"Mum, ich geh’ nachher mit Shirley shoppen", sagte Vanessa. "Ich brauche ein bisschen Geld. Ich habe mein Taschengeld noch gar nicht bekommen!"
"Vanessa, dein Taschengeld bekommst du erst in einer Woche", erwiderte ihre Mutter. "Du gehst ständig shoppen und musst Markenklamotten haben. Wenn du dein Geld nicht zusammen halten kannst, ist das dein Problem."
"Aber Mum, ich brauche unbedingt eine neue Jeans für Shirleys Geburtstagsparty!", maulte sie. "Dort wird auch David sein. Und Jannik. Ich muss doch gut aussehen, sonst finden mich die Jungs hässlich und…"
"Vanessa, es reicht!", unterbrach ihre Mutter sie. "Du kannst mir doch nicht erklären, dass dir hundert Euro Taschengeld im Monat nicht reichen." Sie schüttelte den Kopf.
Vanessa stampfte auf und kehrte ihrer Mutter den Rücken zu. Wütend lief sie zurück in ihr Zimmer. Sie ging doch bloß jeden Freitagabend in die Disco und alle zwei Wochen mit Shirley, ihrer besten Freundin, shoppen. Und sie telefonierte unheimlich gerne mit ihr, manchmal sogar Stunden.
Nur ihre Mutter war nicht begeistert über ihre Handyrechnung, aber das war Vanessa so ziemlich egal. Ihre Familie war reich, sie musste nichts bezahlen und bekam viel Taschengeld. Um ihr Leben beneideten sie alle Mädchen in der Schule und die Kerle standen förmlich Schlange bei ihr.
Vanessa poste ein wenig vor ihrem großen Spiegel an der Wand. Leuchtend blonde Haare, stahlblaue Augen – allein deshalb flogen die Kerle auf sie. Ihre Augen waren mit schwarz umrandet und die Lider glänzten in einem Goldton.
Sie trug ein hautenges schwarzes T-Shirt mit der neonfarbenen Aufschrift "Sexy" und einer Kusslippe. Dazu eine knallenge, dunkelblaue Jeans und Schuhe mit sieben Zentimeter Absatz. Ja, die Jungs flogen nur so auf sie und das liebte sie.
"Nessa, hey!", rief David. "Du sieht fantastisch aus!" Vanessa umarmte ihn und ließ ihre Hand seinem Hintern hinab gleiten. "Hey, Dave", murmelte sie in sein Ohr. "Du sieht aber auch wirklich zum Anbeißen aus. Und du riechst unwiderstehlich…"
"Warum widerstehst du mir dann noch, Nessa?", säuselte er und küsste hungrig ihre Lippen. "Ich würde dich wirklich gern haben wollen, meine kleine sexy Braut."
"Deine sexy Braut?", erklang eine andere Stimme. "Sie steht ja wohl auf mich, Dave, nicht auf dich." Jannik legte besitzergreifend den Arm um sie. "Nicht wahr, Süße?"
"Jan, erzähl keinen Quatsch!", entgegnete David. "Sie steht nur auf mich!" Doch Jannik gab nichts auf Davids Wort und legte eine Hand auf ihren Po. Die andere wanderte an ihr Dekolté, welches extrem tief ausgeschnitten war, so dass jeder Kerl, der es drauf anlegte, ihren BH ohne große Mühe sehen konnte.
Vanessa genoss sichtlich die Geburtstagsparty ihrer besten Freundin Shirley. Sie war ebenfalls wohlhabend, liebte wie sie Markenklamotten und heiße Jungs, aber stand dennoch in Vanessas Schatten.
Erst am frühen Morgen nach vielen Flirts und Küssen mit den heißen Jungs machte sie sich auf den Weg nach Hause. Dave begleitete sie ein Stück bis zur dunklen Gasse, die direkt zu ihrem Haus führte. Plötzlich gingen die wenigen Straßenlaternen aus, welche das Ende der Gasse hell erleuchten ließen.
Vanessa blieb stehen. Vor ihr tauchte ein junges Mädchen auf. Sie trug einen langen, schwarzen Ledermantel und war dunkel geschminkt. Ihr schwarzes Haar fiel strähnig über die Schultern. Sie sah potthässlich aus, fand Vanessa und wollte gerade an ihr vorbei gehen, als das Mädchen sprach.
"Wo willst du hin, Vanessa?" Sie erschrak. Woher kannte die Kreatur ihren Namen. "Ich habe ein Geschenk für dich, Vanessa", sagte das Mädchen. "Du hast einen scheußlichen Charakter, bist verwöhnt und verachtest alle, die anders sind als du."
"Von dir will ich kein Geschenk!" Vanessa spuckte vor der Fremden auf den Boden. "Du widerst mich an, Schlampe!" – "Es steht dir nicht zu, mein Geschenk abzulehnen", sagte die Fremde.
"Dieses Medaillon bringt dich für einen Tag in eine andere Welt. Für dich wird in dieser Welt die Zeit still stehen, niemand wird dich vermissen. Bei Sonnenuntergang kehrst du zurück. Trage dieses Medaillon unter deiner Kleidung, niemand darf es sehen. Es wird dich sicher wieder hierher bringen, also verliere es nicht und erzähl niemanden davon, sonst musst du für immer in dieser anderen Welt bleiben!"
"Lass mich in Ruhe, du blöde Kuh!", schrie Vanessa. "Verschwinde!" Doch die Fremde hielt sie fest und legte ihr das Medaillon an. "Versuch nicht, es abzunehmen. Das wird nichts. Erst, wenn du in der anderen, längst vergangenen Welt bist."
Mit einem Mal war die Gasse wieder hell erleuchtet und das fremde Mädchen verschwunden. Vanessa ignorierte das Medaillon. Morgen würde sie es schon irgendwie abbekommen. Erstmal musste sie schlafen, um den Alkohol in ihrem Blut loszuwerden. Sie hatte mindestens acht Cocktails gehabt. Jeder wollte ihr etwas spendieren.
*****
Als Vanessa aufwachte, spürte sie hartes Holz unter ihrem Rücken. Hatte sie etwa auf dem Fußboden geschlafen? Sie öffnete die Augen und erklickte einen blauen Himmel. Komisch, hatte sie es etwas nicht einmal bis ins Haus geschafft?
Irgendetwas rauschte. War es in ihrem Kopf? Verwirrt setzte sie sich auf. Wie viel Alkohol musste sie noch in ihrem Blut haben, wenn sie glaubte, dass der Boden unter ihr schwankte?
Erst jetzt registrierte sie, dass sie gar nicht vor ihrem Haus oder in ihrem Zimmer war. Sie befand sich auf einem Holzschiff mit vielen, zerlumpt gekleideten Menschen. Sie passte mit ihrer Röhrenjeans, den Schuhen mit sieben Zentimeter hohem Absatz und ihrem "Sexy" – T-Shirt nicht so ganz zu den anderen.
Dann fielen ihr das Medaillon und die Fremde ein. Sie tastete nach einer Kette an ihrem Hals. Tatsächlich, sie trug das Medaillon. War das, was die Fremde gesagt hat, real? War sie wirklich in einer anderen Welt? In einer anderen Zeit?
Das Schiff für in einen Hafen ein und alle verwahrlosten Menschen wurden vom Deck gescheucht. Es waren mehr, als Vanessa zunächst angenommen hatte. "He!", rief sie und riss ihren Arm aus der Hand eines bewaffneten Mannes, der ein komisches Stoffgewand trug. Eine Art Kleid.
"Weiter!", schimpfte der Mann und stieß sie vorwärts, doch Vanessa weigerte sich. Sie stieß man nicht einfach so herum, wie es einem passte! Sie war Vanessa, die Beliebte! Was bildete sich dieser Mann im Kleid eigentlich ein!?
Ein anderer Mann fasste ihr Handgelenk und zerrte sie vorwärts in eine enge Gasse, so dass all die Menschen vom Schiff in einer Reihe stehen mussten. Alle kamen an einem weiteren Mann vorbei. Vanessa wollte weglaufen, doch immer stand ihr jemand im Weg.
"Name?", fragte ein weiterer Mann. Irgendwie schienen hier alle Männer Kleider zu tragen. "Vanessa Mayer", antwortete sie. "Was wollen Sie…?"
"Alter?", fragte der Mann und unterbrach sie, als hätte er sie gar nicht gehört. "Siebzehn", antwortete sie. "Wozu wollen…?"
"Fähigkeiten?", stellte der Mann die nächste Frage. Vanessa runzelte die Stirn. "Was geht Sie das…?" – "Fähigkeiten?", wiederholte der Mann die Frage. Doch Vanessa begann erneut zu protestieren. Mit einem Mal zog der Mann eine Peitsche hervor und ließ sie auf ihren Rücken knallen.
"Fähigkeiten?", fragte er. Doch noch ehe Vanessa wieder protestieren konnte und Luft holte, sauste die Peitsche erneut auf ihren Rücken herab. Sie jaulte auf und beschimpfte den Mann, wie er sie – Vanessa – so einfach ohne Grund auspeitschen konnte.
Erneut knallte die Peitsche auf ihren Rücken nieder. "Fähigkeiten?", plärrte der Mann. Vanessa verstand, dass sie wieder die Peitsche bekommen würde, wenn sie nicht so antworten würde, wie der Mann es wollte. "Ich… Ich kann küssen!", rief sie.
Der Mann schnaubte, ritzte irgendetwas auf ein Holztäfelchen und hing ihr dieses um den Hals. Dann wurde sie wie ein Tier in ein Gatter zu den anderen gesperrt. Nach und nach wurden die Menschen wieder heraus gezerrt und was dann passierte, sah Vanessa nicht.
Wieder packte ein Mann im Kleid sie am Arm und zerrte sie aus dem Gatter, wie zuvor die anderen Menschen. Dann stieß man sie auf ein Podest, hinter dem ein weiterer Mann hinter einen Pult stand. Er hatte einen Holzhammer in der Hand.
Das ganze wirkte ein wenig wie eine Versteigerung. Der Mann riss ihr Schild vom Hals und schrie über den Hof. "Vanessa! Siebzehn Jahre! Kann küssen!", erklang seine Stimme. Vor dem Podest hatten sie etliche Männer angesammelt. Alle trugen so ein komisches Kleid.
"Ich biete 150 Denare!", schrie einer dieser Männer. Dann schallte wieder die Stimme des Mannes mit dem Hammer über den Platz. "150 Denare sind geboten! Wer bietet mehr?"
"180 Denare!" – "180 Denare sind geboten! Wer bietet mehr?", rief der Mann mit dem Hammer. Wieder meldete sich einer der versammelten Männer zu Wort: "Ich biete 200 Denare!"
"200 Denare sind geboten! Wer bietet mehr?", schrie der Mann mit dem Hammer, doch keiner der Männer reagierte mehr. "Zum Esten…" Immer noch keiner, der sich meldete. "Zum Zweiten…"
Was war das eigentlich? Eine Versteigerung? Vanessa verstand die Welt nicht mehr. Wurde sie jetzt etwa versteigert? Aber warum? Und an wen? Und eigentlich war der Handel mit Menschen doch schon längst verboten worden, oder?
"Zum Dritten!", schallte die Stimme über den Platz, als der Hammer auf das Pult niederfuhr. "Verkauft an den Herren in der roten Tunika!"
"Tunika? Aber das trugen doch nur die Römer?", schoss es Vanessa durch den Kopf. "Hat mich die Fremde etwa in das antike Rom geschickt? Als Sklavin?" Sie schüttelte den Kopf. Nein, dass musste ein doofer Alptraum sein und gleich würde sie aufwachen.
Aber Vanessa wachte nicht auf. Der Mann in der roten Tunika griff ihren Arm und zog sie fort von dem Platz und durch die Gassen Roms, vorbei an dem Amphitheater, welches Vanessa aus ihrem Geschichtsbuch wiedererkannte. Allerdings war es noch ganz und schien jeder Zeit bereit zur Nutzung zu sein.
Dann betrat der Mann ein Haus, führte sie durch den Gang und in ein kleines Zimmer, in dem eine Frau und ein Junge saßen. "Sexta, gib ihr ordentliche Kleidung. Sie ist deine neue Gehilfin." Die Frau und der Junge hatten sich auf den Boden geworfen, als sie den Mann erblickten.
"Ja, mein Herr", sagte die Frau und der Mann stieß Vanessa ins Zimmer, bevor er die Tür verriegelte. Die Frau und der Junge erhoben sich. "Ich bin Sexta", sagte sie Frau. "Das ist mein Sohn, Amatus." – "Ich bin Vanessa", erwiderte sie und hoffte, diese Frau – Sexta – konnte ihr endlich erklären, ob sie wirklich im antiken Rom gelandet war.
"Ein seltsamer Name", sagte Sexta. "Woher kommst du, Vanessa? Deine Kleidung sieht so exotisch aus und deine Augen haben so komische Schatten."
"Ich…" Vanessa hätte ihr beinahe von der Fremden und dem Medaillon erzählt, doch sie biss sich auf die Zunge. Wenn die ersten Worte dieses Mädchens wahr waren, dann war die Warnung, dass sie vielleicht nie wieder in ihre Welt zurück konnte, wenn sie etwas sagen würde, wesentlich schlimmer.
"Ich komme von weit her", sagte Vanessa stattdessen. "In welchem Jahr leben wir eigentlich?" – "Zehn Jahre in der Zeit des Augustus", antwortete Sexta. "Willkommen im Hause des Senators Gaius Lucius Magnus und seiner Frau Caecilia."
"Zehn Jahre in der Zeit des Augustus?", rauschte es durch Vanessas Hirn. "Wann hatte Augustus denn gelebt?" Sie ärgerte sich, dass sie in der Schule nicht aufgepasst hatte, als es um das römische Reich ging. Stattdessen hatte sie mit Shirley über Leon, einem Mauerblümchen in ihrer Klasse, gelästert.
Sexta gab ihr andere Kleidung und nur widerwillig zog Vanessa sie an. Diese "Toga", wie Sexta sie genannt hatte, war hässlich braun und außerdem aus einem Stoff, der schrecklich kratzte. Sie fühlte sich so unglaublich dreckig darin.
"Wir müssen nun das Mahl für den Dominus und die Domina herrichten, Vanessa", sagte Sexta. "Komm mit!" Vanessa nickte. Sie sollte kochen? Aber das hatte doch immer ihre Mutter gemacht. Sie musste sich noch nie die Hände dreckig machen, bloß weil sie Hunger hatte.
Sexta war von Vanessas Kochkunst nicht begeistert. Plötzlich kam der Dominus des Hauses, Magnus, herein und Sexta und Amatus warfen sich sofort auf den Boden. Sexta zerrte Vanessa mit hinab. Doch Amatus fiel dabei eine Schüssel aus der Hand und zerbrach.
Sofort holte Magnus die Peitsche hervor und holte aus. "Halt!", schrie Vanessa und sprang auf. "Sie können ihn doch nicht auspeitschen, nur weil er eine Schüssel hat fallen lassen!" Magnus ließ von Amatus ab und ging zu Vanessa, welcher er fünf kräftige Peitschenhiebe auf den Rücken verpasste, so dass dieser aufplatzte und zu bluten begann. "Wag es nicht noch einmal, etwas zu sagen, ohne dass du aufgefordert worden bist!", schrie er und ließ wieder die Peitsche auf sie niederfahren.
Dann drehte er sich um und verließ die Küche. "Was war das denn eben?", fragte Vanessa an Sexta und Amatus gewand. "Wieso hat dieser Mistkerl mich einfach ohne Grund ausgepeitscht? Das ist doch verboten! Dafür muss er verhaftet werden!"
"Wir sind seine Sklaven, wir haben keine Rechte", entgegnete Sexta. "Wir Sklaven sind genauso sein Eigentum wie sein Haus, seine Möbel und sein Geld. Es kann mit uns machen, was er will und wie er es will. Das ist unser Leben."
Vanessa runzelte die Stirn. "Du hast ihn beleidigt, als du aufgestanden bist und ihm erklärt hast, was er tun soll und was nicht", sagte die alte Sklavin. "Das macht man nicht. Deshalb hat er dich ausgepeitscht. Du kommst wohl von sehr weit weg, dass du keine Ahnung von unseren Sitten hast."
"Aber warum wollte er Amatus auspeitschen?", fragte Vanessa. "Ihm ist beim Niederwerfen doch bloß die Schüssel aus der Hand gefallen…" – "Und das mag der Herr nicht. Sieh, Vanessa: Wir sind Sklaven. Wir müssen alles tun, was der Dominus und die Domina von uns verlangen, egal wie wir selbst dazu stehen. Dann sind sie auch gut zu uns, geben uns Speisen und Trank", erklärte Sexta. "Sind wir aber faul, hinterfragen Dinge oder machen Fehler, dann sind sie uns böse und peitschen uns aus."
Vanessa schüttelte den Kopf. "In meiner Welt gibt es so etwas nicht", sagte sie. Amatus legte eine Hand auf ihren Arm. "Es muss eine schöne Welt sein, in der du gelebt hast, Vanessa", meinte er. "Eine Welt, die ich leider niemals sehen werde."
Vanessa seufzte. Sie würde nach Hause zurück kehren, aber Sexta und Amatus mussten hier bleiben, im antiken Rom zur Zeit des Caesar Augustus. Sie empfand Mitleid für sie. Gerne hätte sie ihnen ihre Welt gezeigt, in der die Sklaverei längst Geschichte war.
Nachdem sie die Speisen für den Dominus und die Domina hergerichtet hatten, mussten sie die Zimmer aufräumen und putzen. Amatus begleitete Sexta und Vanessa allerdings nicht. Er war Wagenlenker, wie er Vanessa stolz erzählt hatte, und würde für seinen Herrn mit dessen Pferden an den berühmten Wagenrennen im Circus Maximum teilnehmen.
Vanessa wollte dieses Rennen unbedingt sehen, doch Sexta hatte nur gelacht. "Frauen haben fast gar keine Rechte hier. Aber Sklaven haben überhaupt keine", erklärte sie. "Kein Sklave darf bei einem Wagenrennen im Circus Maximum sein, es sei denn, er ist ein Wagenlenker."
Vanessa mochte diese Worte nicht. Sie war es gewohnt, alles zu bekommen, was sie wollte, und überall hingehen zu dürfen, wo sie hin wollte. Dieses Leben ohne Rechte gefiel ihr überhaupt nicht. "Shirley, wo bin ich da nur hineingeraten!?", sendete sie einen gedanklichen Hilferuf an ihre beste Freundin, doch diese konnte sie nicht hören.
"Warum muss ich ausgerechnet hier sein? Als Sklavin?" – "Du hast einen scheußlichen Charakter, bist verwöhnt und verachtest alle, die anders sind als du", erklang die Stimme des fremden Mädchens in ihrem Kopf. "Du musst lernen, dich unterzuordnen und andere zu respektieren."
Als die Domina sie aufsuchte, warf sich Vanessa auf den Boden, wie sie es bei Sexta immer gesehen hatte. Die Domina jedoch schien dies nicht zu würdigen. "Holt mir Wasser aus dem großen Brunnen, ich will heute baden!"
Sexta senkte den Blick, stand auf und huschte an der Domina vorbei, Vanessa hinterher. Dann gingen sie mit vier schweren Metalleimern zu dem Brunnen, von dem die Domina gesprochen hatte. "Wir haben auch Thermen hier in Rom, aber die sind den Männern vorbehalten", sagte Sexta. "Deshalb müssen wir unsere Domina selbst baden."
Die Eimer waren zu vor schon schwer gewesen, aber jetzt konnte man sie ja kaum noch tragen, fand Vanessa, unterdrückte aber ein Meckern. Wenn dieses fremde Mädchen sie schon zu den Sklaven geschickt hatte, dann würde sie ihr eben beweisen, dass sie besser war als das, was sie ihr vorgeworfen hatte.
Sexta durfte die Domina Caecilia allein waschen, während Vanessa dazu verdonnert wurde, im Atrium den Brunnen und die Statuen zu putzen. Und wehe dem, irgendetwas würde zu Bruch dabei gehen!
Das Atrium war ein Raum in mitten der Villa des Senators und seiner Frau, welcher allerdings in der Mitte kein Dach hatte. Dafür stand dort ein Brunnen, der all das Wasser aufnahm, welches von Himmel herab regnete, nur war es nicht zum Waschen gedacht, wie Sexta erklärte.
Die Statuen waren riesige Gebilde von Vorfahren des Dominus und verschiedenen anderen Berühmtheiten. Sexta hatte Vanessa erklärt, dass ein Mann an Hand seiner Statuen angesehen wurde. Je mehr er von diesen Figuren besaß und je älter diese waren, desto angesehener war der Dominus.
Bald darauf kehrte der Dominus zurück vom Circus Maximus und brachte einige Freunde mit. Zum Teil "Geschäftsfreunde", wie Sexta sie nannte. Allesamt reiche Herren, zwei von ihnen ebenfalls Senatoren und die anderen Kraufmänner.
Mit einem Wink schickte er Sexta und Vanessa in die Küche. Seine Gäste würden zum Abendessen bleiben und mit ihm seinen Sieg beim Wagenrennen feiern. Amatus hatte als gewonnen. Vanessa freute es, diese Nachricht zu hören, doch sie fand es gleichzeitig auch ungerecht, dass niemand Amatus dafür zu gratulieren schien. Alle beglückwünschten nur Senator Gaius Lucius Magnus.
Allmählich gab Vanessa auf, die Sitten der seltsamen Römer zu verstehen. Scheinbar waren Sklaven in dieser Zeit wohl wirklich rechtlos gewesen. Sie hatte nie verstehen können, was es bedeutete, keine Rechte zu haben. Sie war es gewohnt gewesen, alles zu kriegen, was sie wollte, alles tun zu dürfen, was sie wollte und wann sie es wollte.
Hier war sie ein Niemand, durfte nichts, außer sich zu unterwerfen und gehorsam alle Arbeiten zu verrichten. Hier musste sie mit dem leben, was sie bekam, egal ob es ihr gefiel oder nicht. Alles hörte nur auf den Herrn des Hauses, den Dominus.
Dann brach die Dämmerung ein. Vanessa wollte schon fragen, wo sie denn schlafen durfte, als sie nach draußen in die kalte Nacht geschickt wurde, um noch einmal Wasser zu holen. Sie war gerade zu mit dem vollen Eimer zurück bei der Villa, als ihr plötzlich schwarz vor Augen wurde.
Sie stolperte über einen etwas aus der gepflasterten Straße herausragenden Stein und verlor das Gleichgewicht. Ihr Kopf krachte auf einen der Pflastersteine. Dann wurde es dunkel um Vanessa herum.
*****
Vanessa blinzelte und rieb sich den noch immer schmerzenden Kopf. Hoffentlich würde sie keine allzu schwere Strafe bekommen, weil sie den Eimer nicht in die Villa gebracht hatte. Warum musste auch dieser blöde Stein direkt vor ihrem Fuß herausragen? Der Dominus war bestimmt richtig sauer auf sie...
"Sexta?", fragte sie in die Stille. "Amatus?" Niemand antwortete. Vanessa zwang sich, die Augen ein wenig weiter zu öffnen, doch sie sah nichts. Alles war vor ihren Augen so entsetzlich verschwommen, dass sie gar nicht erkennen konnte, wo sie sich genau befand.
"Sexta?", fragte sie erneut, doch wieder erhielt sie keine Antwort. Allmählich klarte sich das Bild auf. Eine schneeweiße Decke blickte kalt auf sie. Vanessa drehte leicht den Kopf und sah den großen Wandspiegel, der sonst immer in ihrem Zimmer gehangen hatte. War er etwa mit in das Römische Reich gereist?
Erst jetzt realisierte sie, dass sie gar nicht mehr im Haus des Senators, sondern in ihrem Zimmer war. Zurück in der Gegenwart. Dort, wo sie hergekommen war.
"Vanessa", nannte jemand ihren Namen. Diese Stimme kam ihr bekannt vor. Natürlich, das fremde Mädchen, welches an ihrer Zeitreise die Schuld war. "Wie war's bei den alten Römern? Hattest du einen netten Aufenthalt dort?"
"Wenn du dich über mich lustig machen willst, dann lach' mich doch einfach aus, bevor du dumme Fragen stellst!", fauchte Vanessa und riss die Augen komplett auf. "Nun lach' schon, du dumme Kuh!" – "Ich hatte gehofft, du hättest dich an diesem Tag im alten Rom geändert, Vanessa…", sagte die Fremde und schüttelte den Kopf. "Aber kaum bist du zurück, beginnst du schon wieder, dich aufzuspielen…"
"Was ist mit den anderen dort geworden?", fragte Vanessa plötzlich. "Mit Sexta und Amatus?" – "Willst du jetzt eine Heldengeschichte hören?", lachte die Fremde. "Sie sind gestorben, so wie jeder andere Sklave auch. Die einen sterben früher, die anderen später. Keiner erreicht ein besonders hohes Alter."
"Sind sie … eines natürlichen Todes gestorben?", fragte Vanessa weiter. "Oder hat der Dominus sie…?" – "Was interessiert dich schon das Schicksal zweier Sklaven? Du versuchst doch nur, einen Weg zu finden, damit ich dich aus meinen Fängen entlasse…"
"Nein, tu ich nicht!", rief Vanessa. "Wer bist du überhaupt?" – "Ach ja? Und warum benimmst du dich dann so ekelhaft mir gegenüber?", entgegnete die Fremde, ohne auf Vanessas Frage einzugehen. "Ich hatte gedacht, dass Senator Gaius Lucius Magnus dir etwas Gehorsam lehrt, aber du hast scheinbar nichts gelernt!"
"Wer bist du?", ließ Vanessa nicht locker. Sie hatte jetzt all ihre Kräfte zurück gewonnen. "Sag mir endlich, wer du bist!" – "Ich bin so viel mächtiger als du, kleine arrogante Vanessa", meinte die Fremde und hob stolz den Kopf. "Ich bin die Herrin der Zeit."
Dann nahm sie das Medaillon von ihrem Hals und schwand, als Vanessa kurz zwinkerte. "Die Herrin der Zeit", murmelte sie. "Ich habe nie von dir gehört."
Am nächsten Tag war Montag, ein Schultag. Der erste Tag, an dem sie Shirley wiedersehen würde. Vanessa wusste, dass sie das Geheimnis der Herrin der Zeit bewahren musste. Nicht einmal Shirley durfte sie irgendetwas erzählen.
"Nessa!", rief Shirley, als sie Vanessa erblickte. Dann umarmten sich die Freundinnen. "Meine Party war doch echt voll geil, oder? Schade, dass du nicht noch länger geblieben bist", erzählte sie. "Was denkst du, wie David mit mir rumgeknutscht hat! Und Jannik hat seine Hüllen für mich fallen lassen!"
Vanessa runzelte die Stirn. Ihre beiden Lover machten mit Shirley rum? Was waren das denn für verlogene Mistkerle? In der Zeit der alten Römer hätten sie so etwas bestimmt nicht gewagt!
"Nessa, Süße!", rief Jannik und lief zielstrebig auf sie zu. "Schade, dass du bei der Party nicht noch länger geblieben bist. Wir hatten alle noch so viel Spaß…" Vanessa zog angewidert die Lippe hoch, als auch David um die Ecke bog. "Hey, Jan! Schau mal, wen ich mitgebracht hab. Was zum Spielen!", rief er. Unter seinem rechten Arm hatte er einen Jungen im Schwitzkasten.
"Hey, Nessa!", fügte er noch hinzu, als er Vanessa erblickte. Jannik lachte, als er den David sah. "Ich liebe spielen!", rief er. "Was spielen wir zuerst? Fußball?" – "Yeah!", stimmte David zu.
Leon – wie Vanessa erkannt – versucht etwas zu sagen und sich zu befreien, doch stattdessen lachte David nur und drückte fester zu. "Ey, ihr Dummköpfe!", rief Vanessa. "Lasst ihn los, oder legt ihr Euch gern mit Wehrlosen an?"
"Nessa, seit wann so aufmüpfig?", lachte Jannik. "Süße, ich dachte, du liebst mich!" – "Sie liebt mich, du Vollpfosten!", warf David dazwischen. "Nicht wahr, Nessa?"
"Lasst Leon los und sucht Euch jemanden in Eurer Größe!", befahl Vanessa. Abrupt ließ David den Jungen los und griff nach Vanessa, doch die spukte ihm nur vor die Füße. "Ihr seid Abschaum, alle beide!", rief sie verachtend. "Im alten Rom hättet ihr niemals überlebt!"
"Ganz richtig", erwiderte Leon. Als Vanessa sein Gesicht zum ersten Mal wirklich ansah, erkannte sie es sofort wieder. Die Herrin der Zeit hatte ihn aus den Händen des Senators gerettet und in die Gegenwart gebracht. Amatus.
*~ Ende ~*
Texte: Cover by
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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012
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