Erschrocken fuhr Marie mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch. Schnell knipste sie ihre Nachttischlampe an und versuchte sich zu beruhigen. Aber das Atmen fiel ihr schwer. Zu schlimm lastete der Alptraum auf ihr, den sie gerade gehabt hatte. Müde sank Marie in ihre Kissen zurück und grübelte was wohl schlimmer sei, ihr reales Leben, oder die Träume, die sie immer wieder verfolgten. Ohne zu einem Ergebnis zu kommen, fiel sie erneut in einen unruhigen Schlaf.
Marie versuchte Morgens immer als Erste aufzustehen, um möglichst unbemerkt das Haus verlassen zu können. Doch als sie an diesem Morgen wach wurde, hörte sie bereits den heftigen Streit ihrer Eltern, der aus der Küche zu ihr drang. Marie wollte gar nicht ihr Zimmer verlassen, weil sie Angst hatte, wieder zwischen die Fronten zu geraten. Aber sie wollte auch gerne zur Schule gehen, denn das Lernen machte ihr viel Spaß. Es lenkte sie von ihren Sorgen ab und außerdem fand sie ihre Lehrerin besonders nett.
Ganz vorsichtig öffnete Marie einen spaltbreit ihre Zimmertür. Die Eltern schrieen sich an und der Vater suchte mit Gewalt ihre Mutter zum Schweigen zu bringen. Das tat Marie in der Seele weh, aber sie traute sich nicht dazwischen zu gehen. Deshalb zog sie sich schnell an und verließ ohne Frühstück und ohne sich zu waschen das Haus. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte Marie zur Schule.
Wieder einmal war sie die Erste dort. Sie setzte sich in eine Ecke des Schulhofes und Tränen traten in ihre Augen. Sie hatte keine Kraft mehr, tapfer zu sein. Zu groß lastete der Kummer auf ihrer zarten Seele. Sie schluchzte, dass einem das Herz zerreißen konnte.
So fand ihre Lehrerin sie und hatte großes Mitleid mir ihr. Zärtlich schloss sie Marie in ihre Arme. Aber Marie konnte sich nicht mehr beruhigen. Plötzlich hörte sie eine zarte, harmonische Musik und lauschte. Über die Musik vergaß Marie ihren Kummer und sah, dass ihre Lehrerin eine kleine Spieluhr in der Hand hielt. Aus dieser ertönte die Musik und auf ihrem Deckel tanzte eine goldene Elfe mit durchscheinenden Flügeln. Marie konnte es kaum glauben, als die Lehrerin ihr die Spieluhr schenkte. In ihrem ganzen Leben hatte Marie noch nie so ein schönes Geschenk bekommen.
An diesem Vormittag konnte Marie sich nicht konzentrieren und die Hänseleien ihrer Mitschüler über ihr ungepflegtes Aussehen bemerkte sie kaum. Da Marie sehr schüchtern war und sich nichts zutraute, hatte sie nirgends Freunde, aber auch das machte ihr an diesem Tag nichts aus, denn ihre Gedanken waren nur noch bei der Spieluhr und sie konnte es kaum erwarten, sie in ihrem Zimmer anhören zu können.
Nach der Schule flitzte sie schnell nach Hause in ihr Zimmer und versank ganz in die Musik der Spieluhr, während sie den Tanz der Elfe beobachtete. Wie leicht und sorglos sie tanzte, wie schön sie aussah und Marie fragte sich, wie es wohl in der Welt der Elfen sein mochte.
Plötzlich riss lautes Geschrei Marie aus ihren Gedanken. Die Tür wurde aufgerissen und ihr Vater stand bebend vor Wut im Zimmer. Er schrie und schimpfte mit ihr, weil sie ihre Hausarbeit noch nicht erledigt hatte. Marie blieb in ihrer Familie nichts anderes übrig, als sich um den Haushalt zu kümmern, denn zu oft war ihre Mutter nicht in der Lage dazu, weil sie zu betrunken war und ihr Vater wurde sofort böse, wenn es nicht seiner Ordnung entsprach. Aber auch das ertrug Marie irgendwie. Nun machte sie sich so klein wie möglich und wäre am liebsten unsichtbar geworden. Sie entschuldigte sich, aber nichts konnte den Vater beruhigen. Er packte sie an den Haaren, um sie aus dem Zimmer zu zerren. Dabei fiel Marie die Spieluhr auf den Boden. Das machte den Vater noch wütender. Er keifte sie an: „Woher hast du denn dieses blöde Ding?“ Marie wagte nicht zu antworten. Im Rausgehen trat der Vater so heftig gegen die Spieluhr, dass die Elfe abbrach und die Dose in tausend Stücke zerbarst. Marie kämpfte mit den Tränen, so groß war ihr Schmerz darüber. Aber das durfte ihr Vater nicht sehen.
Traurig verrichtete sie ihre Arbeit, während ihre Mutter teilnahmslos am Tisch saß und sich an einer Flasche Schnaps festhielt. Marie hatte das Gefühl, als sei ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, als bliebe ihr nichts mehr in diesem Leben. Sie fühlte sich so überflüssig und allein.
Nachdem sie alles erledigt hatte, schlich sie hoffnungslos in ihr Zimmer zurück. Sie sammelte alle Bruchstücke zusammen, aber die Uhr ließ sich nicht reparieren. Marie saß wie gelähmt vor Trauer und Schmerz auf ihrem Bett und hielt die Elfe fest umschlossen.
Wie lange Marie dort reglos gesessen hatte, wusste sie nicht mehr, aber irgendwann spürte sie ein Kitzeln in ihrer Hand. Als sie genauer hinsah, bemerkte sie sanfte Flügelschläge. Sie traute ihren Augen kaum. Konnte es wahr sein, dass die Elfe lebendig war? Vorsichtig öffnete sie ihre Hand und da bemerkte sie auch wieder die sanfte Musik. Fröhlich flatterte die Elfe um ihren Kopf und flüsterte in Maries Ohr: „Ich bin für dich bestimmt. Ich möchte dir helfen glücklich zu werden.“
Marie hatte große Angst, dass ihr Vater wieder ins Zimmer stürzen und sie finden könnte. Er war zu den schlimmsten Dingen fähig. Aber die Elfe wisperte: „Vertrau mir, versuch dich auf mich einzulassen. Deine Seele braucht Hilfe.“
Hilfe brauchte Marie wirklich, denn schon so lange konnte sie das Leben kaum aushalten. Die Elfe versprach ihr: “Wenn du die Augen schließt , ganz tief eintauchst in die Musik und dich von mir führen lässt, werde ich dir zeigen, wie es im Elfenland ist.“ Marie fiel es leicht, sich mitreißen zu lassen, denn zu oft schon war sie in ihren Träumen weit weg geflohen. Wie durch ein Fenster konnte Marie das Treiben im Elfenland beobachten. Wie schillernd ihre Flügel leuchteten, wie sorglos sie umher schwebten und wie liebevoll sie miteinander umgingen. Alles leuchtete in bunten Farben und jeder schien glücklich zu sein. Marie wollte auch endlich glücklich sein.
Die Elfe ließ Marie lange Zeit, um alles zu betrachten. Beim Zusehen wurde Maries Herz ganz schwer. Wie fröhlich die Elfen doch waren und wie traurig sie selbst war.
Marie war ganz verzaubert von der Elfenwelt, als die Elfe sie ansprach: „Es steht dir frei, zu gehen. Du kannst diese Welt verlassen und mit mir ins Elfenreich kommen. Es wird nicht lange dauern, bis dir Flügel wachsen und du auch eine Elfe wirst. Allerdings darfst du niemandem sagen wo du hingehst, du darfst dich nicht verabschieden und du wirst auch nie wieder zurückkehren können.“
Was für ein verlockendes Angebot. Maries sehnlichster Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Sie könnte all dem Grauen in ihrer Welt entfliehen. Sie könnte Freunde finden und wäre nicht mehr so einsam. Sie würde gesehen und anerkannt und nicht mehr nur benutzt werden. Sie könnte sich sicher fühlen und würde endlich glücklich werden.
Aber ihre Eltern brauchten sie doch. Was würde ihr Vater tun, wenn sie auf einmal verschwunden wäre. Sie durfte ihre Mutter nicht im Stich lassen. Wenn sie ginge, wäre sie böse und schuldig. Sie könnte es nie wieder gut machen. Sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen, denn sie liebte sie doch. Sie wollte lieb sein, sie wollte gehorchen. So sehr sie sich ein anderes Leben wünschte, Marie konnte nicht mit der Elfe gehen.
Die Elfe gab Marie noch Bedenkzeit und versprach, jeden Abend nach ihr zu sehen. So vergingen die Tage und die Elfe musste zusehen, wie Marie immer trauriger und ängstlicher und ihre Welt immer dunkler wurde. Es verging kaum noch ein Tag, an dem es keinen Streit gab. Ihr Vater war jeden Tag zorniger und ließ es alle spüren. Ihre Mutter konnte die Wut des Vaters nicht aushalten und ließ sie an Marie aus, indem sie sie immer wieder kniff, sie zum Stolpern brachte, oder Gläser verschüttete. Nirgends fühlte sich Marie noch sicher. In der Schule wurde sie verspottet und zu Hause musste sie sich um den Haushalt kümmern. Aber so sehr sie sich anstrengte, es reichte ihren Eltern nie und sie schlugen und beschimpften Marie immer heftiger. Ihr Vater hatte nicht einmal ein nettes Wort für sie, als sie ihrer Mutter ins Bett half, weil diese sich durch den Alkohol nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Schlimmer noch, ihr Vater hielt sie für schuldig, weil sie ihrer Mutter den Alkohol gekauft hatte.
Marie wollte das nicht mehr. Sie fühlte sich erschöpft, einsam und leer. Als an diesem Tag die Elfe nach ihr sah, war ihre Sehnsucht nach einer anderen Welt unglaublich groß. Eine Welt in der sie angenommen würde. Eine Welt in der sie sicher war und Trost und Glück fände. Heute wollte sie mitgehen. Die Elfe hielt ihr ein schwarzes, durchscheinendes Tuch hin, aus dem sie auch die sanfte Musik hören konnte. Durch dieses sollte Marie in die Elfenwelt gehen.
Marie seufzte tief und trat hindurch in eine andere Welt.
Maries Vater tobte, als er sie nicht fand. Die Mutter durchsuchte jeden Winkel der Wohnung, alle Spielplätze, die ganze Stadt, aber Marie blieb für immer verschwunden. Nur über das seltsame, schwarze Tuch, aus dem scheinbar Musik drang, wenn man genau hinhörte, machte sich die Mutter noch lange Gedanken.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2011
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