Es war kurz vor acht Uhr am Abend. Er stand mit der Fernbedienung in der Hand vor seinem alten Fernseher. Noch zögerte er, ihn anzuschalten. Schließlich ging er in die Küche und setzte sich an den weißen Plastiktisch, der, obwohl es sich um einen Terrassentisch handelte, doch ganz gut in seine Wohnung passte, wie er fand. Sie hatte ihn überhaupt nicht gemocht. Aber hatte es jemals etwas gegeben, das sie mochte?
Er spielte mit den harten Brotkrümeln, die sich um seinen Frühstücksteller versammelt hatten. Er hatte heute Morgen vergessen, den Tisch abzuräumen. Er schüttelte den Kopf. Er war nachlässig geworden, seit sie fort war.
Er schaute auf die Digitalanzeige seines Ofens. Zwei Minuten vor acht. Seine Finger umklammerten die Fernbedienung. Die Schutzhülle war nikotinvergilbt, an einigen Stellen hatte sich bereits das Plastik gelöst. Wie oft sie sich um diese Fernbedienung gestritten hatten. Wie unnötig. Dann stand er auf, schlenderte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf das braune Sofa. Die giftgrüne Häkel-Überdecke schob er beiseite. Ein Geschenk ihrer Mutter, seiner Schwiegermutter, die ihn immer als nutzlosen Idioten bezeichnet hatte! Sogar auf dem Sterbebett hatte sie es noch durch ihre dünnen, vergreisten Lippen gepresst. Es war das einzige deutsche Wort, das sie sich merken konnte. Idiot.
Er hörte den Gong der alten Pendeluhr aus der Wohnung von Frau Chmielewski. Nun war es acht Uhr. Die Lokalnachrichten begannen. Zügig setzte er die Bierflasche an den Mund, nahm einen Schluck des zimmerwarmen Bieres und schaltete das dritte Programm ein. Ein lauter Röpser folgte. Er musste grinsen, denn sie hatte nie verstanden, dass ein richtig lauter Röpser nach einem Bier nun einmal dazu gehörte. Bei den Deutschen war es nun mal so.
Der Moderator schloss soeben die Begrüßung ab. „… und Herren!“ Nun folgte ein Bericht über die Ausbrecher der Justizvollzugsanstalt Aachen, die noch immer landesweit gesucht wurden.
Er setzte sich aufrecht hin und spürte die Erregung, die sich in seinem Körper breit machte. Wie eine heranrollende Welle durchfuhr die Erwartung, die Anspannung seinen Körper. Sein rechtes Auge begann zu zucken. Gleich würden sie es der Bevölkerung mitteilen. Die Menschen würden empört sein, sich fragen, was passiert sein mochte. Was sie - Dann kam ein Bericht über den Bau einer Schokoladenfabrik in Übach-Palenberg und ein Interview mit einem Hundetrainer. Schließlich der Wetterbericht. Es würde wieder Schnee geben in der Nacht.
Er sprang auf, stieß dabei jedoch an den Wohnzimmertisch aus Eichenholz. Der Schmerz war stechend, jedoch nicht zu vergleichen mit seiner Enttäuschung. Sie mussten sie gefunden haben! Warum war sie wieder nicht in den Nachrichten? Sie saß seit fünf Tagen auf der Bank in der Nähe des Aussichtsturmes im Vaalser Quartier. Hierhin strömten die Touristen doch sonst immer! Warum war sie nicht in den Nachrichten?
Sein Blick fiel auf den Kerzenständer aus Zinn. Er hatte ihn nicht gereinigt. Das Blut und der Hautfetzen waren bereits getrocknet. Er erinnerte sich an den ersten Schlag. Er war nicht kräftig genug gewesen. Sie hatte zwar auf dem Boden gelegen, doch in ihrem runden Gesicht konnte er von ihren wulstigen Lippen das Wort Idiot ablesen. Idiot. Wie oft hatte sie ihm dieses Wort an den Kopf geworfen? Seit ihre Mutter bei ihnen eingezogen war, war es noch schlimmer geworden.
Er ging ans Fenster und betrachtete die weißen Flocken, die voller Leichtigkeit im Lichtkegel der Straßenlaterne tanzten. Leichtigkeit. Er hatte sich auch leicht gefühlt, damals, als er sie gefunden hatte. Antooy – seine Traumfrau! Er hatte sie in Thailand kennengelernt. Sie, die ganz anders war als die anderen Thailänderinnen. Still, zurückhaltend, zärtlich. Sie hatte ihm gezeigt, dass sie ihn wirklich liebte. Sie hatte es ihm gesagt, mehrfach. Wie glücklich er damals war! Sie war nicht so wie Emma, seine deutsche Ex-Frau, die ihn herumkommandierte und vor Bekannten lächerlich machte. So war Antooy nicht, als er sie vor fünf Jahren in einer Strandbar gesehen hatte. Erst die Jahre in Deutschland hatten sie verändert.
Er hätte sie nicht mit nach Deutschland nehmen sollen. Alle hatten ihn gewarnt. Seine Eltern, seine Kinder, seine Arbeitskollegen. Alle. Dass sie Recht gehabt haben, hatte er sich nie eingestehen wollen.
Einmal, als sie betrunken war, hatte sie ihm die Wahrheit gesagt. Sie hatte gekichert und über seine Dummheit gelacht. Dass sie ihm nur nach Deutschland gefolgt sei, weil sie hier als Sängerin Karriere machen wollte. Dass sie raus wollte aus dem thailändischen Dorf, in dem nur jeder Fünfte einen Fernseher besaß. Sie hatte ins Rampenlicht gewollt, auf die Bühne.
Sie erzählte ihm mit ihrem heulerisch-hysterischen Lachen, dass sie gedacht hätte, er sei reich, weil er sich doch eine Reise nach Thailand leisten konnte. Dass sie, als sie in Deutschland angekommen war, geschockt gewesen sei von seinen Wohnverhältnissen. Sie hatte von einem großen Haus mit Pool und Sauna geträumt, einem Himmelbett mit Bettwäsche aus Satin und Seide, einem riesigen Tisch aus Teakholz! Von Luxus! Doch er bot ihr nur eine fünfzig Quadratmeter kleine Bude, in deren Küche ein Plastiktisch stand, der in Thailand nur von minderwertigen Restaurants als Außentisch genutzt würde.
Er hatte ihr zugehört, aber nicht glauben wollen, was sie sagte. Sie hatte zu trinken begonnen, nachdem ihre Mutter, die das erste Mal in Deutschland zu Besuch gewesen war, auf ihrer braunen Couch an einem Herzinfarkt gestorben war, einfach so. Er hatte gehofft, dass sich seine Antooy nach dem ersten Schock bei ihm entschuldigen würde. Doch von diesem Zeitpunkt an war nichts mehr wie vorher.
Jeden Tag hatte sie ihn spüren lassen, wie sehr sie ihr Leben in Deutschland, wie sie ihn hasste. Sie hatte ihn und sein jämmerliches Leben dafür verantwortlich gemacht, dass sie es in Deutschland nicht auf die Bühne geschafft hatte. Es sei ihr Kindheitstraum gewesen, den er, der besoffene Idiot in seiner muffigen, engen Bude zerstört habe.
Vor sieben Tagen hatte er es nicht mehr ertragen. Nach dem vierten Schnaps hatte sie begonnen, ihn wieder und wieder zu beschimpfen, hatte mit ihrer dünnen Stimme gekeift wie eine fette Katze, die sich um ihr Futter betrogen fühlte. Je stärker sie sich aufregte, desto röter wurde ihr Kopf. Er war ins Wohnzimmer geflüchtet und hatte den Fernseher angeschaltet. Doch sie gab keine Ruhe.
„Sei still!“ hatte er gebrüllt. „Halt endlich den Mund!“
Einen kurzen Moment hatte sie tatsächlich inne gehalten. Doch dann hatte sie schallend gelacht. Hatte ihn angesehen, ihr Lachen war immer lauter geworden. Immer wieder nannte sie ihn Idiot, Weichei und Loser.
Er hatte gespürt, wie eine gefährliche Explosion in ihm heranreifte. Er versuchte sie zu unterdrücken. Die rechte Hand zuckte, als er sie mit der linken in seinem Schoß unter Kontrolle halten wollte. Sein Körper bebte. Und dann, ganz plötzlich brach die ganze Wut aus ihm heraus. Er fühlte sich wie Hulk, das grüne Monster aus einer alten amerikanischen Serie. Er erinnerte sich, wie er nach dem schweren Kerzenständer, der auf dem Tisch stand, griff und zuschlug. Einmal. Und als sie es wieder sagte, noch einmal. Und wahrscheinlich noch viele Male, denn als er wieder klar denken konnte und sah, was er angerichtet hatte, war von ihrem runden Teiggesicht und ihren wulstigen Lippen nur noch wenig zu sehen.
Er hatte geheult wie ein Kind, als er sie auf dem Boden liegen sah. Blutüberströmt, das Gesicht kaum noch zu erkennen. Allerdings wusste er nicht, ob er wegen Antooy heulte oder wegen seiner Erleichterung, die sich in ihm ausbreitete. Es war ein unbeschreiblich leichtes Gefühl, das er nun verspürte. Wie neu geboren.
Weil er noch nie zuvor einen Menschen umgebracht hatte, hatte er nicht gewusst, was er mit Antooys Leiche nun anstellen sollte. Zwei Tage hatte er auf dem Boden neben ihr gesessen und gewartet. Er hatte in Erwägung gezogen, die Polizei anzurufen, um sich zu stellen. Ihm war es egal, was nun mit ihm geschah. Doch dann hatte er eine noch viel bessere Idee gehabt: Er wollte ihr ihren letzten Wunsch erfüllen und ihr eine Bühne bieten. Er hatte die Schlagzeilen schon vor sich gesehen: „Tote Thailänderin auf der Bank“ oder „Thailänderin tot aufgefunden!“
Es war gar nicht so leicht gewesen, ihren kleinen runden Körper unbemerkt aus der Wohnung zu bringen. Glücklicherweise war das Blut bereits getrocknet, sodass sie keine Spur im Hausflur hinterließ - dafür stank Antooy mittlerweile fürchterlich. Er hatte sie in ein Laken gewickelt und gegen zwei Uhr in der Früh aus dem Haus getragen. Zweimal hatte er sie von seiner Schulter absetzen müssen. Dann hatte er sie auf die Rückbank des Autos geschoben und war nach Vaals auf einen Berg gefahren. Er hatte diese Stelle gewählt, weil er sich sicher war, dass hier Touristen die Leiche von Antooy finden würde. Er hatte sie auf eine Bank gesetzt und ihren Schoß mit dem Laken bedeckt.
Danach war er nach Hause gefahren und hatte seitdem immer wieder die Nachrichten angeschaltet. Doch er wurde enttäuscht. Niemand hatte Antooy gefunden, kein Fernsehteam war nach Vaals gekommen, um die Tote auf der Bank aufzunehmen. Er seufzte. Heute war der fünfte Tag. Er würde etwas unternehmen müssen. Er würde nun selbst RTL anrufen und von der Bank erzählen. Er würde …
Plötzlich klingelte es. Irritiert stand er auf. Wer mochte das so spät sein? Er erwartete keinen Besuch. Vor der Tür standen zwei Polizeibeamte.
„Guten Abend, Herr Hissen, sind Sie der Halter des Wagens AC-DR-392?“
Er nickte
„Ist Ihre Frau Thailänderin?“
Er nickte erneut.
„Können wir sie sprechen?“
Er schüttelte den Kopf.
„Können Sie uns sagen, wie wir sie erreichen können?“
Er schüttelte erneut den Kopf.
„Dann müssen wir Sie nun mit aufs Revier nehmen. Wir haben vorgestern eine Frauenleiche in Vaals gefunden. Die Frau ist Thailänderin. Ein Zeuge hat ausgesagt, dass er Ihren Wagen vor fünf Tagen auf dem Weg zum Aussichtspunkt in Vaals gesehen hat.“
Herr Hissen schluckt. „Warum war es nicht in den Nachrichten?“
„Was meinen Sie?“
„Warum hat das Fernsehen nicht über den Fund berichtet?“
„Weil wir die Presse nicht informiert haben. Ist das wichtig?“
Herr Hissen schüttelte den Kopf. Nun hatte er Antooy wieder nicht die Bühne bieten können, die sie sich gewünscht hatte. Er war wirklich ein Idiot.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2010
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