Glücklich ist, wer das, was er liebt, auch wagt,
mit Mut zu beschützen.
- Ovid
Angsterfüllt fuhr Serena zusammen und presste ihren Körper an die kühle Wand ihres Gemaches. Im schwachen Licht der aufgehenden Sonne erspähte sie eine Krähe auf dem Fenstersims, deren unheimliches Krächzen sie furchtbar erschrocken hatte. Sie konnte es nicht glauben, dass ein Vogel sie so aus der Ruhe bringen konnte.
Wütend griff sie nach einem goldenen Becher und warf ihn nach dem schwarzen Vogel, der daraufhin mit lauten Protestschreien in die Dämmerung flüchtete.
Als sich die Halbgöttin wieder einigermaßen gefasst zum Spiegel umdrehte, strich sie ihre Bediensteten-Kluft zurecht, ehe sie ihr Gemach verließ und durch die totenstillen Gänge des Sonnenpalastes schlich. Sie war die erste Bedienstete, die ihren Pflichten nachging. Wahrscheinlich war sie sogar wieder einmal die einzige Bedienstete, die bereits auf den Beinen war. Sie konnte jedoch nicht mehr schlafen. Und nach dem Vorfall mit der Krähe war an Ruhe ohnehin nicht mehr zu denken.
Die Angst, dass Thanatos seine Drohung aus dem Tartaros wahrmachen könnte, raubte ihr den Verstand. Sie hatte sich seiner Anweisung widersetzt, hatte Helios versehentlich von ihm erzählt, und er wollte andere nun dafür bestrafen – Jene, die sie liebte. Doch nun, nach drei Monden, war noch immer nichts geschehen. War es also nur eine leere Drohung?
Vor den großen goldenen Toren des Thronsaales blieb Serena einen Augenblick lang stehen und lauschte den Stimmen dahinter. Sie verdrängte den quälenden Gedanken an Thanatos aus ihrem Kopf und schob eines der Tore auf. Die Stimmen verstummten sofort und zu hören war nur noch das leise Schlurfen ihrer Ledersandalen, als sie durch den Raum schritt.
Mit gesenktem Blick trat Serena an den Thron des Sonnengottes heran. Respektvoll tief verbeugte sie sich, ohne auch nur einen Moment aufzusehen. Die Luft zum Atmen blieb ihr dabei weg, denn sie wusste, dass jede Regung ihres Körpers in diesem Augenblick beobachtet wurde.
»Serena ... So früh auf den Beinen?«, ertönte eine überraschte Stimme, die der Halbgöttin eine Gänsehaut bereitete.
Widerwillig blickte sie auf und erspähte die Oberbedienstete Antheia, die sie verwirrt ansah. Ihre faltige Stirn war noch runzliger als sonst und die hochgezogenen Augenbrauen gewährten Serena den seltenen Anblick ihrer blauen Augen.
Zögernd nickte die Halbgöttin und ließ ihren Blick zu dem goldenen Thron schweifen, auf dem der Sonnengott saß. Seine Augen beobachteten sie misstrauisch. Ihm war ihr frühes Erscheinen zweifellos nicht geheuer. Abrupt schickte er Antheia aus dem Thronsaal und wartete, bis diese den Raum verlassen hatte.
Als Serena das leise Grollen des sich schließenden Tores vernahm, atmete sie erleichtert aus, ehe sie sich wieder aufrichtete. Erst jetzt bemerkte sie, dass außer ihr und Helios niemand sonst anwesend war. Und nun, da die beiden unter sich waren, legte sich eine eisige Stille über den Raum, in der sie nur ihren eigenen rasenden Herschlag vernehmen konnte.
»Ein langer Tag steht an«, räusperte sich die Halbgöttin nervös und trat zurück. »Ich werde umgehend die Therme und das Essen vorbereiten–«
»Wir müssen reden!« Helios‘ harscher Tonfall ließ sie an Ort und Stelle erstarren. Ein Schauer überlief sie und nur mit Mühe konnte sie das unkontrollierte Zittern ihrer Gliedmaßen bändigen.
»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte sie angespannt.
Helios erhob sich elegant aus seinem Thron. Seine Augen durchbohrte sie gekonnt, fesselten ihren Blick und ließen sie jeden Gedanken an eine Flucht sofort vergessen.
»Nichts, das ist es ja«, erwiderte er ruhig und kam langsam die kleine Treppe zu ihr hinab. »Dein letzter Regelverstoß liegt Ewigkeiten zurück. Du widersprichst nicht, glänzt stets durch Zuverlässigkeit und führst die dir zugeteilten Arbeiten zu Antheias vollster Zufriedenheit aus. Sie lobt dich in den höchsten Tönen.«
»Und das ist schlecht?«, fragte Serena irritiert lächelnd und legte ihren Kopf leicht zur Seite.
»Das ist befremdlich«, erwiderte Helios trocken. Sein Blick blieb unverändert, während er sie musterte. »Jedenfalls für deine Verhältnisse.«
Serena biss sich auf ihre Zunge. Helios' Worte waren sorgenvoll, doch ebenso spöttisch. Im Normalfall würde sie ihm eine spitzzüngige Bemerkung schenken. Einen Augenblick lang dachte sie sogar wirklich darüber nach, konnte die Worte jedoch stoppen, ehe sie ihre Lippen verließen. Stattdessen schluckte sie ihren Ärger herunter und setzte ein Lächeln auf.
Ihre Hände vor sich gefaltet, verbeugte Serena sich respektvoll tief. »Ich gehe nur meinen Pflichten nach. Wenn du nichts weiter wünschst, werde ich nun meine Arbeit aufnehmen.«
Helios starrte ihr wortlos nach, als sie ging. Ihr seltsames Verhalten irritierte ihn, dennoch ließ er sie ziehen.
Als sich das Tor hinter Serena schloss, atmete sie tief durch, ehe sie sich mit geballten Händen auf den Weg zur Therme machte, um ihren Dienst zu beginnen. Sie hasste es, wenn Helios sie so misstrauisch musterte. Jedes Mal befürchtete sie, diesem Blick nicht standhalten zu können. Doch sie durfte nicht nachgeben, das hatte sie sich fest vorgenommen ... um seinetwillen.
Unzählige Male hatte sie in den vergangenen Monaten das Gespräch mit Helios gesucht. Sie wusste schließlich, dass sie sein Leben in große Gefahr gebracht hatte und es belastete sie. Helios verlor jedoch kein Wort über den Tartaros. Er schien die Ereignisse verdrängen zu wollen und beteuerte, es sei alles in Ordnung – doch nichts war in Ordnung.
Noch immer spürte Serena die Kälte des finsteren Ortes auf ihrer Haut, hörte die Schreie der gequälten Seelen in den unzähligen Nächten, in denen sie schlaflos in ihrem Bett lag und sah das schmerzverzerrte Gesicht eines geschundenen Titans, um den ein Adler kreiste, wann immer sie ihre Augen schloss. Schlimmer war nur die Gewissheit, dass Timaios im Tartaros gefangen gehalten wurde und Zeus sie im Stich gelassen hatte. Hätte er sie damals vor dem Herrn der Unterwelt geschützt, wäre sie niemals Wirtin der Kalten Flamme geworden. Timaios, Callisto und viele anderen Menschen würden noch leben. Ihr gesamtes Leben wäre anders verlaufen ... sicherer ... glücklicher.
Angespannt trat Serena in die göttliche Therme ein und richtete das Bad mit frischen Kräutern und Ölen an. Eos würde sicherlich bald zurück sein. Ein morgendliches Bad in der nach Rosenblüten duftenden Therme gehörte zu ihrem täglichen Ritual, ebenso wie Darius das Grinsen aus seinem Gesicht zu treiben. Sie hatte sich einen Narren daran gefressen, den Vertrauten ihres Bruders zu schikanieren, und er liebte es, sie zur Weißglut zu bringen. Die beiden ahnten nicht einmal, in welch einer Gefahr sie schwebten.
Der befreundete Halbgott hatte seine Ohren überall. Er war nicht nur ein ebenso schlechter Lügner wie Helios, sondern auch sehr redselig. Hätte Helios von Thanatos berichtet, wäre dies früher oder später zu ihr durchgedrungen, doch nichts. Der Gott verheimlichte es also vor ihm und somit sicherlich auch vor Eos.
Die Sonne war bereits aufgegangen und warf ihr wärmendes Licht auf den Palast, als Serena die Therme wieder verließ. Sie war auf dem Weg zur Küche, um Vorbereitungen für einen Abgesandten aus Rhodos zu treffen, der an diesem Tag kommen sollte. Doch als sie am Thronsaal vorbei schritt, erspähte sie einen Schatten, der den weißen Boden trübte.
Verwirrt sah Serena auf und erblickte einen großen Adler auf dem Fenstersims direkt vor den Türen des Thronsaales sitzen. Sie erkannte sofort, dass dies ein Bote des Olymp war, denn ihr war das Papier im Schnabel des Tieres nicht entgangen – eine Botschaft des Zeus. Ein Brief ihres Vaters.
Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihr Körper, wie unter Strom gesetzt, handelte aus Reflex. Sie stürmte auf den großen Adler zu, riss ihm den Brief aus dem Schnabel und wedelte wild mit den Armen, woraufhin der Vogel laut protestierend davonflog. Um eine Konfrontation mit Helios zu vermeiden, der das laute Geschrei im Thronsaal sicherlich gehört hatte, rannte Serena sofort in ihr Gemach zurück.
Die Tür flog hinter ihr ins Schloss. Die Erschütterung stieß einen Stapel Bücher um, den sie direkt daneben hingestellt hatte, und verteilte sie weitläufig über den Boden. Serena war jedoch hypnotisiert von dem Pergamentpapier in ihrer Hand, sodass sie das Chaos nicht weiter beachtete.
Zahlreiche Briefe hatte der Herrscher des Olymp ihr in den letzten Monaten zukommen lassen. Wieder wollte er sie zurücklocken, sie mit reuevollen Worten besänftigen. Serena wollte sich dieses Mal jedoch nicht von der gespielten Liebe ihres Vaters verzaubern lassen. Es interessierte sie nicht einmal, woher sein Sinneswandel kam. Aus diesem Grund las sie seine Briefe schon lange nicht mehr. Wie alle anderen zuvor, zerknüllte sie auch diesen in ihrer Hand und ließ ihn durch die Macht der Kalten Flamme zu Asche zerfallen. Die Überreste kehrte sie mit ihren Füßen unter ihr Bett und badete sich einen Augenblick lang in der Erleichterung, den Brief gefunden zu haben, bevor Helios es tat. Es war ein Gefühl, das jedoch nur kurzzeitig währte; nur bis zu dem Augenblick, wenn sie realisierte, dass der nächste Brief aus dem Olymp sicherlich nicht lange auf sich warten ließ. Und dieses Mal traf die Realisierung Serena schneller als erhofft.
Ihre Augen wurden matt, als sie an ihren Vater dachte und sie Wut überkam. Sie hatte ihm das olympische Amulett vor die Füße geworfen – eine klare Geste der Verachtung. Warum wollte er sie noch immer nicht aus seinem kranken Spiel freigeben? Eine Antwort würde sie wohl nie erhalten, denn eine erneute Konfrontation mit dem Herrscher des Olymp wollte sie vermeiden.
Auch am späten Nachmittag hatte die verärgerte Halbgöttin keine Ruhe gefunden. Als sie sich sicher war, dass Helios mit dem Besuch aus dem rhodischen Königshaus beschäftigt war, schlich sie sich deshalb durch die leere Empfangshalle. Ihr Weg führte sie die Treppe zu dem unterirdischen Korridor hinab.
Die Dunkelheit in diesem Gang war erdrückend. Das einzige Licht, das durch die Finsternis drang, war ein schwaches Flackern unter einer Tür, auf die Serena wie gebannt zuschritt.
Zögernd schob sie die schwere Goldtür auf. Aus dem schwachen Flackern wurde augenblicklich ein gleißendes Licht, das den Raum einhüllte und in ein leuchtendes Weiß tauchte.
Serena atmete tief durch und blickte zu der schwebenden gasförmigen Kugel inmitten des Raumes hinüber. Das letzte Mal hatte sie diesen Ort aufgesucht, um Helios davon zu überzeugen, die Moiren aufzusuchen; nur um sie endlich von ihren Albträumen zu erlösen – nicht ahnend, dass sie sich in einem Albtraum befand, aus dem sie nicht erwachen konnte.
Mit angehaltenem Atem streckte sie ihre Hand nach der Sonnenkugel aus, doch ihr Körper erstarrte in jenem Moment, als sich Schatten im Licht bildeten und dumpfe Stimmen den Raum erfüllten.
Die strengen Augen des Zeus blickten auf sie hinab. Rasend vor Wut holte er aus und ein schallender Laut ließ Stille einkehren.
Zitternd hielt sie sich die Wange und stieß mit dem Rücken an die Wand hinter ihr. Entsetzen zeichnete sich in ihren Augen ab. Die Fassungslosigkeit überstieg den Schmerz, unterdrückte sogar die Tränen, die sich in ihren glasigen Augen gebildet hatten.
Wie gebannt betrachtete Serena die Erinnerung – ihre Erinnerung von jenem Tag, als Zeus ihr sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Wieder und wieder sah sie, wie er sie schlug, doch egal wie oft sie diese Erinnerung wachrief, es änderte sich nichts. In den Augen ihres Vaters sah sie nichts als Verachtung. Keine Reue. Keine Schuld. Keine Liebe, die ein Vater für sein Kind empfinden sollte.
Damals hatte sein Verhalten sie erschüttert und mit jedem Gedanken an diesen Vorfall bekam ihre Seele mehr und mehr Risse. Das war bis zu jenem Tag, als sie endlich die Augen öffnete.
»Warum tust du dir das an?«
Überrascht fuhr Serena zusammen und zog ihre Hand zurück. Das Bild eines tobenden Vaters erlosch im Licht und die Stimmen verstummten in der Stille.
Sie hatte geahnt, dass er kommen würde. Die Erinnerung hatte sie jedoch so gefesselt, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, wie lange er schon hinter ihr stand.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie flüsternd und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
Als Helios plötzlich neben sie trat, wandte Serena sofort ihren Kopf ab. Sie wollte nicht, dass er einen Blick auf ihre von Wut gezeichneten Augen erhaschen konnte, auch wenn sie sich sicher war, dass die gesehenen Bilder für sich sprachen.
»Hast du mich verfolgt?«, wollte sie wissen, als er kein Wort verlauten ließ.
»Nein, ich habe mir Sorgen gemacht«, erwiderte er zögernd und wandte seinen Kopf zu ihr um. »Du bist nicht zum Training erschienen. Das ist bereits das dritte Mal.«
Serenas Atem geriet ins Stocken. Sie hatte es vollkommen vergessen, dass sie an diesem Abend auf der Plattform trainieren wollten. Zeus' Briefe warfen sie völlig aus der Bahn, sodass sie sogar die Zeit vergessen hatte.
»Verzeih«, entfuhr es ihr reumütig, als sie seinen Blick erwiderte und seinen funkelnden Augen einen Moment lang erlag. »Ich war in Gedanken.«
»Das habe ich gesehen«, entgegnete Helios trocken und richtete seinen Blick zur Sonnenkugel, deren Licht die besorgte Strenge in seinem Gesicht betonte.
»Hast du etwas in Erfahrung bringen können ... über die Seele meines Vaters?«, versuchte Serena das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, und wandte ihren Blick ebenfalls zur Sonnenkugel ab.
Helios zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Seine Reaktion überraschte sie nicht einmal. Seit ihrer Rückkehr aus dem Tartaros hatte sie jeden Tag auf Neuigkeiten gewartet. Sie hoffte auf seine Erlösung und auf eine Erklärung, warum seine Seele im Tartaros gefangen gehalten wurde, doch nichts. Inzwischen zweifelte sie sogar daran, dass seine Seele jemals Frieden finden würde, auch wenn sie sich für diesen Gedanken hasste.
»Ich versuche mein Möglichstes«, beteuerte Helios.
»Ich weiß«, erwiderte Serena mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen und senkte ihren Kopf, sodass Helios nicht die Enttäuschung sehen konnte.
Eine eisige Stille kehrte ein, in der Serena nur ihren eigenen Atem vernehmen konnte, bis Helios sich schließlich räusperte.
»Die Moiren haben ihre Macht wiedererlangt«, fuhr er fort. »Sie wissen, dass Ares hinter der Büchse her ist. Er wird sich ihr sicherlich nicht noch einmal nähern. Aber ...« Hellhörig wandte Serena sich wieder ihm zu und betrachtete sein Profil, während er mit den richtigen Worten rang. »Ein Dorf an der Grenze wurde vor einigen Wochen überfallen.«
Serena verschränkte ihre Arme vor sich und schien einen Augenblick zu überlegen, bevor sie ihren Mund öffnete. »Aus diesem Grund war also ein Abgesandter hier ... Ares hat wieder begonnen, die Menschen zu terrorisieren ...«
Der Sonnengott richtete seinen Blick plötzlich zu Boden. Ein Schatten hatte sich auf seinem Gesicht gebildet, der selbst das Funkeln seiner Augen verschluckt hatte. »Es wurden keine Überlebenden gefunden, aber auch keine Leichen. Es war nicht einmal während einer Neumondnacht.«
»Und dennoch haben die Götter nichts gesehen?«, fragte Serena fassungslos.
Helios schüttelte seufzend den Kopf. »Wir wussten, dass Ares nach seinem gescheiterten Versuch, die zerstörerischen Mächte aus der Büchse zu befreien, einen neuen Weg einschlagen würde«, erklärte er ruhig. »Offenbar greift er nun zu drastischeren Mitteln, aber dadurch wird er auch unvorsichtiger und macht Fehler –«
»Glaubst du wirklich, das Öffnen der Büchse hatte keine Auswirkungen?«, unterbrach Serena ihn gedankenvoll. Sie rechnete damit, dass er nicht darauf einging, schließlich sprach er nie über dieses Thema. Zu ihrer Verwunderung drehte sich der Sonnengott jedoch zu ihr um und sah sie fragend an. »Sie hat sich geöffnet ... nicht vollständig, aber den unheilvollen Mächten blieb dennoch genug Zeit, um zu entweichen.«
Seine Gesichtszüge verhärteten sich plötzlich. »Es ist nichts passiert, Serena und Ares hat sein Ziel nicht erreicht! Egal, was er auch plant, wir werden ihn aufhalten«, versicherte er optimistisch.
Serenas Augen suchten seine. Ihr Gesichtsausdruck blieb jedoch unverändert. »Und was ist mit Thanatos? Du hast Eos nichts von seiner Drohung erzählt, nicht wahr?«
Überrascht von dieser Aussage erstarrte Helios einen Moment lang, ehe er tief einatmete und seinen Blick wieder zur Sonnenkugel richtete. »Nein. Es ist sicherer für alle, wenn niemand davon weiß –«
»Sicherer?«, entgegnete Serena spöttisch. »Glaubst du das wirklich? Meinst du nicht, sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie in Gefahr sind? Dass ich sie in Gefahr gebracht habe? Dass all diese Probleme überhaupt nur meinetwegen existieren?«
Entrüstet wandte Helios sich wieder zu ihr um. Sein Kopf legte sich leicht zur Seite, während er ihren bestürzten Gesichtsausdruck betrachtete. Es hatte den Anschein, sie wollte die Schuldzuweisung der anderen auf sich ziehen, was auf Unverständnis bei ihm stieß.
»Ist das der Grund, weshalb du dich in den letzten Monaten so seltsam verhalten hast?«, hakte er mit durchbohrendem Blick nach. Serena erstarrte abrupt. Ihre schweißnassen Finger verhakten sich in ihrem Gewand.
»Du kannst nichts für das, was geschehen ist oder geschehen wird, das wissen wir alle«, fuhr er ruhig fort. »Also gib dir nicht die Schuld und ... bitte hör auf, deinen Dienst so bestrebt zu verrichten. Dein Eifer ist wirklich unheimlich. Der Ruf der Regelbrecherin steht dir deutlich besser.«
Helios lächelte auf sie hinab. Ein Versuch seinerseits, sie aufzuheitern. Zum Lächeln war ihr allerdings nicht zumute, dennoch zwang sie sich eines auf die Lippen.
»Man erwartet mich nun am Olymp«, fuhr Helios plötzlich fort, als er sich zur Tür umwandte.
»Schon wieder?«, fragte Serena irritiert. »Du bist in letzter Zeit oft dort.«
»Ein Gott ruht niemals«, erwiderte er überraschend prompt. »Du solltest nicht zu lange hier unten bleiben. Dieser Raum trübt deinen Verstand.«
Kurz darauf war Helios verschwunden. Noch Augenblicke später starrte Serena die geschlossene Tür an. Helios wollte, dass sie wieder die alte Regelbrecherin wurde, in der Hoffnung, sie würde mit ihrem neugewonnenen Eifer auch ihre Sorgen ablegen. Doch das war nicht möglich.
Helios war der Annahme, Thanatos wäre der Auslöser für ihr seltsames Verhalten. Er ahnte nicht einmal etwas von dem Groll gegen Zeus, den Ares in ihr ausgelöst hatte. Sie ließ ihn jedoch in dem Glauben und verschloss die Wahrheit, schließlich tat er dasselbe. Ihm war die Gefahr außerhalb des Sonnenpalastes durchaus bewusst. Wahrscheinlich wollte er sie nur nicht beunruhigen, doch dafür war es längst zu spät.
Die Angst überkam sie allmählich und diese rührte weniger von der Bedrohung durch Thanatos oder Ares her. Es war die Angst, dass man keinen anderen Ausweg sah, als auf Zeus' Briefe einzugehen. Man würde sie zum Olymp zurückschicken, um sie und alle anderen zu schützen. Helios war in letzter Zeit schließlich oft auf dem Olymp, doch er erzählte ihr nie, weshalb er dorthin ging. Dabei hatte sie sich zu bessern versucht, um Helios keinen Anreiz bieten zu können. Nun wollte er jedoch, dass sie aufhörte.
In den darauffolgenden Tagen dachte Serena nicht einmal daran, sich Helios' Worte zu Herzen zu nehmen. Auch weiterhin stand sie als erste Bedienstete auf und ging als Letzte ins Bett. Der alltägliche Stress wirkte sich jedoch längst nicht mehr nur auf ihren Körper aus, sondern auch auf ihre Psyche.
Ihr Körper litt ohnehin unter den kurzen Nächten. Oftmals wachte sie jedoch mitten in der Nacht auf und sah umgehend zum Fenster. Hin und wieder erblickte sie dort einen Adler, manchmal fand sie auch nur einen Brief. Der Gedanke, dass Helios auch nur einen von ihnen finden konnte, ließ sie an Ruhe gar nicht erst denken.
Als Serena sich nach einer weiteren kurzen Nacht die Bediensteten-Kluft zurecht gezogen hatte, ging sie ihrem morgendlichen Ritual nach. Die Therme für Eos musste vorbereitet werden, auch wenn die Müdigkeit an ihren Kräften zerrte. Alles war jedoch vergessen, als Serena den unliebsamen Gast auf dem Fenstersims vor dem Thronsaal erspähte.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, knurrte sie genervt und entriss dem geflügelten Boten das Pergamentpapier. Wieder flog dieser mit lauten Protestschreien davon. Serena hatte ihr schlechtes Gewissen wegen ihrer ruppigen Umgangsweise jedoch längst in ihrer Wut auf Zeus erstickt.
Zurück in ihrem Gemach schmiss Serena die Tür zu, sodass die Marmorkommode daneben durch die Erschütterung bebte. Den Brief verachtend auf den Boden geworfen, lief sie zähneknirschend zum Fenster.
Unzählige Briefe hatte sie ungelesen verbrannt. Zeus schien jedoch noch immer nicht zu verstehen, dass sie ihm nicht antworten wollte, das machte sie umso wütender.
Zögernd sahen ihre Augen auf den Brief hinab. Es interessiert sie nicht, was er ihr zu sagen hatte. Es würde nichts verändern ... und dennoch siegte schlussendlich die Neugier.
Sie presste ihre Lippen zusammen, um so einen Aufschrei des Zorns zu unterdrücken, ehe sie den Brief wieder an sich riss und das Siegel öffnete. Ihr Blick schweifte schnell über die kleingeschriebenen Zeilen, doch ihr Atem stockte abrupt. Wieder las Serena den Brief; diesmal genauer, doch ihre Augen hatten sie nicht getäuscht.
Dieser Brief war nicht an sie gerichtet.
Sicherlich sollte sie ihn nicht einmal lesen, sondern Helios. Zeus versprach ihm ein Mitspracherecht in allen politischen Angelegenheiten des Olymp, wenn er sie dazu überredete, zurückzukehren. Ein solches Anrecht stand nur den hohen Olympiern zu. Ihr Vater wollte also einen neuen Plan durchsetzen.
Wütend ließ Serena den Brief in ihrer Hand in Flammen aufgehen und sank zu Boden. Ihre Angst, dass Helios sie verstoßen könnte, war ohnehin groß. Dieser Brief bestätigte nun auch noch ihren Verdacht, dass der olympische Herrscher Helios beeinflussen wollte.
Eine Verbannung vom Sonnenpalast würden Thanatos und Ares sicherlich befürworten. Bei den Olympiern war sie leichte Beute. Sie wussten nicht, wer es auf sie abgesehen hatte, noch wussten sie, was geschehen war. Dieser Gedanke warf Serena in ein tiefes Loch der Verzweiflung. Die Angst vor der Zukunft holte sie ein und schleuderte sie abermals zurück auf den Boden der Tatsachen.
Als Darius sie eines Morgens aus ihrem Gemach abholte, hatte sie wieder eine Nacht hinter sich gebracht, in der sie kaum ein Auge zubekommen hatte. Er musterte sie besorgt, stellte ihr jedoch keine Fragen.
Sie liefen durch die Gänge des Sonnenpalastes, bis Darius plötzlich auf Höhe des Thronsaales innehielt. Serena, die ihren Blick auf ihre Füße gerichtet hatte, blieb ebenfalls stehen.
Das eintretende Licht der Morgensonne warf einen großen Schatten auf den hellen Marmorboden des Ganges, der der Halbgöttin alle Haare zu Berge stehen ließ.
Entsetzt sah sie auf und erspähte den Adler auf einem Fenstersims neben ihnen. Anders als sonst trug er dieses Mal jedoch kein Pergamentpapier in seinem Schnabel. Aufgeregt suchte sie den Boden nach dem vermissten Brief ab. Sie lehnte sich sogar aus dem Fenster, weil sie ihn im Freien vermutete.
»Suchst du das hier?«, ertönte plötzlich eine ernste Stimme.
Eine Gänsehaut überkam Serenas Körper, als sie sich langsam umwandte und Helios vor den Toren des Thronsaales erblickte. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen geformt und tiefe Falten zogen sich über seine Stirn. In seiner Hand hielt er einen Brief, auf dem das olympische Siegel prunkte.
Serena senkte ihren Blick und seufzte nüchtern »Du hast ihn gelesen?«
»Ich bin davon ausgegangen, dass er für mich bestimmt ist. Zeus lässt seine Boten schließlich zu jeder Tageszeit sogar meine Gemächer aufsuchen«, erwiderte Helios kühl. »Das ist heute der dritte Brief. Ich gehe davon aus, dass es noch weitaus mehr gibt.«
Er warf der Halbgöttin einen scharfen Blick zu, der Serena trotz gesenkten Kopfes sein Missfallen spüren ließ. Er wusste, dass sie wieder einmal versucht hatte, die Briefe vor ihnen zu verbergen.
Darius, der sich völlig heraushielt, trat einen Schritt zur Seite, als wolle er sich aus der Schussbahn bringen. Er kannte Helios' Blick und nahm die Unzufriedenheit in seiner tiefen Stimme wahr. Daher rechnete er bereits mit einer ungemütlichen Auseinandersetzung. Wider Erwarten schob der Sonnengott jedoch einfach ein Tor des Thronsaales auf und wies Serena an, reinzugehen. Zögernd trat diese in den Raum ein und sah sich nach Darius um. Dieser wurde von Helios jedoch unsanft abgewiesen, als er ihm einfach die Tür vor der Nase zuzog.
Stille kehrte ein. Der Sonnengott ließ kein Wort verlauten. Er würdigte sie nicht einmal eines Blickes, als er an ihr vorbei schritt und ihr den Rücken zuwandte. Die Arme vor seiner Brust verschränkt, schien er in Gedanken versunken.
Krampfhaft atmete Serena ein und aus und verhakte ihre Finger ineinander. Kalter Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet und ihr Körper begann zu zittern. Der Druck wurde zu viel, sodass die Worte aus ihrem Mund geradezu herausschossen.
»Rhode hat mich auf dem Weg zu den Moiren gewarnt. Sie wusste, dass Zeus sein Vorhaben nicht aufgeben würde. Ich wollte das nicht glauben, aber sie behielt recht«, gab Serena kleinlaut zu. »I-Ich dachte, wenn ich mich an die Regeln halte, dann würdest du nicht in Erwägung ziehen, mich zum Olymp zurückzuschicken.«
Ein grummelnder Laut entfuhr Helios' Kehle, als er sich zu ihr umwandte. Sein roter Umhang schnitt dabei so schnell durch die Luft, dass er während der Drehung schnalzte. Sein verstörter Blick verriet ihr, dass er mit jeder Aussage gerechnet hatte – nur nicht mit dieser.
»Glaubst du wirklich, ich würde dies in Erwägung ziehen?«, entgegnete er empört und trat auf sie zu.
»Z-Zeus will, dass du mich zurückschickst. Ihm ist jedes Mittel recht und meine Anwesenheit –«
»Ich werde mich nicht von einem Olympier bestechen lassen. Poseidon scheiterte und bei Zeus mache ich sicherlich keine Ausnahme, auch wenn er dein Vater ist!«, fuhr er ihr barsch ins Wort.
Sein ungewohnt harter Tonfall traf Serena und zwang sie dazu, ihren Kopf weiter zu senken, was Helios nicht tolerieren wollte. Seine rechte Hand fuhr unter ihr Kinn und drückte es wieder hoch.
Wider Erwarten blickte Serena nicht in die schmalen Augen eines erzürnten Gottes. Das strahlende Grün war klar und leuchtete durch das einfallende Sonnenlicht heller denn je. Doch mehr noch war es sein Lächeln, das Serena die Luft zum Atmen raubte.
»Als ich dir sagte, dass die Tore des Sonnenpalastes dir jederzeit offenstehen, habe ich jedes Wort ernst gemeint«, fuhr er sanft fort. »Daran wird sich nichts ändern, egal welchen Plan Zeus verfolgt.«
Als Helios seine Hand wieder zurückzog, spürte sie noch Augenblicke später das leichte Kribbeln seiner Wärme auf ihrer Haut. Es löste einen wohligen Schauer aus, der ihren gesamten Körper durchfuhr und sie erzittern ließ.
Der Klang seiner Stimme und seine Worte hatten ein seltsames Empfinden in ihr ausgelöst, das auch am Abend nicht nachgelassen hatte. Er versprach ihr Sicherheit – ein Gefühl, nach dem sie sich in Athen und auf dem Olymp vergebens gesehnt hatte. Helios hatte sie ihr gewährt, trotz allem, was geschehen war, trotz allem, was geschehen würde und trotz allem, was er über ihre Macht wusste. Helios' selbstlose Art hinterließ jedoch auch einen bitteren Beigeschmack bei ihr, denn er war nun das Ziel von Zeus' Manipulationsversuchen.
Es verging kein Tag, an dem keine Nachrichten vom Olymp eintrafen. Sie führten ständig zu Diskussionen zwischen Helios und Eos, die sie hinter verschlossenen Türen führten. Sie wollten nicht, dass Serena etwas mitbekam, doch es war schwer, die hitzigen Auseinandersetzungen zu überhören. Eos hasste den Olymp; vor allem Zeus, nicht zuletzt wegen seines arroganten Verhaltens. Helios wollte die Angelegenheit in Ruhe klären und stieß bei seiner Schwester damit auf Granit. Es war frustrierend.
Als sich die Sonne dem Horizont zuneigte und das Ende eines weiteren Tages verkündete, saß Serena an ihrem gewohnten Platz am Rande der großen Plattform zwischen den Statuen und betrachtete die letzten orangeroten Lichtstrahle. Zeus hatte es sich auch an diesem Tag nicht nehmen lassen den Sonnenpalast mit Briefen zu überschwemmen, sodass Eos und Helios wieder in eine Diskussion gerieten. Serena hatte sich währenddessen zurückgezogen, um darauf zu warten, dass die Nacht über sie hereinbrach. Die unzähligen funkelnden Lichter am schwarzen Himmelszelt gehörten zu den wenigen Dingen, an denen sie sich in der Dunkelheit erfreuen konnte. Lange währte ihre Ruhe jedoch nicht.
»Ich dachte mir, dass ich dich hier oben finde, Sonnenschein«, hörte sie jemanden sagen.
Aus ihren Gedanken gerissen wandte die Halbgöttin ihren Kopf um. Darius setzte sich neben sie und ließ ein tiefes Schnaufen verlauten. Sie ahnte, dass er nicht grundlos hier heraufgekommen war. Er hatte Redebedarf und auch das Thema war ihr längst bekannt.
»Sie sind verärgert aufgrund der Briefe«, entfuhr es ihm schließlich angespannt.
»Ich weiß«, erwiderte Serena prompt und blickte wieder in den rötlichen Abendhimmel. »Helios versucht es nicht zu zeigen, aber ich sehe es ihm an.«
»Es bedrückt dich, oder?«, hakte er nach und sah sie daraufhin gezielt an. »Ich meine das Chaos, das um dich herum veranstaltet wird.«
»Es ist ermüdend. Ich trete auf der Stelle. Zeus interessiert es nicht, was ich will –«
»Du sagst ihm ja nicht, was du willst«, fuhr Darius sie schroff an und beugte sich weiter nach vorne, sodass Serena ihm nicht ausweichen konnte. »Nur zu schweigen wird ihn nicht daran hindern, es immer und immer wieder zu versuchen.«
»Er hat sich dafür nie interessiert!«, raunte Serena ihn an. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihr Gewand. Seine Worte trafen sie an einem wunden Punkt und schürten die Wut in ihrem Inneren. »Es war immer nur wichtig, dass ich auf dem Olymp bleibe, um mich dort in Ketten legen zu können. Ich sollte die Zugehörigkeit einer Familie spüren, aber das war nur Täuschung. Er war nie für mich da ... Nie! Warum sollte ich ihm also antworten?«
Einen Moment lang hielt Darius inne. Seine Schultern sackten und die Strenge, die Serena zuvor in seinen Augen gesehen hatte, verschwand mit einem Mal wieder. Wenn es um das Desinteresse eines Vaters ging, brauchte sie ihm nichts vorzumachen. Darius kannte dieses Gefühl nur zu gut, sogar besser als sie selbst. In diesem Augenblick fühlte sie sich sogar schlecht, weil sie ihren Zorn ausgerechnet an ihm ausgelassen hatte.
»Familie hat immer eine so eintönige Bedeutung. Ein Bund aus Eltern und Kindern. Ich kenne meinen Vater nicht und an meine Mutter kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich habe eine Familie«, fuhr Darius gedankenvoll fort und begann zu lächeln. »Der Sonnenpalast ist in all den Jahren zu meiner Familie geworden. Zugegeben, wir sind nicht das, was man sich unter einer herkömmlichen Familie vorstellt, doch wir geben aufeinander acht. Wir lachen, weinen und ärgern uns. Wir streiten uns, doch wir vertragen uns auch wieder, vertrauen und helfen einander, egal was kommt ... das ist auch auf dich bezogen.«
Serena wandte ihren Kopf fragend zu ihm um. Sein Blick war verträumt in die Ferne gerichtet. Es schien, als sei er fern ab der Realität, nur das plötzliche Grinsen in seinem Gesicht versicherte ihr, dass er noch im Hier und Jetzt war.
»Ich meine, du weißt, dass du dich auf uns verlassen kannst.« Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre Schulter, als er sich wieder ihr zuwandte. »Und wenn man das weiß und sich in der Gegenwart anderer wohlfühlt, dann kann man sie auch als Familie ansehen, egal ob Mensch oder Gott, meinst du nicht?« Seine sandfarbenen Augen funkelten im Abendrot und verzauberten Serena einen Augenblick lang, ehe sie ihre Stimme wiederfand.
»Es ist lange her, dass ich mich wirklich auf jemanden verlassen konnte ... und wollte. Ich habe mir selbst so lange eingeredet, dass es in Ordnung ist, alleine zu sein, dass ich es irgendwann geglaubt habe«, erwiderte sie zögernd. »Die Reise zu den Moiren war eine Sache. Der lange Aufenthalt im Tartaros hat mir das jedoch erst richtig bewusst werden lassen. Hätte ich diese Reise alleine angetreten, dann hätte ich mich in der Finsternis verloren, wäre dort gefangen, ebenso wie mein Vater ...«
Ein überraschter Laut entfloh Darius' Lippen, als er seine Hand wieder zurückzog. »Das ist das erste Mal, dass du mit mir über den Tartaros redest. Er muss einiges in dir ausgelöst haben ... Manchmal hilft es, wenn man darüber spricht.«
Serena schloss ihre Augen und lauschte dem leisen Heulen des Windes um sie herum. Es war schwer jemanden den Tartaros zu erklären, der nicht selbst gesehen, gehört und gefühlt hatte, wie es in dieser Finsternis ist. »Hast du jemals über das Sterben nachgedacht? Wie es sein würde?«, fragte sie dann flüsternd, als sie ihre Augen langsam wieder öffnete. »Ich bin dem Tod schon so oft begegnet; sah ihn täglich auf den Straßen von Athen. Doch das war nichts im Vergleich zum Hades, zum Tartaros. Dort gibt es kein Sonnenlicht, keine Wärme und kein Leben – nur bittere, kalte Dunkelheit.
Man hört die Schreie verlorener Seelen, sieht Dinge, die grausamer sind als alles, was man sich vorstellen könnte, während der Tartaros einen allmählich in den Wahnsinn treibt. Man hält sich ständig vor Augen, dass man aus einem Grund herkam, dass man eine Aufgabe zu erfüllen hat. Die Angst ist jedoch stark. Die Angst, dass man versagen könnte. Dass man ebenfalls in dieser Finsternis verenden könnte ...«
Darius seufzte verständnisvoll. »Aber ihr seid wieder zurück. Ihr habt es geschafft!«
Serena schüttelte den Kopf. »Ich habe mein Ende lediglich hinausgezögert, Darius«, fuhr sie nüchtern fort und schnappte nach Luft. »Wir trafen im Tartaros auf Pandora. Sie erzählte uns, dass die Kalte Flamme mich irgendwann töten wird, um stärker zu werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Serena wusste, dass sie mit diesen Worten seine heile Welt erschütterte. Er hatte sich in den Gedanken verbissen, dass sie bei ihnen bleiben würde. Er glaubte fest daran, dass sie hier glücklich werden konnte. Er wusste bis eben schließlich nicht, dass sie mit dieser Erkenntnis aus dem Tartaros zurückgekehrt war. Dabei hatte sie ihm nicht einmal die ganze Wahrheit erzählt.
Serena sah auf ihr Handgelenk hinab, wo sie vor wenigen Monaten noch ihren Schicksalsfaden wusste. Bei dem Gedanken, dass ihr Leben nun in Thanatos' Händen lag, durchfuhr ein kalter Schauer ihren Körper, der sie kurzzeitig lähmte.
Schweigend richtete Darius seinen Blick wieder in die Ferne. Seine Augen waren getrübt, seine Stirn von tiefen Falten gezeichnet, die ihn im schwachen Licht viel älter wirken ließen. Nie zuvor hatte sie den sonst so fröhlichen Halbgott in einem solchen Zustand gesehen, sodass sie es sogar einen Moment lang bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben. Doch sie konnte nicht anders. Es war egal, was sie tat, schlussendlich war sie immer schuld.
»Ich dachte damals auch, ich würde sterben, als ich meine Heimat verließ«, fuhr Darius plötzlich gedankenverloren fort und riss Serena so aus ihrer Starre. »Ich war lange unterwegs, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Schlaf. Ich habe in dieser Zeit ständig über das Sterben nachgedacht, so wie du ... Die Hoffnung habe ich jedoch selbst in den Momenten größter Schwäche nicht aufgegeben.« Ein optimistisches Lächeln suchte sich den Weg zurück auf seine Lippen. »Dann kam ich hierher und alles änderte sich. Hier bin ich glücklich. Hier kannst auch du glücklich werden und –«
»Du trägst nicht eine solch bedrohliche Macht in dir!«, fuhr sie ihm gereizt ins Wort. »An dem, was mir bevorsteht, wird sich nichts ändern!«
»Aber vielleicht kommt ja alles ganz anders ...« Seine gedämpfte Tonlage verriet ihn. Er wollte ihr Kraft geben, zweifelte jedoch angesichts dem, was sie ihm zuvor erzählt hatte, selbst an seinen Worten. Das Gespräch war abermals zum Scheitern verurteilt.
Die letzten Sonnenstrahlen schwanden und der Himmel kleidete sich allmählich in ein tiefes Schwarz. Nur der schmale Sichelmond spendete ihnen Licht und schützte sie vor vollkommener Dunkelheit.
Plötzlich fuhr Darius um und packte Serena an der Schulter. Seine Augen, weit aufgerissen, starrten sie an, wie ein Wolf seine Beute, sodass es ihr eiskalt den Rücken runter lief.
»W-was ist, wenn Helios dir die Unsterblichkeit schenken würde, im Gegenzug für die Bindung deiner Seele an den Sonnenpalast?« Darius überschlug sich geradezu vor Aufregung. »Du weißt schon, so wie er es bei mir damals tat. Dann bräuchtest du vor dem Tod keine Angst mehr haben und du kannst für immer hierbleiben!«
Verwirrt blickte Serena auf. Sie hatte nie über eine solche Möglichkeit nachgedacht, denn es schien immer abwegig. »Glaubst du wirklich, er würde so etwas machen?«, fragte sie den Halbgott.
»Serena, du bist ein Teil des Sonnenpalastes, ein Teil unserer Familie. Helios wäre wahnsinnig, wenn er es nicht täte«, versicherte er ihr breit grinsend und klopfte ihr zuversichtlich auf die Schulter. Seine Stimmung war in diesem Augenblick ansteckend, sodass selbst sie die Hoffnung packte.
Kurze Zeit später war Serena auch schon auf dem Weg zum Thronsaal. Darius hatte es geschafft. Sie konnte keinen Augenblick länger warten. Auch wenn die Zweifel in ihr noch immer stark waren, streckte sie ihre Hand nach dem kleinen Licht am Ende des Tunnels aus. Würde es wirklich geschehen, hätte die Kalte Flamme keine Macht mehr über sie.
Ungehalten stürmte sie in den Thronsaal. Jeglicher Anstand und sämtliche Verhaltensregeln waren vergessen, als Serena nach Luft ringend reinstolperte. Zu ihrem Glück waren lediglich Helios und Eos anwesend. Diese waren über Serenas Auftreten jedoch sehr verwundert.
»Serena, was ist los? Du bist ganz außer Atem«, entgegnete die Göttin der Morgenröte sichtlich irritiert, als sie die Stufen des Thrones zu ihr hinabstieg.
Serena blickte zitternd zu den Göttern auf. In ihrer Eile hatte sie sich nicht einmal überlegt, wie sie Helios um solch einen Gefallen bitten sollte. Sie wollte improvisieren, doch seine angespannte Körperhaltung erschwerte ihr dies.
Nachdenklich saß er in seinem Thron, schenkte ihr nicht einmal einen Blick, als hätte er sie nicht bemerkt. Stattdessen starrte er auf den Boden, während er sich mit seinem linken Arm auf die Armstütze gelehnt hatte.
»H-Helios, ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, setzte Serena holprig an und sicherte sich somit die Aufmerksamkeit der Gottes. »Ich bin nun schon eine Weile hier im Sonnenpalast, habe mich an die Umgebung und die Leute gewöhnt. I-Ich habe dennoch das Gefühl, dass ich hier noch nicht wirklich angekommen bin, auch wenn du sagst, dass ich Willkommen sei.«
»Wovon redest du, Serena?«, hakte Eos irritiert nach. Helios runzelte nur fragend die Stirn.
»Darius scheint hier sehr glücklich zu sein ...« Serena zögerte. Sie suchten den Blickkontakt zu Helios, doch war kaum in der Lage, ihn selbst aufrechtzuerhalten. »Ich dachte, dass es womöglich besser wäre, wenn auch ich meine Seele dem Sonnenpalast –«
»Nein!« Helios' kräftige Stimme zerriss die ihre wie ein hungriges Rudel Wölfe ein Lamm, als er von seinem Thron aufsprang. »Weißt du, was du da von mir verlangst? Ich habe ihm seine Sterblichkeit genommen, dass er eine Chance erhält.« Verachtend schüttelte Helios den Kopf und verschränkte abweisend seine Arme vor der Brust, während er sie anstarrte, als hätte sie ihm den Krieg erklärt. »Sein Leben ist für immer an diesen Ort gebunden. Selbst wenn er wollte, er könnte sich niemals einfach losreißen!«
Erschüttert über seinen Tonfall stand Serena einen Augenblick lang wie gebannt da, ehe sie den Mut fand, etwas zu erwidern. »A-Aber wenn ich meine Seele dem Sonnenpalast verschreibe, wird die Kalte Flamme meinen Körper verlassen und Ares wird mich nicht länger jagen.«
Wieder schüttelte Helios abschätzig seinen Kopf. Seine Augen funkelten bedrohlich und seine Hände ballten sich, sodass sich die Adern unter seiner Haut abzeichneten. »Und wenn es nicht so kommt?«
»E-Es ist eine Möglichkeit und Darius –«
»Du bist nicht wie Darius!« Wütend schlug Helios auf die Armlehnen seines Thrones, die unter seinem Zorn erzitterte und sogar Eos zurückweichen ließen. »Ich werde dein Leben nicht beenden, Serena! Das ist mein letztes Wort!«
Ehrfürchtig senkte die Halbgöttin ihren Kopf. Sie war nicht in der Lage, ihm länger in die Augen zu schauen, zu sehen, wie das funkelnde Smaragdgrün einem matten Schwarz wich. Sie wusste nicht, was in ihn gefahren war. In diesem Augenblick war sie jedoch auch nicht bestrebt, es herauszufinden.
Mit zitternden Knien distanzierte sie sich. Ihre Lippen bebten bei jedem Versuch, etwas zu sagen. Sie bemühte sich, den Schock zu überwinden, dennoch kam nur ein schwaches Flüstern heraus. »Ich bin doch schon tot ...«
Der laute Knall der zufallenden Tür ließ Eos zusammenfahren, ehe sie sich zu ihrem Bruder umwandte. Dieser ließ sich entnervt in seinen goldenen Thron sinken und rieb sich die Augen. Noch immer sah die Göttin ihm die Wut an, die in seinem Inneren tobte, das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihren Mund zu öffnen. »Du hast sie verletzt.«
»Sie weiß nicht, was sie da verlangt.« Verteidigend erhob sich seine Stimme erneut lautstark, sodass Eos wieder zusammenzuckte. »Sie ist der Überzeugung, die Kalte Flamme würde ihre Seele freigeben, wenn ich sie an mich nehme, aber Pandora hat gesagt, dass sie sich ihren Wirt selbst aussucht. Serena stärkt sie. Eine solche Seele gibt sie nicht so einfach frei. Und wenn sie sie wieder befällt, dann wäre sie für immer an sie gebunden ... und ich würde sie an den Sonnenpalast ketten. Sie will frei sein und das wäre sie dann nicht mehr.«
Eos streckte vorsichtig ihre Hand nach ihm aus und ließ sie auf seiner Schulter ruhen, als sie sich zu ihm nach vorne beugte. »Helios –«
»Das kann ich nicht verantworten«, fuhr er ihr kopfschüttelnd ins Wort. »Ich musste es ihr auf diese Weise sagen. Irgendwann wird sie es verstehen.«
»Es sind nicht die Worte, die Serena verletzt haben«, versuchte Eos ihren Bruder zu erreichen und griff nach seinem Arm, um sich Gehör zu verschaffen. »Es ist die Tatsache, dass du es warst, der sie ausgesprochen hat.«
»Was meinst du?«, hakte Helios irritiert nach.
»Sie hat schnell aufgegeben, zu schnell für ihre Verhältnisse. Sie wusste, dass du ihr diese Bitte nicht erfüllen würdest. Sie vertraut dir und genau dies macht sie verwundbar, Bruder.« Eos strich sanft über seinen Arm, was ihn allmählich zu beruhigen schien. »Die Kalte Flamme beherrscht Serenas Gedanken. Jeden Tag sieht sie die gleichen Wände, bewältigt die gleichen Aufgaben und beobachtet den Verlauf der Sonne. Sie verliert noch ihren Verstand. Wenn du sie also von diesem Wunsch abbringen willst, dann bring sie hier raus. Zeig ihr etwas, was sie auf andere Gedanken bringt.«
»Das ist viel zu gefährlich«, wies Helios ihren Vorschlag kühl zurück. »Ares könnte sie unter den Menschen ausfindig machen!«
Eos richtete sich wieder auf und atmete tief durch. »Sie ist nicht länger das kleine Mädchen von damals, Bruder. Sie ist eine junge Frau. Und junge Frauen neigen dazu, sich von ihren Gefühlen beeinflussen zu lassen und unüberlegte Entscheidungen zu treffen. Also unternimm etwas ... ehe sie es tut.« Eine ernste Strenge in ihrer Stimme unterstrich ihren besorgten Gesichtsausdruck, ehe sie sich abwandte und den Thronsaal verließ.
Die Tage gingen nahtlos ineinander über. Serena hatte sich seit dem Vorfall im Thronsaal in ihrem Gemach verkrochen und kam nicht mehr heraus. Die Demütigung, dass sogar Eos diese Auseinandersetzung mitbekommen hatte und sicherlich auch Darius inzwischen davon wusste, war zu groß für sie.
Sie mied eine Begegnung mit Helios, auch wenn sie wusste, dass diese unumgänglich war. Früher oder später würde er nach ihr schauen. Sie rechnete inzwischen jeden Tag damit, doch bisher hatte sie nichts von ihm gehört. Sie wusste nicht einmal mehr, wie viele Tage vergangen waren. Die Anzahl war längst bedeutungslos geworden, ebenso wie ihre Pflichten als Bedienstete. Antheia klopfte zwar immer wieder an ihre Tür, öffnen wollte Serena sie jedoch nicht einmal für die alte Hexe.
Ihre Gedanken drehten sich nur noch um Helios' Worte, seinen harten Tonfall und seine abweisende Körpersprache. Es war, als wollte er nicht, dass sie auf Dauer im Sonnenpalast blieb, obwohl er ihr zuvor noch versichert hatte, dass dessen Tore ihr jederzeit offen stünden.
Ihre neu gewonnene Freizeit verbrachte Serena nun mit einer alten Angewohnheit, der sie lange nicht mehr nachgegangen war. Sie verkroch sich in Büchern, die sie vor Wochen aus der Bibliothek des Sonnenpalastes entwendet hatte und studierte alte Sagen. Hin und wieder stolperte sie dabei über den Namen des Kriegsgottes, der sie jedes Mal aufs Neue erschaudern ließ. Sie kannte ihn nicht, hatte sich lediglich ein kurzes Bild im Tartaros gemacht, doch dieses spiegelte sich in den Schriften wider – er war ein kaltblütiger Tyrann, der über Leichen ging, um sein Ziel zu erreichen.
Ein plötzliches Klopfen an der Tür ließ Serena hochfahren. Als hätte sie etwas gelesen, von dem sie nichts wissen durfte, schlug sie abrupt das Buch zu, ehe sich die Tür mit einem leisen Knarren öffnete. Zwei grüne Augen spähten zu ihr herüber und erfüllten sie mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. Das klärende Gespräch, das sie all die Tage hinausgezögert hatte, sollte nun folgen.
»Helios«, begrüßte sie den Sonnengott ergeben und verbeugte sich tief.
»Du liest?«, entgegnete er kühl und betrachtete die Bücher auf ihrem Bett, als er eintrat.
»Mit irgendetwas muss ich mich doch beschäftigen.«
»Du erscheinst nicht zum Dienst, stattdessen verkriechst du dich in Büchern, um zu lernen«, entgegnete er überrascht, als sein Blick sich ihr zuwandte. »Ich glaube, es täte dir ganz gut, wenn du mal etwas anderes siehst.«
»Was meinst du?«, fragte Serena verwundert und legte ihren Kopf zur Seite.
»Darius reist heute mit ein paar Bediensteten zu den Sterblichen. Du hast in den letzten Monaten viel gearbeitet. Es täte dir gut, mal etwas anderes zu sehen«, erwiderte er zögernd.
Diese Worte ließen Serena irritiert den Kopf schütteln. Sie lösten ein ungutes Gefühl in ihr aus, denn er erweckte den Anschein, er wolle sie wirklich nicht auf Dauer im Sonnenpalast haben. »Das ist wirklich nicht –«
»Doch, das ist es!«, fuhr er ihr augenblicklich ins Wort.
Sein harter Tonfall ließ Serena zusammenfahren. Die Auseinandersetzung im Thronsaal schien ihm noch immer im Magen zu liegen. Aus diesem Grund unterband sie jedes weitere Wort des Widerspruches, stattdessen nickte sie gehorsam. Sie wollte Helios nicht noch mehr erzürnen und folgte ihm einfach schweigend aus ihrem Gemach. Auch er richtete kein Wort mehr an sie, wandte sich auch nicht um. Es war, als hätte die Auseinandersetzung einen tiefen Spalt zwischen sie gegraben. Nichts mehr war zu spüren von der Vertrautheit, die sie zuvor verbunden hatte. Serena fühlte sich dadurch in seiner Nähe regelrecht unwohl.
Als er an den großen Palasttoren stehen blieb und sie kraftvoll aufdrückte, sah Serena einen Augenblick lang zu ihm auf. Noch immer zierte eine ernste Strenge sein Gesicht. Es war jene Strenge, die sie auch bei ihrer ersten Begegnung mit ihm wahrgenommen hatte. Damals waren sie sich fremd gewesen. Waren sie es noch immer? Schließlich wusste er von ihr mehr als sonst irgendjemand. Alles, was sie jedoch von ihm wusste, war, dass Lügen nicht zu seinen Stärken gehörte.
Angespannt hielt Serena inne und blickte auf ihr rechtes Handgelenk hinab. Ohne den Schicksalsfaden erschien ihr dieses nackt, obwohl sie inzwischen einen abgenutzten silbernen Armreif übergestreift hatte, um nicht ständig daran erinnert zu werden, dass er nun in Besitz von Thanatos war. Helfen wollte es jedoch nicht.
»Hallo Sonnenschein, wir warten bereits auf dich.«
Aus ihren Gedanken gerissen blickte Serena die Palasttreppen hinab und erspähte Darius mit zwei Bediensteten auf dem kleinen Platz. Vier Pegasi standen bereit, Helios hatte es also ernst gemeint, als er ihr sagte, sie müsse dringend hier raus. Er wollte, dass sie ging, obwohl sie den Sonnenpalast niemals verlassen sollte und Serena wusste genau, woher der plötzliche Sinneswandel kam.
Helios drückte ihr einen kleinen braunen Lederbeutel in die Hände. »Nimm das als Entlohnung für deine Dienste«, fügte er hinzu. »Vielleicht findest du etwas, das dir gefällt.«
Serenas Finger schlossen sich um den Ledersack. Dem Gefühl und Klimpern nach zu urteilen war er mit Geld gefüllt. Ihre Miene verzog sich daraufhin abrupt. Sie war wütend darüber, dass er die angespannte Situation zwischen den beiden auf diese Weise klären wollte.
»Ich weiß, was du damit bezwecken willst«, flüsterte sie kühl, als sie ihm den Rücken zuwandte und die Treppe runter lief.
Sie begrüßte Darius mit einem müden Lächeln, die beiden Bediensteten beachtete sie nicht einmal, als sie auf einen weißen Pegasos stieg und geduldig auf die anderen wartete.
Helios wollte sie mit diesem Vorhaben ablenken. Dafür war er sogar bereit, eine seiner wichtigsten Regeln zu brechen und sie zu den Menschen zu bringen. Es hätte wohl kaum offensichtlicher sein können. Sie verstand jedoch nicht, wieso er ihrer Bitte gegenüber so abgeneigt war, dass er alles dafür tat, um sie umzustimmen.
Darius' Stimme riss sie plötzlich aus ihren Gedanken und als sie aufblickte, bemerkte sie, dass die anderen bereits startbereit waren. Der Halbgott verabschiedete sich mit einem leichten Nicken von Helios, der noch immer an der Treppe stand und erhob sich dann mit dem schwarzen Pegasos, auf dem er saß, in die Lüfte. Die beiden Bediensteten folgten ihm lachend. Sie schienen diesem Ausflug mit riesiger Freude entgegenzufiebern, sodass sie die Anwesenheit des Sonnengottes nicht einmal realisierten. Serena tat es sehr wohl, in diesem Augenblick hätte es sie aber kaum weniger interessieren können. Ohne Helios einen letzten Blick zu schenken, griff sie nach der Mähne des geflügelten Pferdes und folgte den anderen.
Immer höher erhoben sie sich in die Lüfte und ließen den Sonnenpalast weit hinter sich, bis sie nur noch der endlos weite Himmel umgab.
Serena war noch immer in ihren Gedanken versunken, sodass es sie nicht einmal interessierte, wohin die Reise überhaupt ging. Sie sah sich nicht um, richtete keinen Blick zurück oder streckte ihren Kopf in die Luft, um, wie sonst, das Gefühl von Freiheit zu genießen. Nichts von alledem war in diesem Augenblick von Interesse für sie.
Als sie nach einiger Zeit wieder an Höhe verloren und durch die weißen Wolken brachen, riskierte Serena erstmalig einen neugierigen Blick. Sie steuerten auf eine Insel zu, an deren steinerne Küsten sich die Wellen des offenen weiten Meeres brachen.
Es war Rhodos. Der Ort, von dem aus sie zur Insel der Moiren aufgebrochen waren. Sie war stets so auf ihre Reise fokussiert, dass sie die Schönheit der Insel nicht genießen konnte; und auch jetzt drifteten ihre Gedanken ab.
Insgeheim hatte sie gehofft, ihr Weg würde sie nach Athen führen. Sie wusste, dass es zu gefährlich war, Hermokrates und die anderen zu besuchen, doch sie hatte bereits seit Monden nichts mehr von ihnen gehört. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch am Leben waren, sodass sich Enttäuschung in ihr ausbreitete.
Abseits der menschenreichen Stadt landeten sie und ließen die geflügelten Pferde in einer Felsnische zurück. Auf dem Weg in das Herzstück der Insel übernahm Darius erneut die Führung. In dieser Rolle wirkte er ernst, nicht wie jener muntere Halbgott, den sie kannte. Dies war die rechte Hand des Sonnengottes, die ihm loyal diente.
Serena folgte ihm bedingungslos, wechselte kein Wort mit ihm und sah ihn auch nicht an, wenn er sich zu ihr und den anderen beiden umwandte. Stattdessen musterte sie die Bediensteten, die Helios mit ihnen geschickt hatte.
Erst jetzt bemerkte Serena, dass eine von ihnen das Mädchen war, das Helia sehr ähnelte. Lange hatte die Halbgöttin sie nicht mehr gesehen, hatte sie nach den vergangenen Ereignissen schon fast vergessen. Ein Blick in die vertrauten Augen des fremden Mädchens bereitete ihr jedoch noch immer eine Gänsehaut.
Sie sah ihr so ähnlich.
Als ob diese Serenas Beschattung bemerkt hatte, drehte sie ihren Kopf um und fing ihren Blick auf.
Abrupt sah Serena zu Boden und lief schneller, doch die Bedienstete ließ sich nicht abschütteln und passte sich ihrer Schrittgeschwindigkeit an.
»Dein Name ist Serena«, sprach sie die Halbgöttin plötzlich an und lächelte. »Darius hat ihn mir verraten.«
Serena nickte zögerlich. Sie war von dem sanften Klang ihrer Stimme so überwältigt, dass sie kein Wort herausbrachte. Es war ihr unbegreiflich, denn nicht nur ihr Äußeres ähnelte Helia, doch das konnte nicht sein. Helios hatte es selbst gesagt.
»Mein Name ist Gabriella«, fuhr die Bedienstete schließlich vergnügt fort. »Ich habe mich noch nicht für deine Hilfe damals bedankt.«
Widerwillig sah Serena auf und blickte in das strahlende graublau ihrer Augen. »Das ist nicht nötig. Jemand musste diese Furie stoppen«, erwiderte sie leise. »Es ist schlimm genug, dass diese Nymphen machen, was sie wollen.«
Die Bedienstete lachte amüsiert und faltete ihre Hände hinter dem Rücken. Eine Weile lief sie so neben Serena her, bis sie die inneren Stadtbezirke von Rhodos erreicht hatten. Die ganze Zeit über strahlte sie bis über beide Ohren, als gäbe es kein Morgen mehr. Ihre Sorglosigkeit deprimierte die Halbgöttin jedoch nur noch mehr, sodass sie ihren Blick auf den Boden richtete. Es war, als wollte man sie foltern, indem man ihr den Verlust der befreundeten Bediensteten ständig vor Augen hielt.
»Dieser Ort ist voller Leben«, schlug Gabriella plötzlich einen wehmütigen Ton an, als sie die rhodischen Bewohner um sie herum beobachtete. »Das letzte Mal war ich hier, als meine Eltern gestorben sind.«
Augenblicklich hielt Serena inne und wandte sich zu ihr um. Ein trüber Schatten hatte sich auf den Augen der Bediensteten gebildet und tiefe Falten zogen sich über ihre Stirn. Ihr Blick wanderte die Straße entlang, doch er ging ins Leere. Sie war gedanklich fern ab der Realität, in einer Welt, die nur noch in ihren Erinnerungen existierte.
Die Erkenntnis traf Serena plötzlich wie ein Schlag.
Gabriella erinnerte sich an ihr früheres Leben. Helios hatte ihr nicht die Erinnerung an ihre Vergangenheit genommen, womöglich auch nicht bei den übrigen Bediensteten.
»Waren es Perser?«, hakte Serena zögernd nach. Sie wollte nicht respektlos erscheinen, doch ihre Neugierde konnte sie nicht leugnen.
Verwundert sah Gabriella sie an, als habe sie nicht erwartet, dass Serena etwas erwidern würde, und schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein ... nein, es war ein Brand. Ich habe es noch rechtzeitig aus dem Haus geschafft, aber meine Eltern und mein älterer Bruder nicht ... Das muss nun fast zwei Jahre her sein.«
Nachdenklich strich sie ihr geflochtenes Haar über ihre Schulter, sodass Serenas Aufmerksamkeit auf einen seltsamen dunklen Fleck an ihrem Nacken gelenkt wurde, der sonst immer von ihrem Haar bedeckt war. Mitgefühl erfüllte sie, als sie realisierte, dass es eine Brandnarbe war – zumindest auf diese Weise unterschied sie sich von Helia.
Serena hatte einen Kloß im Hals. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn nichts konnte Gabriellas Verlust wiedergutmachen. Doch Stillschweigen zu bewahren, empfand sie als ebenso falsch.
Als sie Luft holte, um ihr wenigstens ein verspätetes Beileid auszusprechen, wurde sie jedoch angerempelt und stolperte. Aus dem Augenwinkel sah sie noch eine vermummte Gestalt um eine Straßenecke biegen und einen großen dicklichen Mann, der diese noch bis zur Biegung verfolgte, ehe er nach Luft ringend aufgab.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Gabriella besorgt und legte eine Hand auf ihre Schulter.
Serena nickte hektisch. Der Stoß hatte nicht wehgetan, geschockt war sie über das gerade Geschehene dennoch.
Darius ging auf den kräftigen Mann zu, der aufbrausend zu der Marktstraße zurücklief, wo er offenbar einen kleinen Stand betrieb. Neben ihm wirkte der Halbgott wie ein Kleinkind. Ein Schlag mit einer seiner riesigen Hände würde ihm sämtliche Knochen brechen, dennoch wirkte Darius erstaunlich gefasst.
Zornig stampfte der Mann auf den Boden, als er dem Wächter des Sonnengottes erklärte, was vorgefallen war. Selbst aus der Entfernung konnte Serena die Wut in seiner Stimme vernehmen und heraushören, dass er von der vermummten Gestalt bestohlen wurde.
Während Gabriella und die andere Bedienstete zu Darius liefen, blieb Serena noch einen Augenblick stehen und blickte zu der Straßenecke, an der sie den Dieb zuletzt gesehen hatte. Er erinnerte sie stark an sie selbst. Mit einer schwarzen Kutte bekleidet bewegte er sich wie ein Schatten durch die Polis, stahl Lebensmittel, um das eigene Leben zu sichern, vielleicht sogar das anderer. Aus diesem Grund konnte Serena nicht einmal einen Funken Wut für seine Tat entwickeln.
Laute Schreie rissen die Halbgöttin plötzlich wieder aus ihren Gedanken. Der alte Mann fuchtelte mit seinen Armen, stieß Darius zur Seite und rannte zu seinem Marktstand.
Als Serena dort angekommen war, war das Chaos bereits ausgebrochen. Ein Verkaufstisch lag um, die Ware – überwiegend Obst und Brot – lag auf dem staubigen Boden verstreut. Der Mann zerrte am ausgemergelten Arm eines kleinen Mädchens, das sich aus seinem eisernen Griff zu befreien versuchte. In seiner anderen Hand hielt er ein Laib Brot, das er ihr zuvor entrissen hatte, und holte damit aus.
Darius klammerte sich an ihn und versuchte ihn zu beruhigen, doch für ihn war er ein Fliegengewicht. Der Halbgott verlor ihn somit aus seinem Griff, die große Hand des kräftigen Mannes schlug auf das Mädchen ein, das daraufhin schreiend zu Boden ging.
Serena erzitterte. Instinktiv griff sie auf ihren Rücken, doch ihre Finger griffen nur nach der Luft. Helios hatte sie so gehetzt, dass sie Schwert und Bogen in ihrem Gemach hatte liegen lassen. Sie hatte den Sonnenpalast ohne ihre Waffen verlassen.
Entsetzt standen die rhodischen Bewohner außenrum, beobachteten die Situation und tuschelten. Einschreiten wollte niemand. Nur der Halbgott versuchte weiterhin den Mann zurückzuhalten, jedoch erfolglos.
Plötzlich sah Serena es – das funkelnde Silber an Darius' Waffengurt. Er hatte ein Schwert. In seiner Aufregung schien er nicht einmal daran zu denken.
Geistesgegenwärtig schritt sie auf ihn zu und entriss ihm die Klinge. Noch ehe der kräftige Mann ein weiteres Mal auf das Mädchen einschlagen konnte, stellte sie sich schützend vor sie und hielt ihm das scharfe Metall an die Kehle. Der blanke Stahl schnitt in seine Haut und eine feine rote Blutspur rann über die Klinge.
Zitternd ließ der geschockte Mann das Brot fallen und hob seine Hände über den Kopf, um Serena zu beruhigen. Die Halbgöttin dachte jedoch nicht im Entferntesten daran, das Schwert zu senken, als sie einen kurzen Blick zu dem Mädchen hinab riskierte. Blaue Flecken und blutige Wunden bedeckten ihr Gesicht und ihren Arm, mit dem sie sich zu schützen versucht hatte. Tränen rannen über ihre stark geröteten Wangen. Ihre krampfhaften Atemzüge klangen, als würde sie an der Luft ersticken und ihr Körper zitterte wie Espenlaub, während sie sich langsam wieder auf die Beine zog.
Schutz suchend versteckte sie sich hinter Serena, deren Hand sich fester um den Griff des Schwertes schloss. Sie hatte gleich bemerkt, dass das verdreckte Gewand des Mädchens übersät von Rissen und Flicken war – ein Straßenkind. Umso wütender wurde die Halbgöttin darüber, wie der Mann sie zugerichtet hatte.
Ihre Augen formten sich zu schmalen Schlitzen. Die Luft, die sie einatmete, war eiskalt, sodass sie in ihrem Hals kratze, als sie die Klinge fester an seine Kehle drückte, um ihre Unruhe zu verschleiern – Vergebens. Ihre Gedanken hatte sie längst nicht mehr unter Kontrolle und auch ihren Körper konnte sie nur noch mit Mühe bändigen. Er sollte leiden. Er sollte ihren Schmerz spüren. Doch es war Darius, der vorsichtig ihren Arm herunterdrückte und ihr das Schwert entwendete. Seine Augen blickten dabei eindringlich in ihre, wahrnehmen konnte Serena ihn jedoch kaum. Ihr Blick war getrübt, das Bild vor ihr verschwamm leicht, sodass sie kurzzeitig die Augen schloss und zurücktrat.
»Erst beklaut mich dieser Dieb und dann auch noch diese Göre!«, verteidigte sich der Mann brüllend und stampfte auf den Boden, der bei jedem Schritt bebte.
Darius wandte sich wieder zu ihm um und hob die Klinge an, um sich den wütenden Rhodier vom Leib zu halten. »Und Ihr wollt sie nun festhalten, bis sie bezahlt?«, fragte er fassungslos. »Seht sie doch an. Sie hat kein Geld!«
»Dann werde ich sie dem König übergeben. Sie muss bestraft werden«, verlangte er und betrachtete abwertend das Mädchen, das einen Blick hinter Serena hervorwagte.
»Ich kümmere mich um sie ...«, erwiderte die Halbgöttin barsch und holte den Beutel heraus, den Helios ihr zuvor gegeben hatte. »Das hier dürfte für das Brot und den entstandenen Schaden reichen!« Abschätzig warf sie dem kräftigen Mann den Beutel vor die Füße.
Das Klimpern von Geldmünzen ließ den aufbrausenden Rhodier sofort hellhörig werden. Vergessen schien sein Zorn, als er sich in den Dreck warf und gierig nach dem Beutel griff, wie ein ausgehungerter Straßenhund nach einem Stück Fleisch. Ein Anblick, der Serena anwiderte.
Zögernd beugte sie sich nach dem Brot und reichte es dem verängstigten Mädchen. Diese traute sich jedoch nicht, danach zu greifen, stattdessen sah sie die Halbgöttin mit weit aufgerissenen Augen an. In ihnen erkannte Serena ihr Spiegelbild, allem voran ihre eigenen Augen, die einen bläulichen Glanz verströmten.
Die Halbgöttin senkte ihren Kopf und drückte dem Mädchen das Brot in die Arme. Diese schreckte jedoch zurück, als Serenas eiskalte Hand ihre berührte. Vergessen waren die blauen Flecke und Schürfwunden, die ihr von diesem wütenden Mann zugefügt wurden und die Angst, die sie vor ihm hatte. In diesem Augenblick war es Serena, vor der sie sich fürchtete.
»Geh!«, zischte die Halbgöttin barsch und lief einfach fort. Es war ihr egal, ob Darius und die anderen ihr folgten. Sie wollte dem Mädchen keine Angst einjagen, doch sie wollte ebenso wenig, dass man sie wie ein Monster anstarrte. Es war nicht sie selbst, sondern die Kalte Flamme, die sie verängstigt hatte, doch diese war ein Teil von ihr. Sie selbst war die Kalte Flamme – das Siegel des Olymp – und somit fürchtete das Mädchen auch die Person, die vor ihr stand.
Angespannt rieb sie ihre eisigen Hände. Die Wärme der Sonne hinterließ zwar einen wohligen Schauer auf ihrer Haut, dieser konnte jedoch kaum die Kälte in ihrem Inneren mildern. Diese Situation hatte ausgereicht, um sie fast die Kontrolle verlieren zu lassen. Nur weil sie einem Mädchen helfen wollte, einem Straßenkind ...
Lisias, schoss es ihr durch den Kopf, sodass sie abrupt stehen blieb.
Serena blinzelte einige Male, bis sich das trübe Bild vor ihren Augen wieder geklärt hatte und auch die Kälte allmählich nachließ.
»Dir darf man kein Geld in die Hände geben«, ertönte plötzlich Darius' Stimme, als er sie mit den beiden Bediensteten eingeholt hatte. »Du schmeißt ja alles weg!« Ein breites Grinsen zierte seine Lippen, doch Serena war nicht zum Lachen zumute.
»Hätte ich zusehen sollen, wie er das Mädchen wegen Brot totschlägt?«, entgegnete sie rau und lief weiter durch die menschenreiche Straße.
Darius eilte ihr nach und lief neben ihr her. Ihm blieb nicht verborgen, dass der Vorfall ihr nahe ging. Er selbst hatte das Leuchten ihrer Augen bemerkt und konnte Schlimmeres verhindern.
»Eigenartig«, setzte er nachdenklich an, als seine Augen in die Ferne schweiften. »Helios erzählte mir, du hättest ganz Athen auf den Kopf gestellt – für einen Apfel. Wenn man dich nun sieht, könnte man meinen, du wärst sanftmütig geworden«, lachte er amüsiert, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Als er seinen Kopf wieder zu ihr umwandte, stellte er jedoch fest, dass sie nicht mehr neben ihm herlief.
Die Halbgöttin war einige Schritte hinter ihm stehen geblieben. Ihr Kopf neigte sich leicht, ihr Blick wanderte zu einem Stand am Ende der Straße, während ihre Hände sich zu Fäusten ballten, bis sich ihre Fingerknöchel weiß färbten.
Der Standbesitzer versuchte eine große Krähe zu verscheuchen, die dagegen laut protestierte. Dieser krächzende Klang ließ Serena alle Haare zu Berge stehen. Es erinnerte sie jedes Mal an –
»Serena?« Irritiert rüttelte Darius die Halbgöttin, die daraufhin zusammenzuckte.
Ihr Herz hämmerte heftig gegen ihre Brust, als sie glaubte, der schwarze Vogel würde direkt in ihre Richtung blicken; als habe er ihren Namen vernommen. Doch kurz darauf stieg er in die Lüfte und verschwand einfach hinter den Dächern der Gebäude.
»Serena!«, riss Darius' Stimme sie aus ihrer Trance, sodass sie ihn erschüttert ansah. »Ist alles in Ordnung?«
Serena nickte hektisch, wandte sich von ihm ab und lief einfach weiter. Natürlich war nichts in Ordnung, doch das konnte sie dem jungen Halbgott unmöglich sagen. Es würde bedeuten, sie würde ihm von Thanatos' Plan erzählen müssen.
»Wundervolle Schätze aus ganz Griechenland. Tretet näher und seht sie euch an«, sprach ein Mann sie plötzlich an, sodass sie erneut innehielt.
Einen Augenblick lang sah sie ihn fragend an, bis sie realisierte, dass es der Mann war, der eben noch versucht hatte die Krähe zu verscheuchen. Er war ein Waffenhändler, seinen rauen Händen nach zu urteilen sogar ein Schmied.
Neugierig trat Serena an den Stand heran und betrachtete die Waffen, die auf einem roten Stofftuch ausgebreitet waren. Speere, Schilde, Schwerter, sogar einige Dolche waren darunter. Doch ihre Augen verengten sich abrupt, denn der Zustand der Waffen irritierte sie. Einige Schwertgriffe waren bereits abgenutzt, das Holz der Speerstäbe splitterte und die Dolchklingen wiesen minimale Schmauchspuren auf.
Serena war sich somit sicher, dass dieser Mann kein Schmied war. Er bot gebrauchte Waffen zum Kauf an, viele erwiesen sich bei genauerer Betrachtung jedoch als völlig unbrauchbar.
Abschätzig schüttelte Serena den Kopf, als sie die Schwerter genauer ansah, doch selbst die Klingen waren stumpf. Egal wie sehr der Mann auch versuchte, ihr die Waffen schmackhaft zu machen, sie würde nicht eine Münze für diesen Schrott ausgeben.
Desinteressiert lief sie den Stand entlang und versuchte die Stimme des Mannes zu ignorieren, was ihr aufgrund seiner Aufdringlichkeit äußerst schwerfiel. Doch alles um sie herum war vergessen, als sie ein Schwert entdeckte, das ihre Aufmerksamkeit doch erregte. Die Klinge war dunkler als die der anderen.
Serena erzitterte, als sie die Flammenmusterung erspähte, die sich über das anthrazitfarbene Metall erstreckte und das Siegel auf dem Griff, auf dem deutlich ein Greif zu sehen war.
»Ein beeindruckendes Schwert, nicht wahr?«, entfuhr es dem Mann stolz und reichte ihr die Klinge in die Hände. »Es war einst im Besitz eines großen Schmieds.«
»Ich weiß, wem dieses Schwert gehörte«, zischte sie, als sich ihre zitternden Finger um das Metall schlossen und Timaios' verschwommenes Abbild sie in ihren Gedanken heimsuchte. Es war ihr nicht auf Anhieb aufgefallen, doch die Kerbe an der Klinge hatte sie gleich wiedererkannt. Jene Kerbe, die das Schwert zierte, welches in einer heruntergekommenen Schmiede unter Fellen und Laken versteckt gewesen war.
»Es sieht vielleicht nicht so kostbar aus, aber man sagt, es sei das letzte noch käufliche Schwert aus seiner Schmiede. Aus diesem Grund ist das gute Stück natürlich nicht ganz billig.«
Serenas Augenwinkel verengten sich. Von Wut mitgerissen, packte sie den Mann am Hals und zog ihn über den Tisch. Dieser kippte um, sodass die Waffen sich über den Boden verteilten und die Aufmerksamkeit der verwirrten Rhodier erregten.
»Woher habt Ihr dieses Schwert?«, zischte Serena den Waffenhändler an, als sie ihn zu Boden stieß. Sie beugte sich über ihn und hielt die Klinge deutlich sichtbar unter seine Nase, sodass der Angstschweiß über seine Stirn lief.
Verängstigt versuchte er, ihren eisernen Griff zu lösen, doch je stärker er sich wehrte, desto fester schlossen sich ihre Finger um seinen Hals. Kleine Adern malten sich bereits unter seiner Haut ab und Serena spürte seine pulsierenden Muskeln zwischen ihren Fingern, dennoch ließ sie nicht ab.
»Woher habt ihr dieses Schwert?«, schrie sie schließlich, als sie kein Wort von ihm vernahm und rammte die Klinge direkt neben sein Gesicht in den trockenen Erdboden. »Ihr habt es aus der Schmiede gestohlen, nicht wahr? Ihr habt sein Schwert gestohlen!«
Angsterfüllt schnappte der Mann nach Luft. Seine Haut nahm eine unnatürlich rote Farbe an und seine Stirn legte sich in tiefe Falten, als er drohte die Besinnung zu verlieren. Doch es kümmerte Serena nicht. Sie wollte die Antwort aus ihm herausquetschen, wenn es sein musste.
»Serena, lass ihn los!«, forderte Darius und packte sie an den Schultern, um sie wegzuziehen.
Skrupellos stieß sie den jungen Halbgott einfach zurück. Sie beachtete ihn nicht weiter, schien ihn nicht einmal wahrgenommen zu haben. In diesem Augenblick kümmerte es sie nicht, was die verängstigten Bewohner über sie dachten und was sie in ihr sahen. Serena reagierte nicht einmal auf deren Schreie. Die Kälte ergriff sie einfach und verschlang ihre Vernunft und die Welt um sie herum.
Es war das Gefühl von Macht, das sie in diesem Moment überkam; über Leben und Tod zu bestimmen. Und das Leben dieses Mannes hätte ihr in ihrem derzeitigen Zustand gleichgültiger nicht sein können. Seine Augenlider wurden schwerer und der Griff seiner Hände schwächer, bis er sich schlussendlich nicht mehr wehrte. Der Funke seines Lebens war schwach. Er war völlig hilflos, ebenso wie sie damals, als sie verängstigt unter ihrem Bett gelegen hatte. Damals war sie schwach und es erinnerte sie daran, dass sie es nie wieder sein wollte, als sich ihre Finger noch fester um den Hals ihres Opfers schlossen.
»Ihr habt es gestohlen –«
Ein fester Griff riss sie plötzlich von dem Mann runter und drückte sie auf den Boden.
Der Waffenhändler, der mit einem Bein bereits in Hades' Reich gestanden hatte, schnappte nach Luft und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Seite. Er hustete Blut, doch augenscheinlich musste der Herr der Unterwelt auf seine Seele noch warten.
Wütend wandte Serena ihren Kopf ab und schrie. Sie versuchte sich aus dem festen Griff zu befreien und schlug wild um sich. Noch immer begriff sie nicht, was sie gerade getan hatte oder was um sie herum geschah. Ihr unbändiger Zorn hatte sie völlig erblinden lassen.
Erst die strahlenden Augen des rhodischen Königs, in die sie plötzlich blickte, rissen sie aus dem tranceartigen Zustand, in den sie gefallen war. Seine Lippen bewegten sich, doch seine Stimme versank in ihrem rasenden Herzschlag. Dennoch beschlich sie ein Gefühl, das ihr versicherte, dass dies nicht der rhodische König war – er hatte die Kraft eines jungen Gottes.
Er zerrte sie vom Boden hoch und warf ein schweres Tuch über ihren Kopf. Der Geruch war ihr inzwischen so vertraut, dass sie auf Anhieb wusste, dass es Helios' Umhang war.
Darius packte sie am Arm und zog sie aus der dichter werdenden Menge. Panik und Verachtung sah sie in den vorbeiziehenden Gesichtern. Stimmen hallten ihr nach, auch die eines beschwichtigenden Königs, doch noch immer konnte Serena die Situation nicht erfassen. Sie spürte nur die Kälte, die wie Blut durch ihre Adern floss, den eisigen Atem, der in ihrer Kehle kratzte und die finsteren Gedanken, in denen der Waffenhändler Hades' Schwelle übertreten hatte.
Die Reise zurück zum Sonnenpalast zog an ihr vorüber wie der Wind. Darius schob sie die Marmortreppen zu dem Bediensteten-Korridor hinauf. Sein Atem war schwerfällig und Serena hörte seine Aufregung heraus.
In ihrem Gemach vernahm sie dumpf, wie er die Tür hinter sich zuwarf. Die Vibrationen fuhren in ihren Körper und ließen sie erzittern. Ihre Gedanken klärten sich allmählich, doch noch immer spürte sie den eisigen Atem in ihrer Kehle kratzen und das unangenehme Kribbeln auf ihrer Haut.
Vorsichtig trat Darius an sie heran und griff nach dem roten Umhang, der ihre zitternde Gestalt vor neugierigen Blicken schützen sollte.
»Serena, ist alles –«
»Geh«, seufzte sie aufgeregt, als sie zurückwich und den schützenden Stoff fest an sich klammerte, als würde ihr Leben davon abhängen. Sie wollte nicht, dass er sie ansah. Sie wollte, dass er ging. »Verschwinde!« Der Boden bebte unter der Kraft in ihrer Stimme, sodass Darius erschauderte.
Serena hörte die Tür zuschlagen. Darius hatte fluchtartig ihr Gemach verlassen. Der Knall hallte noch Augenblicke später nach. Nur Serenas hektischer Atem konnte ihn überdecken. Es war ein angestrengtes Schnaufen, das an ihren Kräften zerrte. Es erdrückte sie.
Zögernd strich sie den schweren Stoff von sich herunter. Sie hatte geglaubt, sie könne dadurch besser atmen, doch noch immer war die Luft stickig, sodass sie keuchend zusammensackte.
Mit ihren Händen auf dem warmen Marmorboden abgestützt, öffnete sie ihre Augen und blinzelte einige Male. Die seltsame Verfärbung ihres linken Armes konnte sie dabei unmöglich übersehen.
Ihre Augen zuckten unruhig, als sie ihre linke Hand hob und sie betrachtete. Blaue Striemen zogen sich wie Adern über ihren Arm bis zum Handgelenk runter.
Panisch stand Serena auf und wankte zu der Kommode mit dem Spiegel, um das gesamte Ausmaß der Katastrophe zu sehen. Die dunklen Striemen schimmerten stark unter ihrer bleich gewordenen Haut hervor und zogen sich sogar über ihre Schulter bis zu ihrer Brust – bis zu ihrem Herz. Es war wie damals im Tartaros.
Ihre Augen verströmten noch immer das funkelnde Blau, vor dem sich das Straßenmädchen so gefürchtet hatte. Ein tobendes Feuer wütete in ihnen, und auch wenn es allmählich wieder verblasste, würde es in ihrem Inneren weiter wüten.
Am Abend saß Serena auf ihrem Bett, von dem sie sich seit ihrer Rückkehr nicht wegbewegt hatte. Ihre Beine mit ihren Armen umklammert, starrte sie an die gegenüberliegende Wand, von der aus sie den Verlauf der Sonne beobachten konnte. Die Striemen waren fast vollständig verblasst, sowie das bedrohliche Funkeln in ihren Augen. Noch immer zitterte ihr Körper, doch es war nicht länger ein Werk der Kalten Flamme. Es waren die Gedanken an das Geschehene, die sie heimsuchten.
Sie erinnerte sich, dass Darius sie mit sich auf einen Pegasos gezerrt hatte. Gewehrt hatte sie sich, hatte ihm sogar den Ellenbogen in den Magen gerammt und geschrien. Sie erinnerte sich auch an das kalte Metall in ihren Händen. Die Klinge hatte in ihre Handflächen geschnitten, als sie das Schwert unter die Nase des Diebes hielt. Sie hatte nicht einmal den Schmerz gespürt, nicht das Blut, das über ihre Finger lief. Erst jetzt, nachdem die Wunden durch die Kalte Flamme fast wieder verheilt waren, konnte sie die wahren Ausmaße ihres Wutausbruches langsam erahnen.
Die Kalte Flamme.
Angespannt blinzelte Serena einige Male. Die Kalte Flamme war um ein Vielfaches mächtiger geworden. Sogar so mächtig, dass das Elixier, welches Hephaistos ihr gegeben hatte, um ihrer Haut einen natürlichen Teint zu verleihen, keinerlei Wirkung mehr zeigte. Es war, als hätte sie sich angepasst ... sich verändert ...
Es war bei weitem nicht der erste Wutausbruch, den Serena erlebt hatte. Doch es war der Erste, der geschah, obwohl sie bei vollem Bewusstsein war. Sie wollte ihren Zorn nicht zügeln. Sie wollte ihn töten ... und die Kalte Flamme gab ihr die Macht dazu.
Die Tür öffnete sich plötzlich und hereinkam ein sichtlich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Romana Kessner
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2018
ISBN: 978-3-7438-9128-9
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