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Kapitel 1

 Der Gedanke an einen fremden Ort, an dem uns keiner wirklich kennt und an dem ganz andere Regeln herrschen, so ein Gedanke gilt im Alltag oft als einfache Tagträumereien. Aber was wenn, so ein absurder Gedanke, plötzlich Realität wird? Ein Ort, mindestens so schön wie der Jetzige. Voller neuer Gesichter und unentdeckten Möglichkeiten, ja sogar Fähigkeiten.

Was hätte ich als kleines Mädchen dafür gegeben, wenn die Geschichten meines Grossvaters wahr gewesen wären. Jeden Sommer fuhr ich für ein paar Wochen zu ihm. Wir gingen hinunter zum See, setzten uns ans Ufer, beobachteten den Sonnenuntergang, später dann die Glühwürmchen und er erzählte mir einfach von einem atemberaubenden Ort. Die Art wie er es erzählte, liess einen beinahe Glauben, dass Grossvater so etwas erlebt hatte. Eines Abends als wir wieder am See sassen, da fragte ich ihn verunsichert, aber zu gleich fasziniert: „Opa, gibt es diesen Ort denn wirklich?“ Mein Grossvater lächelte und streichelte mir den Kopf. „Weisst du, mein Kind. Nur weil die meisten Leute nichts davon wissen, heisst es noch lange nicht, dass alles der Fantasie entsprungen ist“, antwortete er schliesslich. „Und“, fuhr ich dann fort, „Glaubst du an so etwas? Und an Zauberei?“ „Zauberei? Nein, nein“, er fing an zu lachen. Verlegen lächelte ich vor mich hin, doch dann wurde sein Gesicht wieder ernst: „Ich glaube, an Menschen, die die Fähigkeit besitzen, die Welt zu verändern.“ Verwirrt starrte ich in sein Gesicht und fragte ihn, was er damit meine. Aber dann erhob er sich, womit er die Unterhaltung für beendet erklärte, und sagte mir schliesslich, dass Grossmutter schon mit dem Abendessen warten würde.

Nach ein paar Tagen wurde mein Grossvater plötzlich krank. Er mochte auf einmal nichts mehr unternehmen, weil ihm bei allem die Kraft fehlte. Anscheinend hatte er Probleme mit dem Herz.  Meine Grossmutter schickte mich deswegen, früher als geplant wieder nach Hause zu meinen Eltern. Eine Woche darauf verstarb mein Grossvater. Damals war ich gerade mal acht Jahre alt. Das Ereignis traf uns alle schwer. Doch am Schwersten meine Grossmutter und mich. Ein paar Jahre vergingen, ich wurde mit jedem Tag älter und so kam es, dass schliesslich weitere 9 Jahre vergingen. Mit 17 befand ich mir in der aller letzten Schulklasse und das grosse Thema der Zukunft war nun gang und gäbe. Ich war eine hoffnungslose Träumerin, starrte während der Schule lieber aus dem Fenster, und in der Freizeit las ich Bücher oder ging, wenn es warm war nach draussen. Dann lag ich stundenlange einfach nur herum und beobachtete die Wolken über mir. Für mein Verhalten wurde ich von der Lehrerin, wie auch von meinen Eltern oft getadelt. Ich begriff nicht ganz, weshalb sie sich alle so aufregten. Selbst wenn ich mich nicht entscheiden kann, was ich  mal machen möchte, es gab viele Möglichkeiten, ein Jahr zu überbrücken. Dann hätte ich etwas mehr Zeit gehabt, darüber nach zu denken. In der Schule war ich zwar nicht die Klassenbeste, aber ich hing ohne zu lernen immer im durchschnittlichen Bereich herum. Und das genügte mir völlig. Als ich gerade von der Schule nach Hause kam, warf ich meine Frühlingsjacke in der Garderobe hin, wie auch meine Schuhe und schlurfte in die Küche. Meine Mutter war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Sie sah von dem Salat auf, bei dem sie die guten Teile gerade heraus geschnitten hatte, und sprach mich in einem gereizten Tonfall an: „Dasha!“ Ich hatte gerade einen Keks in meinen Mund geschoben und schaute sie überrascht an. „Ja, Mama?“, antwortete ich mit vollem Mund und schluckte den Rest herunter. „Die Lehrerin hat heute angerufen.“ „Interessant“, sagte ich sarkastisch. Genervt warf sie den Salat in das mit Wasser gefüllte Lavabo und drehte sich zu mir um: „Hör mir mal gut zu, junge Dame. So geht das nicht mehr weiter, du kommst bald aus der Schule und tust für deine Zukunft rein gar nichts!“ „Natürlich tue ich was.“ „Und was“, schnaubte sie, „Hast du dich irgendwo beworben?“ Verlegen starrte ich zu Boden. Wie faul ich doch war! Sie lachte: „Siehst du. Du kannst nicht ewig zur Schule gehen, deshalb erwarte ich von dir, dass du dir eine Stelle suchst. Egal was.“ „Ach ja, egal was? Auch wenn ich Prostituierte werde?“, lachte ich. „Dasha!“, rief sie wütend. Ich beruhigte mich von meinem Witz wieder und fuhr in einem ernsten Tonfall fort: „Ja, ja. Ich weiss doch, dass ich was suchen muss, die grosse Frage ist leider nur, was. Was soll ich machen?“ Sie seufzte, verliess kurz die Küche und kam mit der Hundeleine wieder herein. Meine Mutter reichte sie mir und meinte: „Geh mit dem Hund an die frische Luft und bekomm deinen Kopf endlich frei. Wenn du fertig bist, will ich von dir eine Antwort haben, was du werden willst.“ „Aber Mama..“, protestierte ich. Sie unterbrach mich, in dem sie mich mit der Leine in der Hand aus der Küche schob. Mit äusserst schlechter Laune, suchte ich unseren Hund im Haus. Eiko war ein Golden Retriever und gehörte schon seit 10 Jahren zur unserer Familie. Als er die Leine sah, sprang er auf, als wäre er noch der Jüngste Hund und wedelte erfreut mit seiner Route. Schweigsam tätschelte ich ihm den Kopf, leinte ihn an und ging mit ihm nach draussen.

Hätte mir in dem Moment jemand gesagt, dass ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen habe, dann hätte ich ihn so sehr ausgelacht, dass ich vor Lachen auf der Strasse gelegen wäre und nicht wieder hätte aufstehen können. Wahrscheinlich hätte ich so gehandelt, denn meine Familie bedeutete mir einfach alles. Als ich im Wald ankam, liess ich Eiko von der Leine. Er rannte ein Stück voraus um die Bäume und die Sträucher zu beschnuppern und irgendwo in aller Ruhe sein Geschäft zu verrichten. Unterdessen trottete ich ihm hinterher und schweifte mit meinen Gedanken ab. Was sollte ich bloss meiner Mutter antworten, wenn ich wieder zu Hause war? Stirnrunzelnd blieb ich stehen. Vielleicht studiere ich ja noch etwas weiter. Ich müsste dann mehr lernen, aber wieso nicht. Plötzlich wurde ich von meinem Gedankengang herausgerissen, durch ein lautes Bellen von Eiko. Das Bellen hörte sich ziemlich weit weg an. Besorgt rannte ich in die Richtung, in der ich meinen Hund vermutete. Panisch rief ich seinen Namen. Das Bellen verklang auf einmal. Eiko war eigentlich ein todlieber Hund, er würde nie einfach davon laufen. Aber hinter dem Wald war eine gut befahrene Strasse. Wenn er eine Katze sieht, ist er auf und davon, ohne Rücksicht auf die Autos. Als ich nach ein paar Metern meinen Hund einholte und fest stellte, dass er eine Katze auf einem Baum angebellt hatte, war ich verdammt erleichtert. Die Katze fauchte von Baum herab und versuchte weiter nach oben zu klettern. „Lass das Mistvieh in Ruhe, Eiko. Und wehe du rennst noch mal einer Katze nach“, sagte ich zu meinem Hund  und lief weiter. Eiko folgte mir sofort und verschwendete keinen Gedanken mehr an die Katze auf dem Baum. Mein Handy in  meiner Hosentasche vibrierte. Als ich es heraus holte und eine Nachricht einer Schulfreundin sah, sprang Eiko mich plötzlich an. Er wollte vermutlich mit mir spielen, dann tat er das oft, aber noch nie so unerwartet beim Spazieren. Zu spät bemerkte ich den Abhang hinter mir und stürzte, noch mit dem Handy in der Hand, herab. Wo Eiko blieb, konnte ich nicht sagen. Ich rollte den Abhang förmlich herunter und kam dann irgendwann zum Stillstand, als ich in einen Baum stiess. Ein Schmerz durchzuckte meinen Rücken und meinen Schädel. Danach sah ich nur noch Finsternis. Irgendwo in der Ferne, vernahm ich noch Eikos Bellen, ehe alles still war.

Das Nächste, das ich wahrnehmen konnte, was Nässe. Überall diese Nässe. Und wo zum Teufel, war die Luft abgeblieben? Es fühlte sich an, als würde ich irgendwo herumschweben, wo es verdammt Nass war. Plötzlich wurde mir bewusst, als ich versuchte zu atmen, dass ich tatsächlich unter Wasser war. Aber ich hatte nicht die Kraft, die Augen aufzumachen und dagegen etwas zu tun. Mein ganzer Körper war schwer wie Blei und schien mir nicht zu gehorchen. Jemand packte mich am Arm und zog mich hastig nach oben. Vor mir begann die Welt sich wieder in eine Finsternis zu begeben. Dumpf spürte ich, dass ich irgendwo an Land gebracht wurde. Ein paar Stimmen verklangen in meinen Ohren. Ich versuchte zu atmen, doch meine Lungen waren mit Wasser gefüllt. Und die Finsternis holte mich wieder zu sich.

„Sie wacht auf“, hörte ich eine Mädchenstimme erfreut sagen. Eine weitere Stimme, vermutlich die eines Jungen, antwortete von weiter weg: „Wird auch langsam Zeit. Man sollte halt nicht schwimmen gehen, wenn man es nicht kann.“ „Theo!“, ermahnte das Mädchen den Jungen. Theo? Ich hatte in unserem kleinen Dorf nie einen Theo gesehen. Meine Lider flatterten unkontrolliert, doch dann gerieten sie nach und nach wieder unter meine Kontrolle, wie auch der Rest meines Körpers. Es fühlte sich an, als hätte ich mich gestern Abend betrunken und nun einen Kater davon getragen. Ein junges Gesicht schwebte vor mir. Das Mädchen hatte schwarze Haare und strahlblaue Augen, die ein lebhaftes Leuchten in sich hatten. Sie strahlte mich an, irgendwie so voller Freude. Ich sah mich vorsichtig in den Raum um. Ich schien mich in einem Zelt zu befinden. Ein altes Zelt. Es bestand nämlich, so viel ich wahrnehmen konnte, aus Fell. Verwirrt richtete ich mich auf. Ich lag auf dem Boden in vielen Decken eingewickelt. Das Mädchen kniete neben mir und grinste noch immer über beide Ohren: „Na, wie fühlst du dich?“ Verdutzt musterte ich sie. Ihre Kleidung schien irgendwie nicht aus unserer Zeit zu sein. Vielleicht, hatten sie sich wegen, was auch immer, verkleidet? Die Einrichtung in dem Zelt, erinnerte mich etwas an Indianer, und doch schienen es keine zu sein. Ihre Haut war eigentlich weiss. Nur von der Sonne in einen schönen Ton gebräunt. Am anderen Ende des Zeltes,  oder was auch immer, stand ein Junge. Ich schätzte ihn auf das gleiche Alter wie ich, vielleicht auch etwas älter. Auch er hatte gebräunte Haut, schwarzes, längeres Haar, das er zusammen gebunden hatte und diese blauen Augen. „W-Wo bin ich?“, stammelte ich schliesslich. Meine Stimme hörte sich krächzend an. Das Sprechen viel mir äusserst schwer. Bilder des kalten Wassers flackerten wieder in mir auf. War das wirklich geschehen, oder stand ich unter Droge? Das Mädchen antwortete mir fröhlich: „Du bist in unserer Gemeinschaft und in Sicherheit vor den Soldaten des Königs!“ Sie sprach es irgendwie so wahr aus, dass ich es beinahe glaubte. Soldaten des Königs? Es gab bei uns keine Könige mehr. Seit Jahrhunderten nicht mehr. Ungläubig starrte ich sie an. Der Junge, offenbar Theo, meinte: „Sie ist vermutlich noch etwas durch den Wind. Vielleicht wurde sie ja auch einer Gehirnwäsche unterzogen.“ „Was?“, krächzte ich. Allmählich verzweifelte ich. Das war ein Traum, dachte ich, ein böser Traum und mein Gehirn spielte mir einen üblen Streich. „Ach, glaub dem nicht alles“, beruhigte sie mich und reichte mir dann eine Holzschale, in der Wasser war, „Du bist sicher durstig.“ „Ich glaube, wenn ich mich recht erinnere, dass ich vom Wasser genug habe“, lehnte ich höflich ab und versuchte aufzustehen. Das Mädchen half mir auf. Sie war etwa gleich gross wie ich und vielleicht auch gleich alt. Sie fragte mich: „Willst du dich draussen umsehen?“ Ich nickte selbstsicher. Ich musste hier rausfinden, was dieses Theater soll und wo zum Teufel mein Hund steckte. Ich schlug die Plane zurück, die den Eingang des Zeltes bedeckte und trat hinaus ins Sonnenlicht. Als meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, unterdrückte ich einen verzweifelten Aufschrei. Es kam mir vor, als hätte ich eine Zeitreise gemacht. Als stünde ich hier mitten unter weissen Indianern. Es waren sogar ein paar Leute darunter, die eine andere Haarfarbe hatten als schwarz. Blond, braun, dunkelbraun, ja sogar kupferfarben. Ein paar alte Frauen, die auf dem Boden sassen und einen Stoff zusammenflickten, sahen kurz auf und musterten mich misstrauisch. „Alles in Ordnung, sie ist keine von ihnen“, rief das Mädchen und schenkte den alten Damen ein Lächeln. Überall standen Zelte herum, irgendwo war sogar ein Zaun, in dem sich Pferde aufhielten. Der Junge war bereits zu den Pferden vor gelaufen und redete dort mit einem Mann. Eine friedliche Stimmung herrschte hier. „Das ist doch ein Traum“, murmelte ich verzweifelt, „Eben war ich doch noch mit Eiko unterwegs…“ „Eiko?“, das Mädchen sah mich verwundert an und legte den Kopf schräg, was mich an einen Vogel erinnerte. „Ihr wollt mich doch verarschen! Ich will sofort nach Hause“, drängte ich sie. Sie sah mich unverständlich an. Wut, diese Orientierungslosigkeit und allmählich tiefe Verzweiflung kamen in mir hoch und trieben mir Tränen in die Augen. Das Mädchen berührte mich am Arm und sprach sanft auf mich ein: „Ich weiss nicht, woher du kommst, aber es ist unmöglich, dass du da draussen weiter überleben würdest, wo auch immer dein zu Hause war. Die lassen da keinen am Leben, es grenzt an ein Wunder, dass du so weit gekommen bist.“ „Wie bitte? Ich war zu Hause, da gibt es keinen der irgendwen umbringt, da ist meine Familie, die auf mich wartet, und wenn ihr mich nicht gleich nach Hause lässt, werden die die Polizei rufen!“ „Ich verstehe nicht, wo von du sprichst“, sagte sie nur. Sie schien es ehrlich zu meinen. Ich liess mich auf den Boden fallen, sackte in die Knie und starrte auf das kärgliche Gras unter mir. Tränen kullerten über meine Wangen. Ich konnte es nicht fassen. Auf einmal schien ich in einer Welt voller Psychos zu sein, die mir irgendetwas vorgaukelten. Aber wenn ich in ihr Gesicht sah, kam es mir so wahr und realistisch vor. Und plötzlich, erinnerte ich mich an ein paar Worte meines Grossvaters: „Zu erst wirst du nass, und dann auf einmal siehst du eine Welt, wie du sie noch nie gesehen hast, voller Menschen, die ganz unterschiedlich sind. Einige sind sofort deine Freunde, andere dafür deine Feinde.“

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Tag der Veröffentlichung: 29.03.2013

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