Mit leerem Gesichtsausdruck und in sich eingefallen saß ein alter Mann auf einer Parkbank. Er nahm weder den Stadtsee vor sich, die spielenden Kinder hinter sich auf dem Spielplatz, die Jogger oder sonst etwas wahr.
Seit dem Vormittag saß er hier und hatte sich kein einziges Mal bewegt. Die Hände lagen schlaff im Schoß. Einige Passanten hatten ihn angesprochen, aber keine Antwort erhalten. Da er unverletzt schien machten sie sich weiter keine Gedanken und gingen wieder ihrer Wege.
Die Sonne versank langsam hinter der Skyline der Stadt. Ein letzter Strahl rot und orange traf auf den See, dann senkte sich langsam die Nacht herab. Seufzend kehrte der Mann aus seinen Gedanken zurück, bewegte vorsichtig die Arme und Beine und erhob sich dann mühsam. Langsam, mit zittrigen Schritten verließ er den Park und lenkte seine Schritte in Richtung Innenstadt.
Vor einem modernen Gebäude hielt er an. Suchend schaute er an dem Gebäude hinauf, wusste er doch, wo das Zimmer seiner Liebe des Lebens war. Kurz rang er mit sich selbst, doch dann betrat er das Gebäude, ging an der Rezeption vorbei und betrat den Aufzug, der im hinteren Bereich war. Leise schlossen sich die Türen, und die kurze Fahrt in den vierten Stock begann. Es war die schwerste und härteste Fahrt seines Lebens.
Er hatte sich entschieden. Es war ihm schwergefallen und er hatte heftig mit sich selbst gehadert, doch er musste das tun, was für Hermann das Beste war.
Wie in Trance verließ er den Aufzug und näherte sich der weißen Tür, auf der die Nummer „412“ prangte. Er legte die Hand auf die Türklinke und verharrte. Er atmete einmal tief ein und wieder aus, dann betrat er das Zimmer.
Halbdunkel empfing ihn, es brannte nur eine kleine Lampe über dem weißen Bett. Langsam näherte er sich dem Mann, der in diesem Bett lag. Er stellte sich an das Fußende und blickte seinem Liebsten ins Gesicht. Alt sah er aus, verbraucht. Fältchen zogen sich durch das Gesicht, vor allem um die Mundwinkel und die Augen. Lebensfroh, agil, quirlig, so hatte er ihn immer beschrieben und auch seine Falten zeugten davon.
Leise zischte ein Gerät rechts vom Bett, woraufhin sich Hermanns Brust hob und wieder senkte. Schläuche führten in seinen Körper und andere wieder hinaus. Ein Schlauch steckte in seiner Kehle. Hermann wurde künstlich beatmet, da sein Körper dies nicht mehr selbst konnte.
Leise setzte der Mann sich an das Bett, nahm Herrmanns Hand in seine eigenen und streichelte die zarte Haut, die bereits kälter wurde. Liebevoll glitt sein Blick über die ihm seit über vierzig Jahren so vertrauten Gesichtszüge.
„Ich liebe dich, Hermann, nichts wird daran etwas ändern können!“, sagte er leise und beugte sich nach vorne, um die leblosen Lippen zu küssen, wo er sie erreichen konnte. Es war ein wenig schwierig wegen des Schlauches, aber das hielt den Mann nicht ab.
Ein Herzinfarkt und zwei Schlaganfälle hatte Hermann überlebt. Aber der dritte war der heftigste gewesen. Seit fünf Tagen lag er nun hier und schlief.
Sie hatten sich ein paar Mal darüber unterhalten, was wäre wenn. Deswegen wusste der Mann, was Hermann für sich gewünscht hatte. Sie beide hatten ihre letzten Wünsche sogar schriftlich verfasst und bei einem Notar hinterlegt. Familie hatten sie beide keine mehr, Freunde fast keine. Zusammen hatten sie fast alle überlebt.
Es war Zeit, Hermann gehen zu lassen. Der Arzt hatte es ihm gesagt. Es gab keine Hoffnung mehr. Nur die Geräte hielten ihn noch am Leben.
Der Mann erhob sich, hielt Hermanns Hand weiter umschlungen. Er drückte den Knopf für die Schwester, die auch wenige Minuten später hereinkam. Der Mann nickte, und die Schwester verstand. „Möchten Sie es tun, oder soll es lieber jemand von uns übernehmen?“; fragte sie.
„Nein, ich mache das. Das hätte er so gewollt!“, sagte er und die Schwester zog sich leise zurück.
Er beugte sich über den Liebsten, hauchte einen zarten Kuss gegen die Lippen und betätigte den Schalter.
Die Maschinen verstummten, dafür schlugen die Geräte Alarm. Der Mann schaltete sie aus, so, wie es ihm am Vormittag gezeigt worden war.
Er setzte sich wieder auf den Stuhl und begann zu singen. Ihr Lied. Zudem sie zum ersten Mal getanzt hatten. Eine Träne löste sich aus einem Auge, lief die Wange hinunter und tropfte auf die immer kälter werdende Hand.
Minuten später kam ein Arzt. Der Mann erhob sich und trat beiseite. Sämtliche medizinischen Geräte wurden entfernt. Alles ging sehr leise vonstatten. Genauso leise zog sich das Personal zurück, so dass der Mann sich allein verabschieden konnte.
Karsten zog sich das Jackett aus, öffnete sein Hemd und hob dann die Laken, unter denen Hermann lag. Er legte sich zu seinem Liebsten, zog ihn in die Arme und kuschelte sein Gesicht in Hermanns Halsbeuge, zog noch einmal dessen ureigensten Duft ein, bevor auch dieser vergehen konnte.
Über vierzig Jahre hatten sie zusammen gelacht, gelebt, sich geliebt.
Ohne Hermann konnte er sich nicht vorstellen. Karsten spürte, wie eine bleierne Müdigkeit sich über hin senkte, in seine Glieder drang.
Er zog seinen Liebsten an die Brust und hauchte: „Du gehst nicht allein hinüber ins Unbekannte. Wir haben geschworen, dass wir uns nie trennen und immer lieben! Hermann, ich liebe dich!“
Dann schloss er die Augen.
Epilog:
Es gab nur ein Doppelgrab, sodass die Liebenden im Tod wie auch im Leben beisammen sein konnten.
Auf dem Grab stand:
Für immer vereint, nie allein, den du bist die andere Hälfte meiner Seele
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2013
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