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Begegnungen


Zwei Monate Freiheit.
Es ist der erste Satz, der mir in die Gedanken schießt, als ich die Schritte aus dem Flughafen mache. Paris, die Stadt der Liebe. Ich bin in ihr angekommen. Bin nun ein Teil von ihr, auch wenn ich im Moment nur die grauen Wände und den Asphalt um mich herum erblicke.
Ich winke kurz mit der Hand und binnen weniger Sekunden steht ein freies Taxi vor mir. Auf meiner linken Seite vernehme ich empörtes Schimpfen von Fremden, die sichtlich geärgert sind. Anscheinend war das Gefährt für sie gedacht und der Fahrer hat den Entschluss gefasst lieber eine hübsche Touristin zu führen, als mit einer fünfköpfigen Familie vorlieb zu nehmen. Ich kann es ihm nicht verübeln.
Nein, eingebildet bin ich nicht. Man nennt es selbstbewusst. Mir ist bewusst wie ich auf das andere Geschlecht wirke. Ich wäre ja dämlich, wenn es mir nicht auffallen und nicht genießen würde. Schließlich bekomme ich so ohne Probleme was ich haben will und gebe ihnen auch etwas zurück. Einen Kuss kann man leicht entbehren, um seinem Dank Ausdruck zu verleihen. Wenn es ein großer Gefallen ist, der mir getan wird, ist der Dank somit ebenfalls mehr. Beide Parteien haben somit gewonnen und niemandem wird Schaden zugefügt.
Ich grinse die Familie an, entschuldige mich in schlechtem Französisch und steige ungeniert in das Taxi. Je schneller ich hier aus dieser Einöde verschwinde, desto besser.
Der Flughafen ist wirklich anders, als ich es mir vorgestellt habe. Natürlich bin ich kein kleines naives Mädchen mehr, aber unter meiner Ankunft habe ich mir etwas Anderes vorgestellt. Ich muss ja nicht gleich den Eifelturm vor mir stehen haben, allerdings wäre ein bisschen Schönheit ein willkommenes Geschenk. Aber man nimmt, was man kriegen kann. Außerdem kann es in diesem Fall nur noch besser werden.

Nachdem ich dem Taxifahrer die passende Summe an Geldscheinen in die Hand gedrückt habe, betrachte ich gespannt meine Umgebung.
Es hat eine gute Stunde gebraucht, um hierher zu fahren, allerdings ist alles viel schöner. Genau nach meinem Geschmack.
Um mir die zwei Monate so bequem wie möglich zu machen, habe ich mir ein Apartment in Montmartre gemietet. Es ist ein kleines Stadtviertel, gleich neben dem Sacre Coeur. Viele enge Gassen aus Stein bilden fast eine Art Labyrinth um die alten Häuser. Mir ist klar, dass ich so schnell wie möglich einen Plan brauchen werde, sollte ich ausgehen und die Absicht haben je wieder zurück zu finden. Für den Moment aber bin ich genau am richtigen Ort angekommen.
Gespannt öffne ich die Türe und gehe mit meinem riesigen Koffer im Schlepptau in die Eingangshalle. Eine nett aussehende Frau mittleren Alters begrüßt mich. Da ich ihre Sprache weder sprechen noch lesen kann, bringt mir das Schildchen auf ihrem Tisch rein gar nichts. Aber ich rate, dass sie genau weiß, wo ich das bekomme, was ich will.
„Entschuldigen Sie, aber können Sie mir verraten, wo ich Madame Dupont finde?“Sie lächelt mich an und nickt.
„Sie steht direkt vor Ihnen“, antwortet sie in schlechtem Englisch. Ich sollte eigentlich darauf eingestellt sein, dass hier niemand meine Sprache gut spricht und dennoch muss ich mir ein Lachen verkneifen.
„Dann haben Sie also meinen Schlüssel?“ Abermals nickt sie.
„Sie können kein Französisch oder?“ Verdutzt schaue ich sie an und schüttle den Kopf. „Das merkt man.
„Wieso das denn?“ Madame Dupont lächelt.
„Weil ich hier extra geschrieben habe, dass der Schlüssel hier abzuholen ist. Sehen Sie?“ Sie liest mir die Worte vor, die aber genau so wenig Sinn ergeben, wie zu dem Augenblick, als ich versucht habe sie zu lesen.
„Bekomme ich sie jetzt?“ Langsam ging mir die Frau auf die Nerven. Anstatt mir einfach zu geben, was ich wollte, verschwendete sie meine Zeit indem sie mir unverständliche Sätze vortrug.
„Sofort.“ Sie kramte in ihrer Tasche und fischte ein silbernes Ding heraus. „Bitteschön. Apartment 3B, im zweiten Stock. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin jeden Tag in der Früh hier zu finden. Wenn es dringend ist, rufen Sie mich an. Die Nummer steht neben der Türe, damit Sie sie nicht verlieren.“ Denkt sie etwa ich wäre ein unordentlicher Mensch? Wollte sie damit andeuten ich verliere alles? Nein. Schließlich kennt sie mich nicht. Sie hat mich noch nie gesehen. Heute ist das erste Mal, dass wir uns begegnen. Und solche Dinge vermittelt der erste Eindruck nun wirklich nicht.
Ich erbarme mich zu einem schnellen „Danke“ und steige in den Lift, der mich zwei Etagen höher bringt.

Die Zimmer sind wahnsinnig schön. Der Ausblick auf das stille Montmarte, der Traum, der zur Wirklichkeit geworden ist. Nachdem ich einen Flug hinter mir habe, beschließe ich das Bad aufzusuchen, bevor ich meine Sachen auspacke und die Stadt unsicher mache.
Ich fühle mich fast schon wie ein neugeborener Mensch, als ich aus der Dusche steige. Das warme Wasser hat mir unglaublich gut getan. Nun bin ich bereit für Paris. Ich bin frisch und sauber. Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten.
Vollkommen unbeschwert wickle ich ein Handtuch um meinen Körper, da ich vergessen habe mir neue Kleidung zu holen, bevor ich mich unter den Wasserstrahl gestellt habe. Ich mache die Türe auf und gehe ins Wohnzimmer, wo mein geschlossener Koffer steht.
Allerdings steht da noch etwas, das vorher nicht da gewesen ist. Besser gesagt, steht da noch jemand.
„Ich wusste nicht, dass eine nackte Frau im Preis miteinbegriffen ist.“

„Was genau denken Sie eigentlich, dass Sie hier machen?“ Ich bin kurz davor die Fassung zu verlieren. Wie kommt ein Fremder dazu einfach in mein Wohnzimmer zu spazieren und dann noch zu fragen, ob er für mich gezahlt hätte. Sehe ich etwa aus wie eine billige Nutte? Für einen Einbrecher sieht er auf jeden Fall viel zu gut aus. Also muss ich mir höchstens einreden, er ist nicht hier, um mich zu entführen.
Der Mann besitzt kurzes, schwarzes Haar, das leicht zerzaust ist und seine dunklen Augen kann ich trotz der Distanz, die unsere Körper voneinander trennt, ausmachen. Es kommt mir vor, als würde er mich mit einem Röntgenblick untersuchen. Plötzlich fühle ich mich mehr als unwohl, da das Einzige, das mich im Moment bekleidet, ein Handtuch ist.
„Das wollte ich eigentlich gerade dich fragen.“
„Was soll das denn bitte bedeuten?“, frage ich verständnislos.
„Das heißt, was genau suchst du in meinem Apartment?“ Mein Mund klappt überrascht auf und Wut steigt in mir auf.
„Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst oder? Nehmen sich einfach die Frechheit in meinem Wohnzimmer aufzutauchen und behandeln mich zuerst wie eine Prostituierte, dann wie einen Eindringling.“ Der Fremde kratzt sich an seinem rasierten Kinn und mustert mich mit einem Schmunzeln, das den Zorn in mir nur weiter ansteigen lässt. Dann zeigt er plötzlich auf mich.
„Ich würde diesen Streit ja gerne fortsetzen, aber wenn du nicht aufpasst, bist du gleich völlig nackt. Und du bist ja schließlich keine Prostituierte.“ Er zwinkert mir zu.
Erschreckt schaue ich an mir herunter und merke, dass mein Handtuch verrutscht ist und man meine Brust sehen kann. Mit hochrotem Kopf, teils vor Scham, teils vor Ärger, befestige ich es ordentlich und halte es zur Sicherheit mit meinen Händen zusammen.
„Diese Sache ist aber immer noch nicht geklärt, hören Sie?“
„Ich habe nicht einmal gewagt darauf zu hoffen.“ Ein unwiderstehliches Lächeln ziert mit einem Mal seine Lippen, das mich in jeder anderen Situation zum Schmelzen gebracht hätte. Da ich mich allerdings so gut wie unbekleidet vor ihm befinde, wäre Schmelzen in diesem Fall nicht angebracht. Also gebe ich mein Bestes es zu ignorieren. Was nebenbei leichter gesagt als getan ist.
Mit ein paar Schritten steht er plötzlich neben mir, sodass ich seinen Geruch in mich aufnehmen kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen solchen Duft gerochen habe. Er benebelt mich und ich kann nicht anders, als perplex auf einen Punkt vor mir zu starren, um nicht den Verstand zu verlieren. In meiner Schulzeit habe ich einen Physiklehrer gehabt, der ein Rasierwasser benutzt hat, das mich verständig verzaubert hat. Doch das hier schlägt ihn bei weitem. Meilen liegen zwischen ihnen. Meere. Ozeane. Welten.
„Hast du vor mich heute noch wirklich auszuziehen oder machst du das immer nur in Gedanken?“ Ich blinzle irritiert, gehe ein paar Zentimeter auf die Seite und merke dann erst, dass ich ihn die ganze Zeit lang angestarrt habe. Erst als einige Sekunden vergehen realisiere ich, was genau er eigentlich gesagt hat.
„Hier wird niemand ausgezogen“, fahre ich ihn an, ohne mir anmerken zu lassen, dass er vielleicht sogar recht hat. Wenn ich es vorher nicht gemacht habe, so ist er jetzt selber daran schuld, wenn ich mir vorstelle, wie sein nackter Oberkörper aussieht. Wie er sich anfühlt.
Ich muss mich selbst bremsen, um nicht anzufangen zu träumen. Schließlich muss ich mich auf die Situation konzentrieren, wenn ich das Missverständnis klären will.
„Haben Sie vor heute noch etwas zu unternehmen?“
„Was sollte ich denn deiner Meinung nach machen?“ Das war keine Antwort auf meine Frage.
„Wie wäre es, wenn Sie Ihren knackigen Hintern aus meiner Wohnung schaffen.“ Habe ich das gerade wirklich gesagt? Habe ich sein Hinterteil gerade als knackig bezeichnet? Mein Gesicht färbt sich noch röter, als es ohnehin schon ist.
„Ich habe mich doch noch gar nicht umgedreht. Woher willst du das denn wissen?“ Ich beiße mir auf die Zunge.
„Das war geraten“, gebe ich zu. Immerhin war es lediglich ein Gedanke gewesen, den ich, ohne es bewusst zu wollen, laut ausgesprochen habe.
Peinliche Stille kehrt ein und ich versuche mir einen Plan auszudenken. Körperlich ist mir dieser Mann um einiges überlegen, aber vielleicht kann ich ihn ja irgendwie austricksen, damit er sich freiwillig aus dem Staub macht. Mir kommt eine Idee.
„Okay. Wie viel wollen Sie haben, damit sie für immer verschwinden?“ Seine Augen weiten sich, jedoch kehrt sein Schmunzeln von vorhin wieder zurück.
„Ich habe nicht vor zu verschwinden, Süße. Dafür gefällst du mir zu gut.“ Hat er mir etwa gerade ein Kompliment gemacht und gleichzeitig betont, dass er nicht bestechlich ist?
„Was wollen Sie dann haben?“
„Meine Wohnung.“ Ich schaue ihn verdutzt an.
„Nur um das klar zu stellen. Dieses Apartment gehört mir. Ich habe hierfür gezahlt.“
„Ebenso wie ich“, entgegnet er unbeeindruckt, was mich zum Seufzen bringt. So langsam schleicht sich das Gefühl an, er wird nie wieder gehen und ich muss mich für den Rest meiner Existenz mit ihm abgeben. Es sei denn, ich ziehe den Schwanz ein. Jedoch wird das nie passieren. Alleine schon deshalb, weil ich keinen besitze, den ich einziehen könnte.
„So wird das nichts.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung.“
„Wir gehen zu Madame Dupont und klären das jetzt.“ Ich kann sein Lachen hören und erinnere mich an die Worte der Frau. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin jeden Tag in der Früh hier zu finden. Wenn es dringend ist, rufen Sie mich an. Die Nummer steht neben der Türe, damit Sie sie nicht verlieren.
Schnell gehe ich zur Türe und suche nach einer Telefonnummer, die hier irgendwo stehen muss. Allerdings finde ich nichts. Rein gar nichts. Abgesehen von einem schwarzen Mantel, der auf einen Haken gehängt wurde und eindeutig nicht mir gehört. Also hat er es sich hier schon gemütlich gemacht und seine Sachen verstreut, während ich nichts ahnend unter der Dusche gewesen bin.
„Ich schätze wir müssen damit bis morgen warten, Süße.“ Ich drehe mich um und versuche mein Bestes ihn mit meinem Blick zu töten.
„Wie haben Sie mich gerade genannt?“
„Süße?“ Es ist kaum zu glauben. Nun bin ich hier mit einem fremden Mann in einer Wohnung, die sich in einer Stadt befindet, die ich nicht kenne und die einzige Bezugsperson, die ich habe, ist weder in der Nähe noch kann ich sie erreichen. Dazu nimmt er sich auch noch die Frechheit mich Süße zu nennen.
„Nein!“
„Nein?“ Schon wieder lächelt er mich sichtlich amüsiert an.
„Nein. Ich bin nicht deine Süße.“ Normalerweise würde es mir nichts machen so genannt zu werden. Das ist ja nun wirklich nicht das erste Mal, das ich das höre. Trotzdem kommt es mir falsch vor, wenn er mich so nennt.
„Na es geht doch. Ich dachte schon du bleibst die ganze Zeit in deiner Höflichkeitsform und fängst nie an normal mit mir zu reden.“ Mein Mund bleibt offen stehen. Mir fällt absolut nichts ein, was ich darauf antworten sollte. Egal, was ich von mir gebe, er wird einen Kommentar abgeben.
Dann, ohne mich vorzuwarnen, streckt er seine Hand aus. Reflexartig zucke ich mit meinem Kopf zurück, was ihn zum Lachen bringt.
„Keine Angst, ich habe nicht vor dich zu essen.“ Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, er greift sich an die Stirn und beginnt zu lachen, als wäre es das Komischste gewesen, das er je von sich gegeben hat. Ich muss gestehen, es ist eigenartig. Sein Humor ist wirklich alles andere als im Bereich des Normalen.
„Nimmst du jetzt meine Hand oder hast du vor mich wie einen Trottel stehen zu lassen?“ Die Versuchung ist groß, doch nach einem Augenblick nehme ich sie und halte das Handtuch mit der anderen noch fester zusammen.
„Ich bin Matthew.“
„Mona.“

Erstens, zweitens und drittens


„Ich weiß es!“ Gespannt schaue ich Matthew an. Seit einigen Minuten sitzen wir uns nun schon am Esstisch gegenüber und versuchen eine Lösung für unser Problem zu finden.
„Wir schlafen einfach beide hier und warten, bis Madame Dupont morgen kommt, um den Irrtum aufzuklären.“ Ich schüttle sofort den Kopf.
„Erstens kenne ich dich immer noch nicht. Zweitens ist das mein Apartment. Und drittens haben wir nur ein Bett, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest.“ Er sieht mich an und nickt zustimmend. Jedoch sehe ich etwas in seinen Augen leuchten, das nichts Gutes verheißen kann. Fast schon versuche ich mir die Ohren zuzuhalten, damit ich es nicht hören muss. Auch wenn ich ihn heute zum ersten Mal gesehen habe und der erste Eindruck manchmal in die Irre führen kann, so kann ich trotzdem mit Sicherheit sagen, dass sein Mundwerk nie und nimmer abgestellt werden kann. Egal, was ich sage oder von mir gebe. Er hat immer eine schlagfertige Antwort parat, feuert gekonnt mit seiner verbalen Waffe. Es ist ausweglos.
„Dann muss einer von uns wohl gehen.“
„Das werde nicht ich sein.“
„Ich ebenfalls nicht.“ Wir beginnen beide gleichzeitig zu seufzen. Wären wir nicht solche Dickschädel, hätten wir das Problem innerhalb von Sekunden erledigt gehabt. Der Klügere gibt nach, der Esel behält die Wohnung. Allerdings sind wir gerade wohl beide die Esel, die das, was ihnen zusteht, einfordern und behalten wollen. Keiner ist bereit für diese eine Nacht in ein Hotel zu übersiedeln, um morgen wieder zu kommen. Denn wir beide wissen es. Wer jetzt nachgibt und das Feld räumt, hat verloren. Und keiner will bei diesem Spiel verlieren. Ich, weil ich hier zuerst gewesen bin und er, scheinbar aus einer Laune heraus. Keiner von uns hat einen triftigen Grund, dennoch halten wir wie kleine Babies an dem Finger fest, der uns zum Greifen nahe ist.
„Eine Sache könnte ich dir allerdings vorschlagen.“ Kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, gehört meine gesamte Aufmerksamkeit ihm. Er will aufgeben, will verlieren, den Schwanz einziehen, wie ein Mädchen weglaufen. Innerlich reibe ich mir schon die Hände, obwohl er noch nichts weiter gesagt hat.
„Drittens, ich schlafe auf dem Sofa. Das sollte auszuhalten sein und schließlich schlafe ich auf allem, wenn es darauf ankommt.“ Er zwinkert mir zu und ich versuche seine Anspielung zu ignorieren.
„Zweitens, im Moment ist es wohl oder übel unser Apartment. Und erstens.“ Er räuspert sich, als hätte er eine stundenlange Predigt gerade hinter sich gebracht.
„Und erstens können wir uns doch kennenlernen.“ Matthew schaut mich fragend an. Nun bin ich an der Reihe. Jetzt geht es um alles oder nichts. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ich willige in diesen Deal ein, versuche Madame Dupont morgen in aller Frühe zu erreichen und vergesse diesen Zwischenfall für den Rest meines Lebens. Oder ich sträube mich, der Krieg geht weiter, sodass ich in der Nacht vor lauter Wut nicht schlafen kann. Morgen bin ich dann womöglich nicht ausgeschlafen, er ist schneller als ich und ihm gehört alles.
„Das lässt sich einrichten, denke ich.“ Seine Miene hellt sich sofort auf.
„Okay. Wann gehen wir?“ An meinem Gesichtsausdruck scheint er zu merken, dass ich keine Ahnung habe, wovon er eigentlich redet, also beginnt er zu erklären.
„Wir wollen uns doch besser kennenlernen oder? Und wo geht das besser, als in Paris, der Stadt der Liebe. Die Stadt, mit dem besten Essen der Welt. Die Stadt, die in der Nacht noch genau so wunderschön ist, wie am Tag. Die Stadt, in der alle Menschen aussehen, als wären sie aus einem verdammten Modemagazin geschlüpft. Die Stadt der Liebe.“ Mein Mund klappt auf. Das war mit Abstand das Schwulste, was er bis jetzt gesagt hat. Wie er die ersten Wörter stets wiederholt und die Liebe noch einmal erwähnt hat. Sofort mache ich mir keine Sorgen mehr um die Nacht oder seine Absichten, wenn ich eingeschlafen bin.
„Deshalb siehst du also so gut aus?“ Gespielt überrascht starre ich ihn an, als wäre eine Horde Aliens eben vor mir gelandet.
„Was? Was meinst du damit?“ Nun bin ich an der Reihe herzlich zu lachen. Erst als mein Bauch beginnt wehzutun, fällt mir wieder ein, dass ich ja nicht alleine in diesem Zimmer sitze und begegne einem beleidigten Blick seinerseits.
„Du denkst ich bin schwul oder?“ Noch immer lächelnd nicke ich wild mit dem Kopf und pruste wieder los. Matthew verschränkt die Arme ineinander und beißt sich auf die Lippen. Plötzlich macht mir diese Geste rein gar nichts mehr. Obwohl mich meine Fantasien selbst nach dieser Erkenntnis nicht ganz in Frieden lassen.
„Das kann ich nicht zulassen.“
„Was kannst du denn nicht zulassen?“ Er steht auf, rückt den Sessel zurecht und kommt direkt auf mich zu.
„Ich kann nicht zulassen, dass du weiter mit diesem Irrtum lebst.“ Dann presst er einfach seine Lippen auf meine.


Ich bin zu geschockt um irgendeine Reaktion auszuführen. Mein gesamter Körper wird steif und Matthews Kuss hört nicht auf. Innerlich schreie ich, er soll weggehen. Gleichzeitig will ich ihn aber am Nacken packen und ihm meine Zunge in den Hals stecken.
Zu keinem von beiden bin ich jedoch fähig.
Irgendwann lässt er von mir ab und ich ziehe scharf die Luft ein.
„Ich hoffe, das wäre jetzt geklärt.“ Alles, was ich aufbringe ist ein schwaches Nicken, das ihn aber zufriedenstellt, denn ein breites Lächeln breitet sich wieder auf seinem Gesicht auf. Sein Friede, Freude, Eierkuchen- Gesicht gefällt mir ganz und gar nicht. Niemand nimmt sich einfach die Frechheit mich zu küssen, außer vielleicht ich sitze betrunken an einer Bar. Das hier ist aber etwas völlig Anderes. Hier ist kein Alkohol im Spiel, was das Geschehene entschuldigen würde.
Matthew steht auf, rückt seinen Stuhl an den Tisch und geht ein paar Schritte in Richtung Flur.
„Kommst du, Mona Lisa?“
„Nenn mich nicht so“, schreie ich ihm hinterher, nachdem ich ihn nicht mehr sehen kann. Ich überlege kurz. Soll ich wirklich mitgehen? Er wirkt schließlich weder gefährlich, noch sonderlich böse. Vielleicht ein wenig verrückt, aber ich bin schon mit schlimmerem ausgekommen. Kurzerhand beschließe ich ihm zu folgen.
„Hier bist du ja. Ich dachte schon ich muss alleine essen gehen.“ Er hat meinen Mantel in seinen Händen und legt ihn mir wie ein echter Gentleman um. Seinen schwarzen, hat er bereits an.
Erst draußen auf der Straße kommt mir der Gedanke. Ich bin in Paris. Ich bin tatsächlich in Paris. Ein Lächeln kommt auf meine Lippen, was zur Folge hat, dass Matthew seine Augenbrauen weit nach oben zieht.
„Habe ich einen lustigen Witz verpasst?“
„Nein, nein. Es ist nur…“ Ich sammle meine inneren Stimmen zu einer Aussage zusammen. „Ich bin endlich hier angekommen. In der Stadt meiner Träume. Ich wollte hier immer schon einmal her. Und Montmartre ist so wunderschön.“ Wäre ich ein Mann gewesen, so ist das gerade meine schwule Minute gewesen. Jedoch lacht Matthew mich nicht aus, sondern schließt sich meiner Meinung an.
„Ich weiß, was du meinst. Hier schlummert in jeder Ecke Inspiration.“
„Inspiration?“ Ich verstand nicht ganz. Ich war hier um die Sehenswürdigkeiten über mich ergehen zu lassen. Vor allem aber war ich wegen einer Sache hier. Spaß.
Ich wollte Spaß haben, bis es zu viel würde.
„Darf ich vorstellen, Matthew. Angehender Schriftsteller.“ Plötzlich verstehe ich alles. Die Szene eben habe ich falsch gedeutet. Es hat sich um Poesie gehandelt, nicht um Homosexualität.
In der Schule haben wir viel mit Gedichten gemacht. Das Wiederholen des Anfangs war hierbei ein wichtiges Merkmal, das das Ausmaß des Inhalts unterstreichen sollte.
„Was genau schreibst du?“ Ich komme mir komisch vor. Mit dem Schreiben habe ich noch nie sonderlich viel zu tun gehabt, noch mich je mit jemandem unterhalten, der es als Hobby ausübt. Eigenartigerweise macht ihn das nur noch interessanter und um keinen Grad weniger attraktiv.
„Ich schreibe alles. Kurzgeschichten, Gedichte und Romane.“ Ich nicke leicht. Um ehrlich zu sein weiß ich nicht weiter. Normalerweise kann ich guten Smalltalk führen, aber bei ihm fällt es mir unglaublich schwer. Er ist anders. Ganz anders, als ich es von Männern gewöhnt bin. Viel direkter, selbstbewusster und kreativer in seinen Handlungen, das musste ich ihm lassen.
„Rechts“, schreit er ein wenig zu laut, als ich die Seitengasse verpasse, in die er hineingehen will. Aber woher soll ich das denn auch wissen? Ich kann ja nicht Gedanken lesen, so leid es mir tut.
Es ist ein nettes kleines Restaurant, in das er mich führt. Jedoch ist es so versteckt in diese, Gässchen und dazu mit lauter Efeu umringt, sodass ich mir schwer vorstellen kann, dass Matthew noch nie hier in Paris war.
„Wie oft warst du schon hier?“
„Noch nie.“ Ich schaue verdutzt.
„Woher kennst du dann dieses Restaurant?“, frage ich.
„Ich kenne es nicht.“ Okay, jetzt wird mir das langsam ein wenig zu viel.
„Aber…“ Mir verschlägt es die Sprache. „Aber du musst es doch kennen, wenn es so versteckt ist.“ Er grinst verschlagen in sich hinein.
„Ich konnte nur das Essen riechen. Und es riecht wirklich gut, als dachte ich, wir sollten hier einkehren.“
„Du kannst es riechen?“ Ich versuche mich zu konzentrieren, kann aber bei bestem Willen nur den Käse ausmachen, der in der Vitrine neben uns steht, als wir durch die Tür gehen.
„Bonjour Madame. Bonjour Monsieur.“
„Bonjour“, bringe ich gerade noch hervor.
„Pour deux personnes ? “
„Oui. Une table à l’arrière s’il vous plaît. “
Der Mann führt uns durch den langen Raum und gibt uns den Platz im hintersten Teil, den ich ausmachen kann.
„Merci, entgegnet Matthew und setzt sich.
Ich platziere mich genau gegenüber von ihm.
„Dein Französisch klingt perfekt.“ Er lächelt, schüttelt allerdings den Kopf und verneint.
„Ich kann mich verständigen, aber es ist nicht makellos. Diese Sprache muss ich erst genauer lernen.“ Der letzte Satz macht mich neugierig. Da wir ja hier sind, um uns besser kennenzulernen, ist es nicht peinlich oder unverschämt weiter nachzufragen.
„Welche Sprachen kannst du noch?“
„Außer Englisch? Mal sehen.“ Er überlegt kurz.
„Spanisch, Deutsch, Mandarin, Japanisch und Suaheli.“ Mein Mund klappt auf. Mit so vielen habe ich nicht gerechnet.
„Überrascht?“ Braucht er darauf wirklich eine ernsthafte Antwort?
„Wie steht es mit dir?“, fragt er mich. Mein Gesicht wird ein wenig heiß.
„Englisch, Italienisch und meine französisch Kenntnisse sind stark begrenzt.“
In diesem Moment kommt der Kellner und wir bestellen uns jeder etwas zu trinken und zu essen. Typisch, dass Matthew einen Wein für uns beide bestellt.
„Wir sind in Paris, da wird Wein getrunken als wäre es Wasser. Also fangen wir am besten auch schon einmal damit an.“
„Aber nicht zu viel. Ich vertrage keinen Alkohol.“
„Du wirst also schnell betrunken?“ Schon wieder grinst er mich an, als hätte er gerade den Jackpot geknackt.
„So willst du mich gar nicht erleben.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Er hat doch keine Ahnung. Wenn ich einmal betrunken bin, ist es aus mit jeder Hemmung, da geht es dann richtig ab. Mir ist dann ein richtiges Benehmen völlig egal und ich tue das, wozu ich in diesem Moment Lust habe.
Matthew erhebt sein Glas.
„Auf Paris. Auf Kameradschaft. Auf den Alkohol.“ Ich stoße mit ihm an und nippe lediglich ein wenig an der Flüssigkeit.
Unser Abendessen ist köstlich. Nachdem wir fertig gegessen haben, wird uns eine Platte mit verschiedenen Käsesorten gebracht, die ich kritisch beäuge.
„Du musst kosten.“
„Ich weiß nicht…“ Er scheidet sich ein Stück von dem hellsten ab und steckt es sich in den Mund. Doch anstatt es ihm gleichzutun, nehme ich wieder einen Schluck Wein. Zu meinem Bedauern merke ich, dass mein eben noch volles Glas auf einmal leer ist. Habe ich das alles getrunken? Ich vernehme ein leises Lachen gegenüber von mir und schon ist mein Glas wieder gefüllt. Ich bedanke mich höflich beim Kellner, der sofort zur Stelle war und trinke ein paar Schlucke.
„Also bist du lieber betrunken, als Käse zu essen.“
„So kann man das sagen. Ja“, entgegne ich. Keine zehn Pferde bringen mich dazu so etwas auch nur anzurühren. Vielleicht ist es in diesem Land ja unhöflich es nicht zu tun, aber damit müssen die Einwohner wohl heute Abend leben.
„Tu dir keinen Zwang an.“ Ich presse meine Lippen fest aneinander. Ich kann den Alkohol schon spüren, wie er durch mein Blut fließt und alles leichter werden lässt. Aber ich muss mich beherrschen.
„Bist du fertig?“, fragt er mich, als die Platte vollkommen leer ist, genau wie mein Glas.
„Ja, gehen wir.“ Wieder nimmt er meinen Mantel, bevor ich ihn in die Finger kriege und bettet ihn mir um die Schulter.
„Danke.“
„Keine Ursache“, flüstert er mir ins Ohr. Sein Mund ist nahe. Viel zu nahe. Ich kann ihn riechen, seinen Atmen hören.
„Mona, konzentrier dich“, ermahne ich mich selbst in Gedanken, sodass niemand etwas hört.
„Ab nach Hause?“
„Ab nach Hause“, wiederhole ich und bin die erste auf der Straße.

„Pass auf“, schreit Matthew mich viel zu laut an, als ich über die Haustür stolpere. Vielleich habe ich doch ein wenig zu viel von dem köstlichen Wein genossen.
„Das geht schon“, sage ich und versuche mich aus seinem festen Griff zu befreien, was sich aber als unmögliche Aufgabe herausstellt.
„Was machen wir jetzt?“ Ich wippe leicht hin und her, darauf bedacht mich nicht sofort auf dem Fußboden wieder zu finden.
„Das Fräulein wird schlafen gehen.“ Spaßhalber drehe ich mich um und frage: „Welches Fräulein denn?“ Er schüttelt den Kopf, jedoch beginnt er wieder zu Lächeln.
„Weißt du eigentlich, dass ich jedes Mal fast sterbe, wenn du lachst?“ Wie gesagt, nichts ist mir mehr peinlich. Womöglich werde ich ihm heute noch meine Liebe gestehen, wenn er mich nicht ausbremst, was ich nicht zu hoffen wage.
„Dann sollte ich vielleicht nicht mehr lachen.“
„Nein“, schreie ich ein wenig zu rasch und laut, was ihn aber zum Grinsen bringt.
„Keine Sorge, neben dir ist es viel zu amüsant, um ernst zu bleiben.“
„Küss mich“, kommt es plötzlich aus meinem Mund, ohne, dass ich es aufhalten kann.
„Was?“
„Du hast mich schon gehört.“

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Tag der Veröffentlichung: 29.01.2012

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