Bildzuschrift erbeten
Jetzt, wo sie ihm erstmals gegenüber saß, sah sie natürlich sofort, dass er ihr ein Foto aus jüngeren Jahren zugesandt hatte. Eher amüsiert als enttäuscht, jedoch unverhohlen, betrachtete sie eingehend die Reste seiner einstmals so fotogenen Haarpracht. Sie dachte nicht daran, es ihm mit elegantem Hinwegsehen besonders leicht zu machen.
Aber auch er hat diesem direkten Vergleich mit Sorge entgegengesehen und er dachte angestrengt nach, wie er dieses Täuschungsmanöver mit viel Diplomatie wieder wett machen könnte, was natürlich, wie er wusste, nur kläglich misslingen würde. Andererseits, welcher Mann gibt schon in einer Welt von Coolness und Jugendwahn, Ängste und Unsicherheit gerne zu, diesem Idealbild nicht mehr zu entsprechen.
Erschwerend kam hinzu, dass das Foto, das er von ihr erhielt bis auf das letzte Byte dieser attraktiven Frau glich, die, wie ihm schien, eine Erklärung abwartend, nun vor ihm saß.
Bis jetzt war außer unverbindlichem Geplänkel über Anfahrt und Wetter, noch kein Wort über Sinn und Zweck ihres Treffens gesprochen worden.
Thomas wusste, dass ohne einem Canossagang jedes weitere Wort unglaubwürdig, ja sogar lächerlich sein würde.
Seit drei Monaten schrieben sie sich nun per Internet regelmäßig. Es war für beide wie ein wahr gewordener Traum. Auch für Christina war dieser gefühlvolle und feinsinnige Mann äußerst bemerkenswert, da man ja Internetbekanntschaften im allgemeinen nichts Gutes nachsagt. So folgte sie auch nach wenigen Tagen seinem Wunsch, ihm ihr Foto zuzusenden.
Thomas durchfuhr es wie ein Blitz, als er ihr Bild zum ersten Mal in Händen hielt. Die oder keine.
Dann machte er den entscheidenden Fehler, den er schon in der nächsten Minute wieder bereute. Er vergaß, dass es da noch die Inneren Werte gab, von denen sogar in diversen Talkshows Tag und Nacht gelabert wurde. Er vergaß, dass er viel geachteter und selbstbewusster Abteilungsleiter war und in keiner Weise irgendwelche Komplexe mit sich herumschleppte. Als er jedoch am Scanner stand und sein Spiegelbild ein letztes Mal in der Glasplatte betrachtete, da überkamen ihn arge Zweifel, ob sein aktuelles Foto wirklich einer Fortsetzung ihrer schönen Verbindung dienlich sein könnte.
So kam es also dazu - vor Gericht könnte man mildernde Umstände geltend machen - dass er in einer Art Panikattacke als Fünfzigjähriger ausgerechnet das fesche Foto vom vierzigsten Geburtstag “versehentlich” in den Scanner schob.
Christina sah, wie er sich wand und beschloss, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Sie stand auf, ging um den Tisch herum, nahm sein Gesicht in beide Hände, sagte leise Dummkopf und küsste ihn zärtlich auf seine Stirnglatze.
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2009
Alle Rechte vorbehalten