Nach einem komplizierten Armbruch lag ich im Krankenhaus. Eine Operation war nicht zu vermeiden. Acht Tage sollte ich dort verbringen.
Dort lernte ich Luise eine 54jährige krebskranke Frau kennen. Sie hatte sich erst drei Jahre zuvor von ihrem Mann getrennt und wollte ein neues und glücklicheres Leben beginnen. Der Neustart war nicht leicht, erzählte sie mir. Doch sie fand eine gut bezahlte Arbeit und eine schöne Wohnung, hatte einen netten Freundeskreis und zwei erwachsene Kinder, mit denen sie sich gut verstand. Ihre unglückliche Ehe war Vergangenheit. Das Leben meinte es gut mit ihr. Endlich!
Dann kam der Tag, der alles zunichte machte. Sie hatte schon länger Magenprobleme, dachte an ein Magengeschwür, ausgelöst durch Aufregungen und Stress nach der Trennung. Magengeschwüre sind nicht lebensgefährlich, man kann sie gut behandeln, wie ihr Hausarzt versicherte. Sie glaubte ihm nur zu gern. Trotzdem wollte ein unbestimmtes mulmiges Gefühl nicht weichen: Es könnte auch etwas Ernstes sein.
Und so war es dann auch. Die Diagnose lautete "Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium". Sie konnte kaum weiter sprechen: "Meine Welt brach zusammen. Das Leben hatte plötzlich seinen Sinn für mich verloren. Doch da sind meine Kinder, sie sind zwar schon erwachsen, aber ich wollte noch so lange wie möglich für sie da sein. Meine Enkel werde ich wohl nicht mehr kennenlernen."
Es folgten Chemotherapien, die sie nur schlecht verkraftete. Eine neue Chemo stand ihr in den nächsten Tagen bevor. Ich fand kaum Worte des Trostes, also hörte ich nur weiter zu. Mit leiser, müder Stimme bedankte sie sich bei mir, weil ich ihr zugehört hätte. In den folgenden Tagen setzte ich mich öfter an ihr Bett, um mit ihr zu reden - aber auch zu schweigen.
Mein Arm würde heilen, auch wenn es eine Zeitlang dauerte. Doch sie hatte keine Zukunft mehr, die Ärzte gaben ihr höchstens noch ein paar Monate. Am Tag meiner Entlassung nahm ich sie in den Arm. Sie wünschte mir alles Gute: "Genießen Sie das Leben. Es kann so schnell vorbei sein."
Eine Woche später wollte ich sie besuchen. Als ich das Zimmer betrat, war ihr Bett leer. Ich erfuhr, dass sie auf der Intensiv-Station lag. Ihr Zustand hatte sich sehr verschlechtert.
Nun stehe ich hier am Fenster, und weiß vergessen werde ich sie nie.
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2012
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