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Prolog



Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden... Man sagt, dass du vergessen wirst, was schlecht war, und dich an das erinnerst, was schön war...
Du vielleicht - ich nicht.
Denn ich kann nicht vergessen. Gar nichts.
Mein Name ist Pauline October. Viele sagen, mit meiner Gabe, mich an ausnahmslos alles zu erinnern, wäre mein Leben doch so viel einfacher als das der anderen Menschen. Ich dagegen empfinde sie in manchen Situationen ehr als Fluch. Sicher, man muss nichts auswendig lernen, aber dafür wird man zum Forschungsobjekt. Ein Preis, der zu hoch ist, finde ich.
Jeder, der auf den zweiten Blick meine Gabe erkannte, fragte mich, wie ich das machen würde. Ich kann auf diese Frage keine Antwort geben. Niemand kann das. Noch nicht einmal die Wissenschaft, für die ich nach wie vor ein großes Rätsel bin.
Ich selbst erkläre mir das Phänomen mithilfe eines Computers. Mein Kopf funktioniert wohl in etwas wie eine Festplatte. Alles, was ich sehe, höhre, fühle, schmecke, rieche, denke, erlebe... All das nehme ich auf und es wird auf die Festplatte gespeichert, wo es jederzeit wieder abrufbereit ist. Nur gibt es im Gegensatz zum Computer keine Opition "Löschen" - alle meine "Daten" sind praktisch wie "schreibgeschützt". Der Speicher scheint unbegrenzt zu sein.
Vermutlich bin ich der einzige Mensch, der diese Gabe hat. Vermutlich der einzige, der sich an seine eigene Geburt und an alles, was danach geschehen ist, erinnern kann.
Ich habe meine Geschichte noch nie jemanden komplett erzählt, aber nun habe ich erfahren, dass ich an Krebs leide. Offenbar einer von der sehr aggressiven Sorte, denn er breitet sich rasch aus und man hat mir versichert, dass ich nicht mehr sehr lange auf dieser Welt verweilen werde.
Aber ich hatte ein langes Leben, bin über neunzig Jahre alt geworden und habe es meiner Meinung nach verdient zu sterben. Deshalb möchte ich auch keine Behandlung anfangen. Was nützt das noch in meinem Alter?
Doch bevor ich mich Mutter Erde übergeben werde, möchte ich dir nun von meinen Erinnerungen erzählen, von meinem Leben. Die ganze Geschichte eines Menschen, der nichts vergessen konnte...

Wie alles begann...


Es schien die Sonne an diesem 29. Februar 1992, an dem meine Geschichte beginnen soll. Ich weiß es, denn ich habe ihre Strahlen gesehen, die die Wände und den Boden des Zimmers geküsst haben, in dem ich um die Mittagszeit geboren wurde.
In meinen ersten Sekunden des Lebens geschah das, was mein Leben besonders und auch besonders kompliziert machen sollte: Ein sonderbares Kribbeln meines gesammten Körpers erweckte meine Gabe. Von diesem Moment an konnte ich nichts mehr vergessen.
Ich weiß, das klingt seltsam. Das ist es auch, aber es ist wahr. An meine Geburt kann ich mich so klar erinnern, als wäre es erst vorhin geschehen, dabei liegt sie über neunzig Jahre zurück.
Meine Mutter hatte geschrien, als ich endlich komplett draußen war. Mein gesamter Körper war über und über mit roten, klebrig-flüssigem Zeug beschmiert. Blut, wie ich später lernte. Ein ekelhaftes Gefühl, zweifellos.
Allerdings befreite mich die Hebamme, eine kräftige blonde Frau, rasch von diesem ekelhaften Zeug und wusch mich. Meiner Mutter hatte man inzwischen gesagt: "Es ist ein Mädchen."
Das grauenhafte an meiner Geburt war jedoch nicht das Blut, sondern vielmehr die Kälte, die in diesem Zimmer herrschte. Ich habe geschrien - aus Leibeskräften - aber irgendwie hat mich wohl niemand so ganz verstanden. Stattdessen machte die Hebamme "Psst" und wiederholte immer wieder: "Ist ja gut." Ich verstand die Sprache dieser Wesen nicht. Und offenbar verstanden sie mich auch nicht.
"Pauline", sagte meine Mutter, neben der mein Vater stand. Er sah sie an und nickte. "Ja, Pauline", wiederholte er. "So soll sie heißen. Pauline October."
So sollte ich heißen. Pauline Ocotber. Da man mich ständig mit Pauline ansprach - zumindest glaubte ich, dass man mich ansprach, denn ich hörte zwar die Worte, verstand aber nicht, was sie bedeuten sollten und für wen sie bestimmt waren - begriff ich recht schnell, dass ich Pauline war.
Aber diese Sprache, in der alle um mich herum erzählten. Sie schüchterte mich ein. Ich kann die Worte wiedergeben, die meine Eltern gesagt haben, doch den Sinn und die Bedeutung darin, dass verstand ich erst später, als ich selbst erlernte, wie man mit dieser Sprache sich ausdrücken und verständigen konnte.
Das klingt seltsam, nicht wahr? Das klingt unverständlich für euch, ich weiß. Ich weiß es genau, denn es klang für alle bisher unverständlich, weil keiner so ganz genau versteht, wie es mir eigentlich geht mit meiner Gabe, nichts vergessen zu können...
Die ersten Tage musste ich durch verschiedene Zimmer, bekam verschiedene Menschen zu Gesicht, dir irgendwas mit mir machten, was ich nie so ganz verstand. Damals schon gleich gar nicht. Nach einer Woche nahmen mich meine Eltern aus dem Zimmer. Ich wurde in eine Babyschale gelegt und meine Mutter trug mich durch die verschiedenen Korridore.
Und dann sah ich das erste Mal die Welt außerhalb des weißen Gebäudes. Eine wunderschöne Welt, warme Sonnenstrahlen kitzelten meine Haut im Gesicht. Alle anderen Stellen waren mit viel Kleidung zugedeckt worden.
Meine Eltern brachten mich in ein Ding, dass brummte und sich irgendwie bewegen konnte. Später lernte ich, dass man so etwas "Auto" in der Sprache der Menschen nannte. Wir fuhren eine recht lange Zeit, aber sie verging recht schnell, denn so viele Eindrücke prasselten auf mich herab. Da war zum einen ein melodischer Klang, das Brummen des Autos, die Gespräche meiner Eltern - zum Teil auch mit mir - vorbei flitzende Schatten...
Irgendwann hielt Vater das Auto an und stieg aus. Dann lief er zur Tür meiner Mutter, öffnete diese und nahm die Schale mit mir, damit Mutter aussteigen konnte. Ich war an einem anderen Ort, vor mir stand ein großes, helles Haus.
"Willkommen zu Hause, Pauline", sagte meine Mutter und strich mir über die Wange. Mein Zuhause war ein wenig kühl, aber dank der vielen Decken und Kleidungsstücke, in die man mich eingewickelt hatte, spürte ich die Kühle nur als sanfte Brise in meinem Gesicht.
Vater nahm mich aus der Babyschale und legte mich in ein Bettchen. Es war aus Holz und wiegte sich langsam hin und her, während mein Blick auf den rosa Himmel fiel. Wenig später muss ich wohl eingeschlafen gewesen sein...

Die Sprache der Menschen


Ich lernte recht schnell, was ich tun musste, um Aufmerksamkeit zu bekommen: Schreien. Je lauter, desto besser. Egal was ich auch grade brauchte. Nur die Art, was genau mir fehlte, auszudrücken... Das ging irgendwie nicht. Meine Eltern verstanden mich zwar, aber eben auch nicht sofort. Ich schrie, Mutter oder Vater kam und sah mich an, grübelte kurz und stellte fest, dass ich Hunger hatte oder dringend mal musste beziehungsweise gemusst hatte.
Aber sie verstanden mich nur deshalb, weil sie inzwischen wussten, warum ich vielleicht schreien könnte. Schrie ich aber, weil ich Angst vor dem Wuff Wuff hatte, was plötzlich erklang (ich verstand später, dass die Nachbarn einen Hund, genauer einen Collie hatten), so wusste niemand, was mir fehlte. Es war einfach nur schrecklich und ich wünschte mir, dass man mich auch verstand und ich meine Eltern verstand. Bisher hörte ich sie nur.
Verstehen konnte ich sie nur ein wenig, da sie immer das Gleiche sagten, wenn sie etwas bestimmtes Taten. Zum Beispiel sollte "Heija" bedeuten, dass ich jetzt schlafen sollte, denn meine Eltern begannen dann, meine Wiege zu schaukeln und das machte mich furchtbar schläfrig. Aber das konnte doch nicht für immer so sein? Oder doch? Würde ich irgendwann auch die Sprache der Menschen sprechen können, die Sprache meiner Eltern, Großeltern und weiteren Familienmitglieder? Ich hatte schon einige davon gesehen, sie hatten alle eine unterschiedliche Stimme.
Die Stimme meines Opas war sehr streng und furchteinflößend, während die meine Oma eine ruhige, liebevolle Stimme hatte. Ähnlich wie die meiner Mutter. Meine Tante dagegen sprach sehr schnell und ich verstand kaum etwas. Ich glaube, ohne meine Gabe hätte ich mich auch nie an ihre ersten Worte mir gegenüber erinnern können.

Fortsetzung folgt...

Impressum

Texte: Handlungsträger sowie Handlungen entspringen der Fantasie der AutorinCover byhttp://img5.visualizeus.com/thumbs/fe/0a/rose,life,black,and,white,photography,red-fe0a7f94177cdf3906d5d66c738440ab_h.jpg
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2012

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