Baker hat kein Alibi für den Tag seiner Abreise aus London und der Ankunft in Birmingham. Mr. Careys Wirtschafterin wusste auch nicht mehr, wann Mr. Baker ankam. Sie wußte nur noch, dass er beim frühstück anwesend war.»
«Das ist wirklich interessant Eliot. Mr. Baker hat also kein Alibi für einen Tag. Nun, dann werden wir jetzt nochmal zu ihm fahren.», sagte Absent und zog sich seinen Trenchcoat an, während Eliot die Wagenschlüssel des Wolseley 6 holte.
Nachdem beide losgefahren waren, zündete sich Absent erneut eine Zigarette an.
«Eliot, haben Sie die Einladung, die wir von Mrs. Whistle bekommen haben bei sich?»
«Ja, Chief Inspector. Hier ist sie.», Eliot zog die Einladung mit einer Hand aus seiner Hosentasche, während er mit der anderen Hand versuchte den Wagen zu lenken.
«So, Eliot. Die Einladung ist unterschrieben mit "William Griffin". Mr. Baker erzählt uns heute Morgen, dass seine Tochter Ella zu ihrer Tante Amanda Griffin gefahren ist. In der Einladung erwähnt William Griffin, dass seine Frau Amanda am kommenden Wochenende Geburtstag hat. Ich glaube, dass Mr. Baker ist der Schwager von William Griffin.», sagte Absent sachlich.
«Die endgültige Bestätigung können Sie sich gleich von Mr. Baker geben lassen.», sagte Eliot und hielt an.
Beide stiegen aus und gingen zur Haustür.
«Es brennt kein Licht im Haus.», bemerkte Eliot.
«Vielleicht befindet sich Mr. Baker im oberen Teil des Hauses, Eliot.»
«Sehen Sie Chief Inspector an dem Türklopfer ist ein Zettel befestigt.»
Chief Inspector John Absent nahm den Zettel vom Türklopfer ab und überflog diesen.
«Ich hätte es besser wissen müssen.», sagte er grimmig, «Es ist eine Nachricht an mich. Hier steht, dass Mr. Baker die Stadt verlassen hat. Und jetzt raten Sie mal wohin, Eliot!»
«Zu Amanda Griffin seiner Schwester. Aber warum hat er uns das heute Morgen nicht erzählt.», fragte Eliot.
«Weil, er wusste, dass wir ihn nie hätten fahren lassen.»
«Aber?...»
«Was denn Eliot?», fragte Absent zornig.
«Aber, warum kann ich dann die Haustür öffnen?»
«Was sagen Sie da!», schrie Absent fassungslos.
«Ja, sehen Sie.», Eliot drückte mit seiner rechten Hand gegen die Tür.
«Seltsam. Eliot, sagten Sie nicht, dass sie kein Licht im Haus gesehen haben? Und warum brennt dann im ersten Stock Licht?», fragte Absent.
Absent ging über die Treppe in den ersten Stock. Auf halben Wege drehte er sich zu Eliot um.
«Sie warten unten.»
«Jawohl, Chief Inspector.»
«Hier oben ist keiner. Hier brennt nur eine...»
Noch bevor Absent antworten konnte, hörte Eliot nur einen dumpfen Schlag aus dem ersten Stock.
«Chief Inspector? Alles in Ordnung?»
Doch Absent antwortete nicht. Eliot ging langsam die Treppe hoch. Er war schon fast oben, da wurde es dunkel im ersten Stock. Jemand hatte das Licht ausgemacht.
«Chief Inspector? Sind Sie das?»
Keine Antwort. Eliot ging weiter nach oben, als vor ihm plötzlich eine Gestalt in einem schwarzem Umhang auftauchte. Durch das wenige Licht, dass von der Straße in das Haus viel, erkannte Constable Eliot das Gesicht nicht. Die Gestalt schien zu grinsen und Eliot erkannte einen scharfen Eckzahn sowie eine lange schmale Narbe am Kehlkopf. Noch bevor er etwas sagen konnte, sprang die Gestalt von der Treppe und verschwand durch die Haustür.
Eliot blieb noch ein paar Minuten regungslos stehen, bevor er nach Absent sah.


IV



Am nächsten Morgen saß Chief Inspector John Absent in seinem Büro im Polizeirevier. Mit seiner rechten Hand hielt er einen Eisbeutel fest, den er auf seinen Hinterkopf drückte.
Constable Peter Eliot saß ihm gegenüber und trank Kaffee.
«Constable Eliot, haben Sie Sergeant Grocer Bescheid gegeben, dass er und seine Männer das Haus der Bakers durchsuchen sollen?»
«Ja, Chief Inspector Absent.»
«Gut gemacht, Constable. Irgendwas muss unser Freund gesucht haben.», sagte Absent mit einem schmerzenden Gesichtsausdruck.
«Wollen Sie auch einen Kaffee, Chief Inspector?»
«Nein, danke. Constable, wir werden nachher zu Mrs. Black fahren. Auf dem Weg dorthin werden wir einen kurzen Zwischenstop am Bahnhof West Brompton einlegen. Ach, und besorgen Sie doch bitte ein Geschenk.»
«Ein Geschenk?», fragte Eliot verdutzt.
«Ja, Constable. Wir werden am kommenden Wochenende auf einer Geburtstagsfeier sein.»
Constable Eliot nickte zustimmend und trank seinen Kaffee weiter.

Ein junger Mann stand am Fenster und beobachtete, wie Blätter von einem Eichenbaum fielen. Hinter ihm brannte ein Feuer im Kamin. Über dem Kamin hing ein Porträt von einem stattlichen Mann mit dunkelbraunen Augen und schwarzem Haar. In der linken Hand hielt der Mann eine Zigarre.
«Broin! Du bist schon zurück?», fragte eine helle Frauenstimme quer durch den Raum.
Der junge Mann, der am Fenster stand, drehte sich um und nickte.
«Was hast Du herausgefunden?», fragte die Frau, während sie durch das Zimmer ging.
«Ella ist bei Amanda. Sie ist vor drei Tagen mit dem Zug zu ihr gefahren.»
«Das dachte ich mir. Amanda hat am Wochenende Geburtstag.»
«Außerdem war die Polizei gestern Abend im Haus der Bakers.»
«Haben Sie Dich gesehen?», fragte die Frau.
«Es waren zwei Männern. Den einen Polizisten habe ich angegriffen. Er hat mir den Fluchtweg versperrt. Keine Angst, er lebt noch. Der andere Polizist ist mir auf der Treppe nach unten über den Weg gelaufen. Ich bin von der Treppe gesprungen und durch die Haustür in den Hyde Park entkommen.»
«Haben Sie dein Gesicht gesehen?»
«Nein, Meisterin. Dafür war es zu dunkel im Haus. Außerdem hatte ich meinen Umhang tief in mein Gesicht gezogen.»
«Ich bin sicher, dass die Polizei mich in den nächsten Tagen aufsuchen wird. Richard hat ihnen bestimmt meine Adresse gegeben. Ich denke auch, dass es die beiden Männern sein werden, die Dir gestern im Haus der Bakers begegnet sind.», sagte die Frau mit dem hasselnußbraunem Haar, bevor sie sich auf das burgundrote Sofa setze.
Der junge Mann verharrte noch einen Moment, bis er sich wieder zum Fenster umdrehte.

Es klopfte an der Bürotür von Chief Inspector John Absent.
«Herein!», rief Absent, der immer noch den Eisbeutel auf seinen Kopf drückte.
Ein hochgewachsener Mann in Uniform betrat das Zimmer.
«Guten Tag, Chief Inspector.»
«Guten Tag, Sergeant Grocer. Bitte nehmen Sie doch Platz.»
«Danke.»
So setzte sich Sergeant Grocer gegenüber von Chief Inspector Absent. Er nahm seinen Polizeihelm ab, legte diesen vor sich auf den Schreibtisch und holte dann ein gefaltetes Blatt Papier aus der rechten Brusttasche seiner Uniform.
«Was ist das?», fragte Absent.
«Ich habe mir ein paar Notizen gemacht, Chief Inspector. So viel ich weiß, wurde Mrs. Baker erstochen in ihrem Haus aufgefunden. Die Tatwaffe wurde von Dr. Parker entfernt und von uns mitgenommen.»
«Worauf wollen Sie hinaus?»
«Die Tatwaffe, die wir gestern mitgenommen haben, ist ein Messer. Als meine Männern und ich heute uns nochmal im Haus umgesehen haben, ist uns aufgefallen, dass ein Dolch fehlt. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, ob dieser Dolch gestern auch schon gefehlt hat.»
Bevor Chief Inspector Absent darauf antworten konnte, kam Constable Eliot durch die Tür ins Büro.
«Ah, Constable Eliot! Gut, dass Sie kommen! Sergeant Grocer berichtet mir gerade, dass ein Dolch fehlt.»
«Ein Dolch? Mr. Baker hat gestern nicht erwähnt, dass ein Dolch fehlt.»
«Vielleicht hat er es uns nicht gesagt, weil es die Mordwaffe war?!», sagte Absent scharf.
«Wo sagten Sie, fehlte der Dolch, Sergeant?»
«Im Salon gibt es eine Tür, die zu einem kleinen Raum führt. Die Tür sieht man nicht sofort, wenn man den Salon betritt. Vor der Tür hängt ein Vorhang. In diesem kleinen Raum hängen mehrere Waffen an der Wand. Die Waffen sind mit kleinen Haken befestigt. Ein Haken jedoch war frei.»
«Wenn Sie mir diese Zwischenfrage erlauben, Sergeant.», meldete sich Constable Eliot zu Wort, «Woher wissen Sie, dass es sich bei der fehlenden Waffe um einen Dolch handelt?»
«Gute Frage, Constable.», bemerkte Absent.
«Nun, unter jeder Waffe hängt ein kleines Messingschild mit der Bezeichung und Herkunft der Waffe.», antwortete der Sergeant.
«Dann haben wir jetzt ein Problem mehr, Constable Eliot.», sagte Absent und fuhr fort,
«Danke Sergeant, Sie können nun gehen.»
Sergeant Grocer nahm seinen Helm, erhob sich vom Stuhl und verließ das Büro.
«Chief Inspector?», fragte Eliot.
«Ja, Constable. Unser neues Problem. Also entweder wurde Mrs. Baker mit dem fehlenden Dolch ermordet und die Tatwaffe, die wir gefunden haben, wurde nachträglich in den leblosen Körper gesteckt oder Mrs. Baker wurde mit beiden Waffen ermordet und der Täter hatte nicht mehr die Möglichkeit, die eine Tatwaffe zu entfernen. Diese Theorie würde Mr. Baker entlassten.»
«Es wäre ebenfalls möglich, dass sich der Dolch bei einem unserer bekannten Verdächtigen befindet oder bei der Gestalt, die uns gestern Abend im Haus der Bakers über den Weg gelaufen ist.», warf Constable Eliot ein.
«Das wäre möglich. Nun, ich denke, dass wir uns auf den Weg zum Bahnhof West Brompton und zu Mrs. Black machen sollten.», sagte Chief Inspector Absent, während er seinen Trenchcoat überwarf.

Nachdem Chief Inspector John Absent und Constable Peter Eliot eine halbe Stunde im Bahnhof West Brompton vebracht hatten, fuhren sie mit dem Wolseley 6 weiter zu Mrs. Black.
«So eine Bahnkarte ist ganz schön teuer, Chief Inspector.»
«Eliot, wir haben keine Zeit, uns über solche Sachen Gedanken zu machen.»
«Ja, Chief Inspector.»
«Eliot, wissen Sie, wer Mrs. Black ist?»
«Eine Tatverdächtige?», fragte Eliot verwirrt.
«Ja, genau. Eine Tatverdächtige und eine angebliche Witwe.»
«Eine angeblich Witwe?»
«Haben Sie nie von Simon Black gehört, Eliot?», fragte der Chief Inspector.
«Nein, Chief Inspector.»
«Simon Black soll vor drei Jahren im Moor ertrunken seien. Eine Leiche hat die Polizei nie gefunden.»
«Im Moor ertrunken?», fragte Eliot, der inzwischen Mühe hatte, den Wagen auf der Straße zu halten, da es begonnen hatte zu regnen.
«Ja, Eliot. Simon Black und seine Frau Elaine waren bei Freunden zu Besuch. Nach der Aussage von Elaine Black interessierte sich Simon Black schon immer für das Moor. Eines Tages ist er ins Moor gegangen und kam nie wieder.»
«Ich kann Ihnen nicht folgen, Chief Inspector.»
«Eliot, die Freunde der Blacks wohnten in einem kleinen Dorf, das fast vollständig vom Moor umgeben war. Die Polizei suchte tagelang nach Simon Black, doch ohne Erfolg.
Seit drei Jahren ist Elaine Black für mich eine angebliche Witwe. Ich glaube nicht, dass Simon Black ertrunken ist.»
«Aber Chief Inspector. Alles spricht doch dafür, dass Simon Black tot ist.»
«Vielleicht, Eliot. Aber eine Leiche hat die Polizei nie gefunden.», sagte Chief Inspector Absent, bevor er Constable Eliot anwies, den Wolseley 6 anzuhalten.

«Mrs. Black wohnt Cadogan Square No. 11.», erwähnte Eliot, nachdem er ausgestiegen war.
«Wir werden auch schon erwartet, Eliot.», sagte Absent und deutete mit seinen Augen Richtung Haus.
Mrs. Black stand hinter dem Fenster rechts neben der Haustür. Finster blickte sie zu John Absent und Peter Eliot.
«Sehen Sie mal, Eliot. Mrs. Black redet...»
«Vielleicht hat sie Besuch, Chief Inspector.»
«Vielleicht, Eliot. Lassen Sie uns gehen.»
Beide Männer gingen zur Haustür. Eliot wollte den Türklopfer gerade benutzen, als Mrs. Black ihnen die Tür öffnete.
«Guten Tag, Chief Inspector Absent. Wie geht es Ihnen? Sind Sie gekommen, um mit mir über meinen verstorbenen Mann zu sprechen?»
«Guten Tag, Mrs. Black. Nein. Mein Kollege und ich hätten ein paar Fragen an Sie. Es geht um Mr. und Mrs. Baker.»
«Gut, meine Herren. Dann kommen Sie doch herein. Wenn Sie bitte nach rechts in den Salon gehen würden.»
Absent ging voraus und Eliot folgte ihm. Mrs. Black schloß die Haustür und folgte den beiden Männern.
«Bitte setzen Sie sich doch.», bat Mrs. Black den beiden an.
«Danke, Mrs. Black. Hatten Sie eben noch Besuch?», fragte Absent, während er auf zwei Gläser deutete, die auf dem Tisch vor dem burgundroten Sofa standen.
«Ja, Chief Inspector. Mrs. Whistle, eine alte Freundin, war vor einer halben Stunde bei mir.»
«Mrs. Whistle, sagen Sie?», fragte Eliot.
«Ja, Mrs. Whistle. Stimmt etwas nicht?»
«Wissen Sie, dass Mrs. Whistle die Wirtschafterin von Mr. Orbinson ist?»
«Ja, natürlich.»
«Hat Ihnen Mrs. Whistle auch erzählt, dass ich und mein Constable gestern bei ihr waren?», fragte Absent scharf.
«Ja, hat sie. Obwohl sie mir nicht sagen konnte, warum Sie beide dort waren. Claire meinte nur, dass Sie zu Mr. Orbinson wollten.»
«Kennen Sie Mr. Orbinson, Mrs. Black?», fraget Eliot.
«Ja, natürlich. Wir beide haben uns schon mehrmals auf den Geburtstagen von Mrs. Amanda Griffin getroffen. Amanda ist eine Freundin von mir. So viel ich weiß, ist Amandas Mann mit Mr. Orbinson befreundet.»
«Haben Sie auch eine Einladung bekommen?», fragte Absent.
«Ja, Chief Inspector.», antwortete Elaine Black rasch und fuhr fort, «Ich werde aber nicht hinfahren.»
«Warum?», wollte Eliot wissen.
«Mein Mann und ich waren vor drei Jahren bei Amanda und William zu Besuch. Es war an einem Montag, als mein Mann ins Moor ging. Er wollte nur wandern und ein paar Zeichnungen anfertigen.», sagte Elaine Black, während sie durch den Salon ging und auf einige Bilder an der Wand zeigte.
«Ihr Mann? Wie oft wollen Sie uns noch sagen, dass Ihr Mann im Moor verschwunden und womöglich ertrunken ist?», reagierte Absent forsch.
«Chief Inspector, Sie können die Vergangheit nicht rückgängig machen. Sie haben Ihrem Kollegen bestimmt von der Geschichte um meinen Mann erzählt?!»
«Ja, der Chief Inspector hat es mir erzählt.», antwortete Eliot.
«Der Chief Inspector hat Ihnen aber bestimmt nicht gesagt, dass er und sein Kollege Alan Crab meinen Mann damals im Moor gesucht haben, oder? Und, dass Alan Crab dabei wie mein Mann auch im Moor ertrunken ist, weil Ihr Chief Inspector nicht aufgepasst hat.»
Eliot schaute fassungslos Chief Inspector John Absent an. Dieser zeigte kein Regung. Stattdessen zündete er sich eine Zigarette an.
«Chief Inspector, in meinem Haus ist rauschen verboten. Also, würden Sie jetzt bitte gehen!», forderte Elaine Black ihn auf.
Absent blickte kurz zu Elaine Black auf, nahm einen kräftigen Zug aus der Zigarette und stand anschließend vom burgundroten Sofa auf.
Eliot folgte dem Chief Inspector Richtung Haustür, doch auf halben Wege drehte er sich um und blickte auf das Porträt über dem Kamin mit dem stattlichen Mann mit den dunkelbraunen Augen und dem schwarzen Haar, der in der linken Hand eine Zigarre hielt.
«Das ist mein Mann, Constable.», sagte Elaine Black, die erst jetzt vom Sofa aufgestanden war.
Eliot wollte etwas sagen, doch schüttelte dann nur den Kopf und ging zur Haustür. Der Chief Inspector war inzwischen schon wieder am Wolsley 6.
Eliot war gerade aus der Haustür, als Elaine Black noch hinter ihm her rief:
«Ach, Constable. Grüßen Sie Amanda von mir.»
Constable Eliot antwortete nicht mehr und ging ebenfalls zum Wagen. Sowohl er als auch Absent stiegen ein und fuhren los.
«Sind der Chief Inspector und sein Constable wieder weg?», fragte eine Stimme aus einem kleinen Nebenzimmer.
«Ja, und Du wirst die beiden Männer begleiten. Sie sind auf dem Weg zu Ella und Amanda. Recak wird Dich und Ella auch schon erwarten. Die nächsten Mooraugen sind schon in vier Tagen.»
«Ja, meine Meisterin.», antwortete Broin mit finsterer Stimme.

«Eliot, sobald wir wieder auf dem Revier sind, veranlassen Sie bitte, dass Sergeant Grocer mit seinen Männern Bryan Smith beschatten und falls notwendig verfolgen sollen. Ich bin mir sicher, dass er auch zu Amanda Griffin fahren wird.»
«Ja, Chief Inspector», antwortete Eliot, während er versuchte den Wagen auf der Straße zu halten, da der Regen immer stärker wurde.
«Chief Inspector? Die Sache mit Alan Crab?», fragte Eliot vorsichtig.
«Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, Eliot. Eines Tages werde ich Ihnen erzählen, was vor drei Jahren vorgefallen ist. Ach ja, und sagen Sie Constable Haulage, dass er Mrs. Black beschatten soll.»
«Jawohl, Chief Inspector.», sagte Eliot, während er links auf den Hof des Polizeirevieres bog.

Jemand öffnete eine dunkelgestrichene Pforte, ging durch ein Meer von Sonnenblumen, um schließlich den Türklopfer an der Haustür zu benutzen.
Eine kleine rundliche Frau mit sehr kleinen Füssen öffnete die Tür.
«Tante Amanda, schön Dich zu sehen.», sagte eine helle freundliche Stimme.
Die kleine rundliche Frau suchte mit ihrer rechten Hand nach ihrer Brille, die um ihren Hals hing.
«Warte, ich helfe Dir.», sprach die helle freundliche Stimme und nahm mit beiden Händen die Brille der alten Frau, um diese dann an ihren Platz zu setzen.
«Danke. Ella, Kind, Du bist es. Schön Dich zu sehen.»
Ella lächelte.
«Komm doch herein. Du bist die Erste. Der Rest wird wohl morgen kommen.»
Ella Baker folgte Amanda Griffin ins Haus.


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Tag der Veröffentlichung: 19.09.2009

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