Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft
- vielmehr aus unbeugsamen Willen.
Mahatma Gandhi
Regungslos stand Serena auf der Plattform, auf die sie sich zurückgezogen hatte, um nachzudenken. Nur ihr rotbraunes Haar regte sich im Wind und betonte ihr blasses Äußeres, das durch die Strahlen der Abendsonne einen zarten Orangeton angenommen hatte.
In ihrer linken Hand hielt sie ein Stück Pergament. Ihre Lippen bebten und kleine Furchen zogen sich über ihre Stirn, während ihre Augen ins Leere starrten.
»Bist du bereit, Serena?«, ertönte plötzlich eine Stimme.
Verwirrt drehte sich die Halbgöttin um und erspähte Darius am Eingang des Sonnenpalastes stehen. Der vertraute Anblick des jungen Mannes riss sie in die Realität zurück. Sie schien für einen Moment sogar völlig vergessen zu haben, welche Gedanken sie zuvor gequält hatten.
Serena schenkte ihm ein leichtes Nicken und kam langsam auf ihn zu, während sie das Stück Pergament unauffällig in einem Ärmel ihres Gewandes verschwinden ließ.
Schweigend folgte sie dem Halbgott den Turm hinunter. Nicht ein einziges Mal hob sie ihren Kopf oder schenkte ihm gar einen flüchtigen Blick, wenn er sich nach ihr umsah. Erst als sie vor den großen goldenen Türen des Thronsaales zum Stehen kam, sah sie auf und holte tief Luft.
Ihre Augen waren stur auf das goldene Sonnenemblem gerichtet, das in die Türen eingelassen war und ihr verzerrtes Ebenbild widerspiegelte. Sie rang innerlich mit sich. Am Liebsten würde sie kehrtmachen und weglaufen, weit weg, doch es half alles nichts.
Zögernd trat sie mit zu Boden gerichtetem Blick ein und schritt auf den Thron zu. Dieser Gang sollte für sie ein Kinderspiel sein, denn sie betrat den göttlichen Thronsaal inzwischen jeden Tag. Die anfängliche Nervosität war also längst verflogen. An diesem Abend war es jedoch eine beunruhigende Beklemmung, die diesen Platz eingenommen hatte.
Am Fuße des großen Podestes, auf dem Helios' goldener Thron stand, hielt sie schließlich inne und machte eine kleine Verbeugung. Angestrengt hielt sie die Luft an und lauschte dem Tuscheln vor sich. Ihre Finger vergruben sich dabei in ihrem Gewand.
»Herr, Ihr wolltet mich sehen?« Die Worte lagen wie Blei auf ihrer Zunge.
Schritte hallten zu ihr hinab, sodass sie ihren Kopf noch tiefer hielt. Sie sah Helios' Schatten direkt vor sich und atmete konzentriert aus, um sich nichts anmerken zu lassen.
»Sieh mich an!«, befahl seine kräftige Stimme.
Widerwillig leistete sie ihm Folge. Seine strahlend hellen Augen funkelten wie Smaragde im einfallenden Sonnenlicht. Vielmehr war es jedoch das leichte Lächeln auf seinen Lippen, das sie verunsicherte.
»Wir sind unter uns, Serena«, versicherte er und sah sich im Raum um. Sie tat es ihm gleich, und als ihr Blick durch den Raum wanderte, erspähte sie lediglich Eos, die zurückhaltend am Thron stand und die Halbgöttin musterte.
Nach der abenteuerlichen Reise zum Ende der Welt hatte Helios der Göttin alles erzählt. Und nun wusste sie offensichtlich selbst nicht, ob sie die Entscheidung ihres Bruders, sich gegen die Moiren zu stellen, gut oder schlecht finden sollte. Kein Wort hatte sie seitdem darüber verloren. Doch es war für Serena ein Leichtes, den Spiegel ihrer Seele zu ergründen – Sie war verunsichert. Sie hatte Angst vor der Rache der Schicksalsschwestern. Und wenn die junge Halbgöttin genauer hinter ihre Fassade blickte, hatte sie sogar Angst vor ihr.
»Ich dachte, wenn ich dich in den gehobenen Bedienstetenkreis aufsteigen lasse, hast du mehr Ruhe. Doch es scheint mir, als wärst du nicht ganz bei dir«, fuhr Helios fort.
Serena wandte sich wieder von Eos ab, während Helios nachdenklich um sie herumschritt. Er hatte recht. Zwar gehörten in der Küche aushelfen und den Boden schrubben nun der Vergangenheit an und dafür war sie auch sehr dankbar. Ruhe fand sie dennoch nicht.
Antheia sowie die Nymphen und Sterblichen, mit denen sie vor einigen Monaten selbst noch geschuftet hatte, waren misstrauisch. Das, worauf viele von ihnen jahrelang erfolglos hinarbeiteten, war Serena in kürzester Zeit gelungen. Helios hatte die Skepsis der anderen nicht bedacht.
Seine Schwester versuchte, die Unachtsamkeit ihres geliebten Bruders zu verschleiern. Die Göttin ließ sie hin und wieder selbst zu später Stunde den Sitzungs- oder Thronsaal vorbereiten. Auch bei Besuchen des rhodischen Königshauses musste sie stets anwesend sein und die Götter und Gäste persönlich bedienen.
Helios schien es mit ihren neuen Aufgaben nicht ganz so genau zu nehmen, doch seine jüngere Schwester kannte keine Gnade. Umso aufmerksamer war sie nun bei jeder Geste, die Serena ausführte.
Als Helios plötzlich aus dem Augenwinkel auftauchte, blieb die Halbgöttin stramm stehen und sah irritiert zu ihm auf. Eine Gänsehaut überkam sie jedes Mal, wenn sie direkt in seine leuchtenden Augen blickte. Sie würde nie über dieses faszinierende Funkeln hinwegkommen, das sie jedes Mal aus der Bahn warf. Doch sie wusste, dass er sie zu durchschauen versuchte. Er wollte sie unter Druck setzen. Aus diesem Grund senkte sie sofort wieder ihren Blick. Eine rasche Handbewegung seinerseits zwang sie jedoch wieder dazu, zu ihm aufzusehen. Er spürte ihre Nervosität. Er forderte sie heraus. Doch das Letzte, was Serena nun wollte, war ein mitfühlendes Gespräch mit dem Sonnengott.
Sie faltete ihre Hände, runzelte nachdenklich ihre Stirn und versuchte an ihre alten Verhaltensweisen anzuknüpfen, was ihr jedoch entschieden schwerfiel. Die vergangenen Erlebnisse hatten sie bis in ihre Grundfeste erschüttert. Es war schwer, etwas wieder zu errichten, was zuvor skrupellos von der Realität eingerissen wurde.
Ein lautes Schleifen durchbrach plötzlich die unangenehme Stille zwischen ihnen und erregte die Aufmerksamkeit der Götter. Darius trat durch eine der großen Türen ein und verbeugte sich respektvoll tief.
»Die Quadriga steht nun bereit!«, ertönte seine kräftige Stimme durch den Raum.
Serena starrte ihn fragend an. Sie hatte stets das Bild des verträumten, lebhaften Darius vor Augen, der immer lachte und einen Scherz auf den Lippen hatte. Der ernste Halbgott, der Helios mit Rat und Tat zur Seite stand, verunsicherte sie jedoch.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Helios plötzlich, als er seine Kleidung richtete und ihr einen flüchtigen Blick schenkte.
Prompt wandte sich die Halbgöttin wieder zu ihm um. Sie nickte und lächelte leicht, um dieser Gestik einen zuversichtlichen Ausdruck zu verleihen. Und so sehr sie auch versuchte, unnahbar zu wirken, hatte man längst hinter ihre Fassade geblickt.
»Irgendetwas beschäftigt dich!«
Ertappt sah Serena auf. Ihr Gesicht entgleiste und ihre mühselig errichtete Fassade bröckelte geradezu dahin. Eos hatte sie durchschaut und warf sie Helios' durchdringlichem Blick nun zum Fraß vor. Entrüstet schüttelte sie den Kopf und starrte ihn leugnend an.
Er musterte sie nur schweigend. Sein verdächtiger Blick sprach jedoch Bände - er glaubte seiner Schwester mehr als ihr. Natürlich, Blut ist dicker als Wasser.
»Es ist alles –«
»Du warst ziemlich lange oben«, unterbrach Darius sie abrupt und kam langsam auf sie zu.
Serena holte tief Luft und versuchte ihr Temperament zu zügeln, was ihr angesichts des bloßen Verrats von Darius sehr schwerfiel. Auch Helios' Neugierde war nun geweckt. Er verschränkte seine Arme vor seiner Brust und holte tief Luft. Seine gewohnte Haltung, bevor er Serenas Verhaltensmuster genauer auf den Grund ging. Sie hasste es.
»Der beste Ort, um nachzudenken«, erwiderte sie zögernd und setzte ein leichtes Lächeln auf. Dutzende Male hatte sie andere mit diesem gespielten Lächeln täuschen können, selbst Helios und die olympischen Götter. Vielleicht taten sie es aber auch nur, weil sie ihren Worten einfach Glauben schenken wollten, doch Eos konnte sie nichts vormachen.
»Du machst dir Sorgen …«, fuhr die Göttin fort.
Helios wandte sich einen Moment lang zu seiner Schwester um, die Serena fixierte. Diese wurde mit einem Mal kreidebleich und ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend erschwerte ihr das Stehen.
»Es lässt dir noch immer keine Ruhe, oder?«, entfuhr es Helios schließlich sanft, als er sich wieder von seiner Schwester abwandte und nun neben Serena trat, die den Blickkontakt zu ihm mied.
Kein Wort der Welt konnte ihre Gefühlslage beschreiben, das wusste keiner besser als Helios. Doch sie in diesem Zustand zu sehen, schien ihm große Sorgen zu bereiten.
Sie nickte kurz und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Es war kein Geheimnis, dass der Besuch bei den Moiren sie völlig verstört hatte. Vier Monate lag diese Reise nun hinter ihr, doch noch immer nagten die Worte von Atropos an ihrer Seele.
Helios legte seine wärmende Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. »Eos und ich müssen gleich gehen. Sobald wir wieder da sind, komme ich zu dir und dann reden wir in aller Ruhe darüber. Was hältst du davon?«
Angespannt nickte die junge Halbgöttin und verhakte ihre Finger ineinander, während sie zu Eos sah, die sie noch immer gedankenversunken musterte.
»Soll ich ihm etwas ausrichten?«, wollte Helios dann wissen.
Wieder sah Serena zu ihm auf. Ihre goldbraunen Augen blickten direkt in seine, doch antworten konnte sie in diesem Moment nicht. Ihr Mund schloss sich, ehe auch nur ein Wort über ihre Lippen kam. Ein Gedanke überkam sie und plötzlich war es ganz einfach. Keine Hemmungen und keine unsichtbaren Stricke hielten sie fest. Sie schüttelte klar und deutlich den Kopf. Eine Geste, die in diesem Augenblick alle Anwesenden zu irritieren schien.
»Serena, bist du sicher? Du hast weder ihn noch deine Geschwister in den letzten Monaten gesehen, geschweige denn gesprochen. Soll ich ihnen wirklich nichts von dir ausrichten?«, hakte Helios noch einmal nach und verschränkte verwirrt seine Arme vor der Brust.
Wieder schüttelte sie entschlossen den Kopf und formte mit ihren Lippen ein bestätigendes Lächeln. »Ich wünsche euch einen guten Flug und … viel Spaß!«, erwiderte sie, als sie rückwärts zur Tür schritt, sich abwandte und einfach verschwand.
Die Drei blieben in ihrer Sprachlosigkeit zurück und mussten ihre Entscheidung wohl oder übel akzeptieren, auch wenn sie diese nicht nachvollziehen konnten.
Serena ließ sich auf dem Fenstersims ihres Gemaches nieder. Sie streckte ihre nackten Füße in die kühle Abendluft und sah den letzten hellen Strahlen am Horizont nach, ehe sich der Zauber der Nyx über die Welt legte.
Ebenso wie die Finsternis den Tag verschlang, hatte die Realität all ihre Träume verschlungen. Nur das bewusste Empfinden der Aussichtslosigkeit blieb zurück und vernichtete den letzten Funken Hoffnung, den sie vor der abenteuerlichen Reise noch besessen hatte.
Entmutigt holte sie wieder das gefaltete Pergamentpapier aus ihrem Ärmel, das die Haut ihres Unterarmes bereits aufgekratzt hatte, und betrachtete es eine Weile. Das silberne Licht des Mondes tauchte ihre ohnehin bleiche Haut in ein schneefarbenes Weiß, sodass das dunkle Papier hervorstach und das olympische Siegel deutlich zum Vorschein kam.
Ein leises Klopfen löste sie jedoch aus ihrer verkrampften Starre und prompt verschwand das Papier wieder in ihrem Ärmel. Ohne ein Wort des Einlasses schob sich die Tür ihres Gemaches auf und eine Gestalt schritt durch den dunklen Raum zu ihr ans Fenster.
»Wenn Helios dich schickt, kannst du gleich wieder gehen …«, murmelte Serena in die Nacht und setzte sich aufrecht hin, sodass man ihr keinerlei Emotionen anmerken konnte.
»Nein, ich bin aus freien Stücken hergekommen.«
Das gleißende Mondlicht brachte Darius' sandfarbene Augen zum Leuchten und befreite ihn schließlich aus der Dunkelheit. Ohne zu zögern, ließ er sich neben ihr auf dem Fenstersims nieder und betrachtete die vielen funkelnden Sterne, die den schwarzen Himmel beleuchteten. Er richtete jedoch kein weiteres Wort an Serena.
Misstrauisch zupfte sie ihre Ärmel zurecht und blickte in die Tiefe, ehe die Unruhe ihren Körper übermannte und sie die eisige Stille nicht länger ertragen konnte.
»Ich weiß, warum du hier bist …«, flüsterte sie.
Darius reagierte nicht auf sie. Seelenruhig war sein Blick in die Ferne gerichtet und schien etwas zu fixieren, was für Serena allerdings nicht sichtbar war. Doch sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Wahrscheinlich sah sie selbst nicht anders aus, wenn sie in Erinnerungen schwelgte.
Darius drehte sich plötzlich angespannt zu ihr um. »Er … Wir ... machen uns Sorgen. Die vergangenen Monate müssen dir zugesetzt haben. Dein Verhalten wird jedoch immer seltsamer und –«
»Wie würdest du dich fühlen, wenn alles, woran du geglaubt hast, nur Einbildung war und du selbst nur eine Figur in einem kranken Spiel?«, unterbrach sie ihn barsch und durchbohrte ihn mit stichelnden Blicken, die ihn schwer schlucken ließen.
»Ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich kann nur Mutmaßungen anstellen. Du denkst darüber nach, wieso es gerade dich traf. Aber das bringt dich nicht weiter. Du musst immer das Beste aus deiner Situation machen! Ändern wird es sich so oder so nicht.
Letzten Endes ist es doch immer das Gleiche. Du spielst deine dir zugeteilte Rolle so gut du kannst. Die Auswahl der Rolle steht einem anderen zu …« Seine Stimme klang eindringlich. Noch immer behielt sie jedoch die gewohnte Wärme, die Serena ein leises Seufzen entlockte.
Wieder schwiegen sich beide an. Es gehörte zu den wenigen Momenten, in denen sie sich wirklich einig waren. Er war ein Optimist. Trotz allem sah er immer das Positive. Doch es war leicht, wenn man nicht selbst in dieser Lage war. Serena dagegen sah ihre derzeitige Situation realistisch – Sie hatte keine Chance. Früher oder später würde man sie erwischen. Ares würde sie finden.
Ein lauter Knall, gefolgt von einem leuchtenden Feuerstreifen zog sich durch das Schwarz des Nachthimmels und wurde dann wieder von der Finsternis gefressen. Helios und Eos hatten sich auf dem Weg zum Olymp gemacht und Serena verspürte in diesem Moment einen Funken Erleichterung, denn vorerst war sie vor Helios' neugierigen Fragen sicher.
»Glaubst du, Zeus wird sich nach dir erkundigen?«, fuhr Darius plötzlich verträumt fort.
Die junge Halbgöttin hielt scharf die Luft an. Er hätte in diesem Augenblick keine ungünstigere Frage stellen können, als hätte er ihre Gedanken durchschaut. Doch Serena versuchte sich zusammenzureißen und würgte ihn sofort wieder ab.
»Er hat sich all die Monate nicht für mich interessiert!«
»Aber meinst du nicht –«
»Es reicht!«, knurrte sie leise. Ihre Finger vergruben sich in dem kühlen Marmor der Fensterbank. Ihre zarten Gesichtszüge verzogen sich zu einer angespannten Fratze. Je mehr Serena über den Olymp nachdachte, der das Bild ihres vermeintlich liebenden Vaters heraufbeschwor, desto mehr überkam sie das Gefühl, sie würde jeden Moment die Kontrolle über sich verlieren. Die Kalte Flamme war mächtig und ihre emotionalen Ausbrüche stärkten sie.
»Tut mir leid. Bei diesem Thema werde ich immer sentimental«, lächelte der junge Halbgott plötzlich leicht und blickte in die Tiefe.
Irritiert sah Serena ihn daraufhin an. Er schien nicht einmal realisiert zu haben, dass sie gerade mit sich zu kämpfen hatte. Vielleicht hatte er wirklich recht. Sie schürte den Hass in sich und beschwor das Unheil geradezu herauf, je mehr sie über die Fehler ihres Vaters nachdachte. Doch im Loslassen war sie nie gut gewesen. Es war für sie immer leichter gewesen, anderen die Schuld zu zuweisen, um einen Grund für ihre Wut zu finden.
»Helios hat mir oft von dieser Veranstaltung auf dem Olymp erzählt. Goldene Kelche und Kronleuchter, ausgelassene Stimmung, Essen und Trinken, dass man davon Jahrzehnte leben könnte, doch ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie es dort ist.« Er hielt inne und sah die in sich gekehrte Serena zögernd an. »Du warst letztes Jahr dort! Kannst du mir nicht davon erzählen?«
»Es ist abscheulich!«, erwiderte sie kühl und atmete tief durch. Doch von Darius erntete sie nur einen erschütterten Blick. »Sie feiern an diesem Tag die Niederlage ihrer Eltern. Wie sonst sollte man so etwas nennen?«, fuhr sie fort und sah Darius daraufhin fixierend an. Ein unheimliches Funkeln färbte ihre Augen dunkel und ließ den jungen Halbgott zurückweichen.
Instinktiv schüttelte er den Kopf. Eine richtige Antwort gab es in diesem Moment nicht. Egal was er nun sagen würde, es würde Serena nur aufregen. Doch so sehr sein Verstand dagegen ankämpfte, konnte er sein Mundwerk einfach nicht zügeln.
»Wenn die Titanen den großen Krieg nicht verloren hätten, dann wäre sicherlich vieles anders. Wir wären nicht hier –«
»Und hätten auch keinerlei Sorgen und Ängste. Was kümmert uns das Leben, wenn wir nicht existieren?«, beendete sie seinen Satz ungestüm.
Wieder kehrte eine peinliche Stille ein und Darius schien nach den richtigen Worten zu suchen, um dieses Gespräch aufrechtzuerhalten. Dem Anschein nach bemerkte er nicht einmal, dass Serena nicht danach war, über Götter oder den Olymp zu reden.
»Du musst wirklich wütend auf Zeus sein, wenn du ihm nicht einmal etwas zukommen lassen möchtest.«
Serena entfloh ein entnervtes Seufzen. Ihre Füße wippten über dem tiefen Abgrund, der lechzend nach ihnen zu greifen schien.
»Ich hasse ihn nicht …«, erwiderte sie dann gedankenversunken. »Es ist bloß die Angst, wieder enttäuscht zu werden. Wir beide wissen, wie die Götter sind …«
Darius nickte verständnisvoll. Er kannte dieses Empfinden nur zu Gut. Schließlich kannte er seinen leiblichen Vater nur aus Büchern und Helios' Erzählungen, der diese gerne ausschmückte, um ihn nicht zu kränken. Doch Darius war nicht auf den Kopf gefallen. Der hilfsbereite Sonnengott war ein schlechter Lügner und das Desinteresse des Meeresgottes sprach für sich.
Plötzlich hob Serena wieder den Kopf und sah ihn aufgewühlt an. »Wenn Poseidon sich bei dir melden würde, nach all der Zeit, würdest du ihm verzeihen?«, fragte sie leise und achtete genau auf seine Gesichtszüge, die sich unsicher verzogen. Er schwieg und betrachtete verträumt die Sterne, während eine leichte Brise eine Strähne in sein Gesicht blies.
»Ich weiß es nicht«, durchbrach seine Stimme dann die kurz eingetretene Stille. »Es ist viel Zeit vergangen ... aber ich denke, jeder hat eine zweite Chance verdient«, schmunzelte er dann leicht.
Serena beobachtete verwundert das Glitzern in seinen dunklen Augen. Es entlockte ihr ein leichtes Lächeln. Doch dies kam nicht etwa von der Aussage, die er traf. Vielmehr war es die kindliche Naivität, die sie erstaunte. Darius hielt nach all dem, was er erlebt hatte, noch immer an das Gute in einer Person fest. Er wusste ebenso gut wie sie, dass Poseidon sich in diesem Leben niemals bei ihm melden würde und dennoch wäre er bereit, Wut, Trauer und Hass zu überwinden ... es einfach zu vergessen, um ihn anzuhören. Eine Fähigkeit, für die Serena ihn sogar ein wenig beneidete, denn ihr fiel es schwer zu verzeihen ... zu vergessen.
Gedankenversunken sah auch sie wieder in den prachtvoll erleuchteten Himmel hinauf. Eine schwarze Decke, besetzt mit tausenden funkelnden Diamanten, die mit voranschreitender Nacht heller wurden. Ein Anblick, der ihr inzwischen sehr vertraut geworden war und den sie ebenso sehr genoss wie den Sonnenaufgang.
Eine Sternschnuppe zog zwischen den vielen leuchtenden Punkten hindurch und erregte die Aufmerksamkeit der beiden Halbgötter. Kein Wort war in diesen magischen Augenblick nötig, um ihnen ein Leuchten ins Gesicht zu zaubern. Doch dieser erheiternde Moment erstarb schnell wieder, als Serenas Gesichtszüge entgleisten.
»Er ist wieder hier«, flüsterte sie gerade laut genug, dass es Darius bewusst wahrnehmen konnte. Noch ehe er seinen Kopf fragend zu ihr umwenden konnte, öffnete sich die Tür zu ihrem Gemach und eine schwarze Gestalt trat in den finsteren Raum. Ein Szenario, das Serena vor einigen Monaten noch alle Haare zu Berge stehen ließ. Inzwischen wusste sie jedoch genau, dass von diesem Schatten keine Gefahr ausging.
»Helios, du bist schon zurück?«, begrüßte Darius den Sonnengott verwundert und erhob sich. Doch der Gott nickte ihm nur zu und wandte sich dann Serena zu, die seinem Blick auswich, als hoffe sie, er würde sie nicht bemerken.
»Serena, folge mir.« Der tiefe Unterton in seiner Stimme jagte der jungen Halbgöttin eine Gänsehaut über den Rücken.
Wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wurde, folgte sie Helios schweigend aus dem Raum. Immer ein paar Schritte hinter ihm und mit gesenktem Kopf lief sie ihm durch die dunklen Korridore des Sonnenpalastes nach. Bedienstete trafen sie nicht an. Scheinbar waren die Götter doch länger weg gewesen, als Serena angenommen hatte.
Die erdrückende Stille zwischen ihr und ihm machte sie wahnsinnig. Sicherlich wollte er ihr etwas von Zeus oder Athene ausrichten und tat dies lieber unter vier Augen. Aus diesem Grund führte er sie sicherlich geradewegs in sein Gemach. Doch als Serena einen Moment aufsah, erkannte sie schnell, dass Helios nicht vorhatte, sie in seine Gemächer zu führen.
Er lief geradewegs die lange Treppe auf das Dach des Palastes hinauf. Hier waren sie nicht nur vor Darius' neugierigen Blicken sicher, sondern auch vor denen jedes anderen Gottes. Dort oben konnte sie niemand sehen.
Die letzte Stufe hinter sich lassend, schritt er an das Ende der großen Plattform, direkt zwischen die Pferdestatuen und schaute in die Ferne.
Eine Weile stand Serena einfach nur da und musterte die angespannte Haltung ihres Gegenübers. Er wartete darauf, dass sie zu ihm kam, das war ihr klar. Irgendetwas in ihr sträubte sich jedoch vehement dagegen, denn sie ahnte, dass es keine guten Neuigkeiten gab.
Unsicher strich sie die Ärmel ihres luftigen Gewandes weiter herunter, sodass ihre Hände fast im Stoff verschwanden. Dann trat sie an den Rand der Plattform vor und blickte ebenfalls in die dunkle Nacht hinaus. Nicht einmal die funkelnden Sterne oder der helle Vollmond konnten in diesem Augenblick ihr Gemüt erhellen.
Eine beklemmende Stille machte sich zwischen den beiden breit, bis Helios einen tiefen Seufzer aus seiner Kehle würgte und leicht den Kopf schüttelte. Er drehte sich um und lief ein paar Schritte zurück, sodass Serena ihn aus dem Blickfeld verlor. Sie blieb angewurzelt stehen und überwand die kühle Luft hier oben tapfer. Doch die Gewissheit, ihn aus den Augen verloren zu haben, löste Panik in ihr aus.
»Du weißt, dass du den Palast nicht verlassen sollst, auch nicht, um heimlich zu üben.« Seine Stimme klang wider Erwarten sanft. Irritiert wandte Serena sich deshalb zu ihm um und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
»Das mache ich auch nicht«, entgegnete sie angespannt und runzelte fragend die Stirn.
Seine Mundwinkel zogen sich nach unten und unterstrichen seine Missgunst, als er auf sie zuschritt. Kurz vor ihr hielt er inne und sah auf sie hinab, sodass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um seinen Blick zu erwidern. Das grelle Licht des Mondes verlieh seinen Augen einen unheimlichen Glanz und ließ die junge Halbgöttin schwer schlucken.
Kurzerhand griff er hinter sich und holte etwas Schmales unter seinem Umhang hervor. Triumphierend hielt er den Gegenstand, der sich im Licht als Pfeil entpuppte, unter ihre Nase. Sein Blick verfinsterte sich abrupt, doch Serena schenkte ihm nur ein müdes Lächeln und legte ihren Kopf leicht zur Seite. Jegliche Anspannung fiel von ihr ab. Ihre Schultern sackten und ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihren Lippen, als diese ein Lächeln bildeten.
»Wenn nicht zufälligerweise Artemis hier war und sie ihre Pfeile hier herumschießt, kann der hier nur von dir sein!«, erklärte Helios kühl.
»Ja, das ist auch meiner«, erwiderte Serena gelassen.
Helios' Augenbrauen hoben sich. Er holte Luft, hielt dann jedoch inne. Seine Verwirrung war geradezu von seinem Gesicht abzulesen.
»Du gibst es also zu?«, hakte er nach. »Du hast dich gegen meinen Willen aus dem Palast geschlichen, um mit deinem Bogen zu schießen?«
Prompt schüttelte Serena den Kopf, sodass er den Durchblick völlig verlor. Sie schien es förmlich zu genießen, Helios zu verwirren. Völlig vergessen waren die quälenden Gedanken an ihren Vater, Athene und den Olymp und selbst das Gespräch mit Darius, das die Wut in ihr geschürt hatte.
Langsam ließ Helios den Pfeil in seiner Hand sinken und musterte Serena ratlos, die sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte. Er sah sie selten in solch einer gelassenen, erheiterten Art. Es verunsicherte ihn noch mehr, doch zeitgleich entlockte es selbst ihm ein leichtes Lächeln.
»Deine Anweisung war, den Palast nachts nicht zu verlassen. Daran habe ich mich gehalten.«
»Und wie –?«
»Von meinem Gemach aus hat man eine wunderbare Aussicht ... auch in den Sonnengarten«, fiel sie ihm ins Wort, ein verschmitztes Lächeln zierte ihr Gesicht.
»Du hast …« Der junge Sonnengott wandte seinen Kopf ab und strich sich entnervt über sein Gesicht. Serena hatte ihn vorgeführt. Und trotz verzweifelter Versuche konnte er einfach nicht das Lächeln aus seinem Gesicht vertreiben, mit dem sie ihn angesteckt hat. Es war wie ein innerlicher Zwang, dem er nicht gewachsen war.
Serena war es schließlich, die sich schweigend von ihm abwandte und in den Nachthimmel blickte, um Helios die Möglichkeit zu bieten, sich wieder zu fassen. Diese Gelegenheit nutzte sie, um ihre Ärmel wieder zurecht zu ziehen, sodass das raue Pergamentpapier darunter erneut über die gereizte Haut ihres Unterarmes scheuerte.
»Gibt es Neuigkeiten vom Olymp?«, fuhr sie nach einer Weile des Stillschweigens fragend fort, als sie sich wieder zu ihm umwandte.
»Ja …« Seine Stimme brach.
Fragend legte Serena ihren Kopf zur Seite. »Was ist los?«, hakte sie besorgt nach, als er keinen Ton mehr verlauten ließ, doch auch nun konnte sie ihm kein Wort entlocken.
Er hatte jegliche Emotionen aus seinem Gesicht verbannt. Selbst ihr Lächeln konnte seinen harten Gesichtsausdruck nicht mehr erweichen.
»Ich hatte ein Gespräch mit deinem Vater«, fuhr er schließlich nach einer langen Pause fort. »Es ist seltsam, denn er erkundigte sich, ob du seine Briefe bekommen hast.« Seine Augen beobachteten jede ihrer Muskelregungen genaustens. Und tatsächlich fiel ihm sofort ein nervöses Zucken ihrer Augenbrauen auf, als er die Briefe erwähnte.
Serena senkte ertappt ihren Kopf und wich somit seinem durchdringlichen Blick aus, wohlwissend, dass sie sich damit nur noch verdächtiger machen würde.
»Also …«, erhob sich Helios' Stimme auffordernd, als er seine Arme vor der Brust verschränkte. Doch sie schwieg. Kein Wort der Erklärung verließ ihre Lippen. Sie wusste nicht einmal, wie sie beginnen sollte. Doch ein kühler Luftzug, der sich in ihren Haaren verfing und diese direkt in ihr Gesicht wehte, nahm ihr diese schwere Aufgabe sofort ab. Ihre Hände hochgeschlagen, rutschten ihre Ärmel nach hinten und das versteckte Pergamentpapier wurde ihr vom Wind entrissen. Noch ehe Serena dies realisieren konnte, landete dieses direkt vor seinen Füßen und erregte seine Aufmerksamkeit. Das Schicksal stand erneut nicht auf ihrer Seite.
Das olympische Siegel erblickend, bückte Helios sich danach und hob es auf.
»Helios … das ist …«
Er überflog die kleingeschriebenen Zeilen mit kritischem Blick und ließ Serena so keine Zeit, sich zu erklären. Serena biss sich derweil nervös auf die Unterlippe und zog ihre Schultern an, während ihre Arme sich um ihren Oberkörper schlangen.
Ein matter Schleier legte sich plötzlich auf Helios' Augen, den selbst der Vollmond nicht durchleuchten konnte. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als sein Blick wieder zu Serena wanderte.
»Serena, wie viele von diesen Briefen hast du bekommen?«, raunte er aufgebracht, sodass sie unter dem ungewohnt harten Tonfall zusammenzuckte. Seine freie Hand packte sie am Arm und zog sie zu sich. Er hatte sich völlig in Rage gebracht und merkte nicht, dass sein Körper eine unangenehme Hitze verströmte, der Serena sich entziehen wollte. Sie kniff ihre Augen zusammen und verzog ihr Gesicht zu einer entsetzten Fratze. Nur ein gequältes Stottern kam über ihre Lippen, ehe ihre Stimme wieder verstummte.
»Drei oder vier-« Unter Schmerzen riss sie ihren Arm los und sah beschämt zu Boden. »zehn.«
Ruhe kehrte ein. Absolute Stille herrschte plötzlich zwischen den beiden. Nicht einmal der Wind heulte in diesem Augenblick. Es war, als würde die Welt für einen Moment lang stillstehen. Ein Moment, in dem der Sonnengott ihre Worte und das Ausmaß der Situation erst realisieren musste.
Fassungslos schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht und das Grün seiner Augen wurde gänzlich von einem schwarzen Schleier verschlungen. Nur mit Mühe konnte er seine herrische Stimme zügeln und in einem deutlich ruhigeren Ton zu ihr sprechen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.
»Vierzehn Briefe? Wieso hast du mir nichts davon erzählt?«
Serena schwieg und ließ sich langsam am Rand der Plattform auf das kühle Gestein nieder. Sie schottete sich vollständig ab, zog ihre Knie an sich und schlang ihre Arme um ihre zitternden Beine. Sie war in ihrer Gedankenwelt versunken, malte sich ihre Zukunft aus, die für sie ebenso finster war wie eine mondlose Nacht.
»Bei allen Göttern! Serena, weißt du, was das bedeutet?«, versuchte der fassungslose Sonnengott sie wachzurütteln.
»Dass ihr recht hattet«, erwiderte sie resigniert und drehte ihr Gesicht von ihm weg, sodass er keine Möglichkeit hatte, einen Blick auf ihre glasigen Augen zu erhaschen.
Helios atmete tief durch und mit einem Mal löste sich jegliche Spannung. Seine Schultern sanken und die Wut in seinem Bauch verflüchtigte sich.
Serena war eine mutige junge Frau, das hatte sie ihm bewiesen. Doch sie war ebenso dickköpfig und misstrauisch gegenüber Außenstehenden. Nur ihrem leiblichen Vater, ein Mann, den sie ihr ganzes nicht gekannt hatte, vertraute sie blind.
Nun blickte Helios auf sie hinab, sah nicht die selbstbewusste Einzelgängerin, sie sie vorgab zu sein. Vielmehr entpuppte sie sich nun als das hilflose Kind, das sie nun einmal war. Er konnte ihre Gedanken nicht lesen. Doch ihre Worte hatten die Enttäuschung preisgegeben, die sie verspürte.
»Serena …«
»Er suchte nach einem Olympier, der in seinen Augen am besten an meine Seite passt. Und nun … hat er ihn gefunden …«
Wütend strich sie sich durch die Haare und ließ ihre Beine über den Abgrund baumeln.
Langsam und mit größter Vorsicht ließ der Sonnengott sich neben ihr nieder und betrachtete die zerstörte Fassade einer niedergeschlagenen Halbgöttin, die einer elenden Zukunft entgegenblickte. Eine Weile zögerte er und suchte augenscheinlich nach den richtigen Worten. Die Wut über Zeus' beschämenden Versuch, seine Tochter zu binden, war jedoch zu groß.
»Aus diesem Grund wolltest du ihm auch nichts zukommen lassen. Aber wieso hast du dich nicht an mich, Eos oder wenigstens an Darius gewandt? Wieso hast du uns nicht die Briefe gezeigt? Wir hätten doch versucht, dir zu helfen!«
»Ihr hattet wegen mir schon genug Ärger«, erwiderte sie kopfschüttelnd und sah zu ihm auf. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre Augen noch immer glasig, aber dennoch überwand sie ihre seelische Betroffenheit. Es war ein verblüffender Anblick, selbst für einen Gott, der für ihn jedoch einen bitteren Beigeschmack hatte.
»Seitdem ich bei den Moiren war, ist alles belanglos geworden. All das, was mir zuvor Sorgen bereitet hat, wurde unwichtig und ich verdrängte es einfach, bis der erste Brief kam ... Ich wurde gewaltsam in die Realität zurückgerissen. Es ist, als wäre dies die Bestrafung für meinen Versuch, frei zu sein.« Verächtlich betrachtete sie den Brief in Helios' Händen, als könne er durch bloßes Ansehen in Flammen aufgehen.
Helios atmete tief durch und überflog die Zeilen des Briefes erneut. Die Worte bildeten noch immer die gleichen Sätze wie zuvor auch und verkündeten in dieser Reihenfolge eine aussichtslose Zukunft, wenn Serena der drängenden Bitte ihres Vaters nachkam.
Plötzlich fing diese an zu lächeln und den Kopf zu schütteln. Ein Anflug von Wahnsinn lag in der Luft, spiegelte sich in ihren leuchtenden goldbraunen Augen und schien auf sie überzugreifen.
»Ich war blind. Ich habe die Augen vor der Wahrheit verschlossen, obwohl ihr mich immer wieder darauf gestoßen habt …« Ihre Stimme brach abrupt und auch das ironische Lächeln verschwand prompt wieder aus ihrem Gesicht. »Ich hatte wohl einfach gehofft, dass er aufhören würde, wenn ich nicht reagiere …«
Helios legte behutsam seine Hand auf ihre Schulter. Auch jetzt wunderte es ihn noch immer, wie kalt ihre Haut war, auch wenn er es inzwischen gewohnt war.
Das angenehme Kribbeln seiner Wärme ließ Serena für einen Moment entspannen. Sie schloss ihre Augen und ließ die Zeit für diesen einen kleinen Augenblick stillstehen.
»Weißt du, wie demütigend es ist, nach so vielen Monaten eine Nachricht von seinem Vater zu erhalten und sein einziges Anliegen meine bevorstehende Vermählung mit einem wildfremden Mann zu sein scheint?« Eine Frage, auf die Helios keine Antwort geben konnte. Er schüttelte nur leicht den Kopf und strich sanft über ihre Schulter.
Eine ganze Weile starrten beide einfach nur in die dunkle Nacht und schwiegen einander an. Serenas Stimme wurde von ihrer Enttäuschung übermannt und erstarb in ihren zitternden Atemzügen. Nun hatte sie damit zu kämpfen, die Aufregung nicht die Oberhand über ihren Körper gewinnen zu lassen. Doch plötzlich verzogen sich ihre Mundwinkel und in ihrem Gesicht zeichnete sich eine aggressive Spannung ab, die Enttäuschung und Trauer binnen wenigen Augenblicken aus ihrem Innersten verbannte. Es verblüffte ihn, wie vehement sie versuchte, keine Tränen zu vergießen. Sie wollte diesen Funken Menschlichkeit auf keinen Fall zulassen. Nicht einmal auf der Insel der Moiren war es so weit gekommen, obwohl sie allen Grund dazu hatte, nur um keine Schwäche zu zeigen.
»Ich wollte einfach nur eine Familie, stattdessen beschenkten mich die Schicksalsschwestern mit dem sicheren Tod.«
»Serena!«, knurrte Helios angespannt. Er hasste es, wenn sie so anfing, und unterbrach sie, noch bevor sie richtig anfangen konnte. Manchmal gelang es ihm, manchmal jedoch auch nicht. Im Grunde hing es von ihr ab, doch dieses Mal schien er Schlimmeres verhindern zu können. Trotz ihres eben noch bevorstehenden Wutausbruchs lächelte sie plötzlich wieder. Sie hatte einen Narren daran gefressen, den Sonnengott zu ärgern. So konnte sie von den unglücklichen Erinnerungen und der Realität ablenken und wenigstens für einen Moment in eine Welt flüchten, die sie vergessen ließ und die ihre Tränen unterdrückte.
Sie strich sich einige Strähnen aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihre Ohren, als auch der Moment der Täuschung verging und die Erkenntnis sie wieder einholte.
»Ich werde vor die Wahl gestellt. Ein Leben in ständiger Angst und auf der Flucht oder ein Leben in Gefangenschaft, an der Seite eines Mannes, den ich nicht einmal kenne ...« Ihre Stimme brach erneut unter ihrem zittrigen Atem, als sie wieder zu Helios aufsah, dessen Blick auch weiterhin in die Ferne gerichtet war.
»W-Was würdest du an meiner Stelle tun?«, fragte sie hoffnungsvoll und neigte ihren Kopf zur Seite. Sie hatte sich stets auf das Wort des Gottes verlassen können und sehnte sich nach einer befreienden Lösung, doch er zögerte. Er biss sich auf die Unterlippe und atmete angespannt aus, während er sich auf seinen Händen abstützte.
»Du selbst musst wissen, mit welcher Entscheidung du leben kannst.«
Ein verwirrtes Lächeln zierte ihre Lippen. »Seltsam, mein Vater benutzte auch immer diese Worte. Es ist … als wäre er noch immer hier«, erwiderte sie flüsternd und faltete ihre kühlen Hände in ihrem Schoß. »Egal welcher Weg es auch sein mag, wähle den, der dich glücklich macht. Das waren seine Worte, aber …« Sie schluckte schwer und senkte wieder den Kopf. Helios sah sie daraufhin wieder an und bemerkte die Zweifel in ihren Augen, das leichte Vibrieren ihrer Lippen und die krampfhafte Haltung ihrer Finger. Sie wusste nicht, welcher Weg der Richtige war. »Es ist nicht leicht, schließlich ist Zeus ... mein leiblicher Vater.«
»Es ist nie leicht, den richtigen Weg zu gehen«, entgegnete er ihr gefasst und holte sie somit schnell wieder aus ihrer Gedankenwelt zurück. Es war offensichtlich, für welchen Weg sie sich seiner Meinung nach entscheiden sollte. Trotz allem ließen sie die Zweifel dennoch nicht los. »Den richtigen Weg zu gehen, bedeutet immer geliebte Personen zu verletzen. Aus diesem Grund wählen die Meisten den einfachen Weg und erleiden lieber ein Leben lang ihr eigenes Unglück als andere zu verletzen.«
Serena nickte nur verständlich und sah wieder für einen Moment zu ihm auf. Er schien in diesem Augenblick in seiner eigenen kleinen Gedankenwelt zu sein. Als er ihre Beäugelung bemerkte und sie sanft anlächelte, sah sie jedoch sofort wieder weg.
»Du klingst immer so weise … Hast du das von deinem Vater?«, fragte sie schließlich leise, um der Stille Einhalt zu gebieten.
»Nein!«, entgegnete er prompt und verzog sein Gesicht. Sein finsterer Blick ließ ihr alle Haare zu Berge stehen. Ihre Gedanken konnte sie in diesem Augenblick nicht mehr in Worte fassen. »Aus Erfahrung!«
Wieder senkte sie ihren Blick, doch sie spürte, wie Helios sie anstarrte. Er war nicht gut auf seine Eltern zu sprechen, dies machte er ihr mit seinen Worten deutlich klar. Umso verärgerte schien er nun, da sie ihn auf dieses Thema angesprochen hatte, und strafte sie mit durchdringlichen Blicken und eisernem Schweigen.
Ein kühler Windhauch ließ Serena nach einer gefühlten halben Ewigkeit der unerbittlichen Folter schließlich aufspringen und entlockte ihr die erlösenden Worte: »Es ist schon spät. Ich werde zu Bett gehen!«
Sie verbeugte sich tief, machte kehrt und lief in schnellen Schritt in ihr Gemach zurück, ohne die Kraft und den Mut zu haben, Helios noch einen einzigen Blick zu schenken.
Die kommenden Nächte brachten kaum Schlaf. Die Tage brachten keine Ruhe. Serena schien auch weiterhin gedanklich völlig abwesend zu sein. Immer öfter unterliefen ihr fatale Fehler. Gefäße gingen zu Bruch. Sie kam zu spät zum Dienst, wenn sie überhaupt erschien, und schwieg Gespräche einfach tot. Antheia tadelte sie täglich. Doch es war offensichtlich, dass die junge Halbgöttin kein Wort der alten Hexe an sich heranließ. Stattdessen verbrachte sie die meiste Zeit auf dem Rand der großen Plattform, sah einzelne Wolken unter sich hinwegziehen und beobachtete die Sonne, die ihre Bahn zog. Manchmal starrte sie geraume Zeit auch einfach nur auf den Schicksalsfaden, den sie um ihr rechtes Handgelenk trug. Kein einziges Mal hatte sie ihn abgelegt, seitdem Helios ihn ihr überreicht hatte. Sie wollte nicht einmal daran denken, was geschah, würde er in fremde Hände geraten. Es wäre ihr Ende. Aus diesem Grund behielt sie ihn immer bei sich, sodass sie ihn nie wirklich aus den Augen verlor. Doch eines hatte sie verloren …
Die Hoffnung, dass sie ihre derzeitige Situation aussitzen und Zeus von seinem Vorhaben, sie an einen Mann zu binden, absehen würde, war gescheitert. Es verging kein Tag mehr, an dem nicht ein schöner Adler auf dem Fenstersims saß und einen Brief in seinem Schnabel trug, auf dem das Wappen des Olymp prunkte. Selbst Helios, der zu Beginn noch optimistisch war, schien nach und nach alle Hoffnung zu verlieren, dass Zeus endlich zur Besinnung kam. Nur wollte er dies nicht vor Serena zeigen. Diese konnte seine angespannte Körpersprache jedoch sehr gut deuten. Eos eiferte ihrem Bruder nach und verbrannte die Briefe des Olympiers sogar in Nacht-und-Nebel-Aktionen, in der Annahme, dass niemand sie beobachten würde. Doch Darius war in dieser Situation zu Serenas Augen und Ohren geworden und berichtete ihr über sämtliche Vorgänge, die in diesem Palast vor sich gingen.
Die Zeit lief erneut gegen sie und zwang die verunsicherte Halbgöttin einen Weg zu wählen, der ihr gesamtes Leben beeinflussen würde. Es war die schwerste Entscheidung, die sie in ihrem jungen Leben treffen musste und mit jedem Tag, der verstrich, zog sich die Schlinge um ihren Hals weiter zu. Sie musste eine Entscheidung treffen. Sie sollte ihren Weg wählen, doch Zeus hatte dies längst für sie getan …
Wieder stand Serena auf der Plattform direkt zwischen den Pferdestatuen. Ihre goldbraunen Augen fingen die ersten Strahlen der aufgehenden Morgensonne auf und schienen sie in sich zu verschließen. Ein warmer Luftzug verfing sich in ihrem kurzen, weißen Nachtgewand und spielte mit dem seidenen Stoff. Und als sich die Sonne langsam in der Ferne des Okeanos aus der Dunkelheit erhob, schloss Serena für eine Weile die Augen und atmete tief durch. Der frische Geruch von Gras benebelte ihre Sinne und entführte sie aus dem Hier und Jetzt. Ein warmer Sommermorgen hätte man meinen können. Doch diese Täuschung war nur eines der vielen Geheimnisse, die die Mauern des Sonnenpalastes verbargen. In Wirklichkeit verlor man hier jegliches Zeitgefühl. Ein warmes Klima und eine blühende Flora waren allgegenwärtig und somit herrschte stets ein sommerliches Wetter, ebenso wie auf dem Olymp. Erst nachts, wenn die Dunkelheit hereinbrach und das Licht mit der Wärme verschwand, ergriff die Kälte, die nun auch die Sterblichen in ihren Bann zog, vom Sonnenpalast Besitz. Erst der kommende Morgen, der die Farben und die Mittagshitze zurückbrachte, raubte diesem Ort wieder ihre Natürlichkeit. Doch auch die belebende Wärme der Morgensonne konnte nicht Serenas kühles Gemüt erwärmen.
Entkräftet ließ sie ihre Arme sinken und lehnte sich mit dem Rücken an eine der Statuen, die ihr in diesem trostlosen Augenblick Halt versprachen. Dennoch verspürte sie die Leere, die drohte, ihr nach und nach den Boden unter den Füßen zu entreißen.
»Hier oben bist du, Sonnenschein!«
Langsam wandte sie ihren Kopf um und erspähte Darius und Helios, die direkt auf sie zukamen. Wirkliche Lust mit den beiden zu reden verspürte sie in diesem Moment allerdings nicht.
»Eine neue Botschaft deines Vaters?«, fragte Darius vorsichtig und trat neben sie. Serena nickte nur leicht und hielt ihnen ein zusammengeknülltes Stück Pergament hin, das Helios ahnungsvoll entgegennahm. Cybele hatte es ihr am frühen Morgen gebracht, noch bevor sich die ersten Sonnenstrahlen durch den dunklen Nachthimmel gezogen und sie endgültig aus dem Halbschlaf gerissen hatte.
»Mein Zukünftiger hat nun einen Namen …«, fauchte sie spöttisch, als sie sich zu den beiden umwandte und verachtend auf den Brief in Helios' Händen hinabsah. Er hatte Schwierigkeiten damit seine Fassung zu bewahren, doch er schwieg. Seine leuchtend grünen Augen überflogen Zeus' Handschrift und schweiften bereits nach den ersten Zeilen zu ihr ab. Die Wut über sein Vorhaben stand ihm ins Gesicht geschrieben und nur mit viel Disziplin konnte er es vor Darius und Serena verbergen.
»Wann kam dieser ...«
»Heute früh. Athenes Eule brachte ihn ... Ich dachte, er sei von …« Ihre Stimme brach. Die Enttäuschung, dass dieser Brief nicht von ihrer Schwester war, überwältigte sie und zwang sie schließlich nieder. Sie wusste nicht, was sie in diesem Moment denken, geschweige denn empfinden sollte. Ihr Gesichtsausdruck war leer, nichtssagend, völlig emotionslos. Es war ein Brief, der ihr Schicksal besiegeln sollte und dies machte ihr schwer zu schaffen, schwerer als sie zugeben wollte.
Helios wandte sich kurz zu Darius um, der den Kopf schüttelte und seine Arme vor seiner Brust verschränkte.
»Du musst ihm antworten, Serena. Er wird niemals aufhören«, entfuhr es ihm eindringlich. Serena sah ihn allerdings nicht einmal an, als würde sie ihn nicht hören. Doch sie verstand jedes einzelne Wort und egal wie sehr sie sich dagegen sträubte, wusste sie tief im Inneren, dass er recht hatte. Zeus würde womöglich niemals damit aufhören.
»Ich hätte nie gedacht, dass er wirklich dazu fähig ist … Eine solche Bürde auf mich zu nehmen, um bei meiner Familie zu sein …«, flüsterte sie und sah wieder zur aufgehenden Sonne, deren strahlender Glanz auf ihrer Haut ruhte. Sie kämpfte innerlich mit sich selbst, das war ihr anzusehen. Doch egal wie ihre Entscheidung auch ausfallen würde, jemand würde darunter leiden.
Helios, der noch keinen Ton von sich gegeben hatte, reichte den Brief schweigend an Darius weiter, der diesen wissbegierig verschlang, und trat dann neben Serena. Mit verschränkten Armen starrte er auf den Boden vor sich und schien nach den richtigen Worten zu suchen, die ihm jedoch gleich wieder entglitten.
Er hatte stets ein paar ermutigende Worte für sie über die Lippen gebracht. Doch im Angesicht dieser Situation fiel selbst ihm nichts ein. Da wurde ihm klar, dass kein Wort der Welt Serena beruhigen und Zeus' Vorhaben rechtfertigen konnte. Selbst sein Versprechen, welches er ihr auf der Insel der Moiren gegeben hatte, verlor an Wert und noch schlimmer war, dass Serena sich in diesem Augenblick dessen völlig bewusst wurde. Sie hatte all ihre Hoffnung in ihn gelegt. Womöglich den letzten Funken Hoffnung, den sie nach der erschütternden Nachricht von Atropos noch schöpfen konnte. Nun war selbst diese zu Nichte und das ihr gegebene Versprechen war nichts weiter als leere Worte.
Sie hatte ihr Schicksal in den Händen – ein schlechter Witz.
Nervös schliffen die Ledersohlen seiner Sandalen über den Steinboden und ließen Serena für einen Moment aufschauen. Doch sie verkniff es sich, Helios auf diese nervende Angewohnheit hinzuweisen und biss sich geduldig auf die Zunge. Der junge Sonnengott selbst schien darauf zu warten, dass sie von sich aus dieser beklemmenden Stille ein Ende setzen würde. Er ahnte jedoch, dass er darauf lange warten konnte. Sie hatte sich verändert, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Aus der misstrauischen Einzelgängerin war eine ehrgeizige Kämpferin geworden. Egal wie viel Vertrauen sie ihm nach allem entgegenbrachte, fraß sie ernsthafte Probleme jedoch noch immer in sich hinein und versuchte, diese alleine zu bewältigen. Und egal wie sehr er ihr auch helfen wollte, schaffte er es dennoch nicht, die unsichtbare Barriere zwischen den beiden zu überwinden, um ihr beizustehen.
Sie war ein Kind, ein junges Mädchen, das in ihrem Alter nicht über den Tod nachdenken sollte, geschweige denn mit Schwert und Bogen gegen das Schicksal kämpfen. Doch sie wurde zum Erwachsensein gezwungen. Sie wurde dazu gezwungen, ihre Jugend abzulegen und stark zu sein. Dennoch sah er in ihr noch immer das kleine, hilflose Mädchen von damals, das mit tränengetrübten Augen ihr Spiegelbild in einer Pfütze betrachtete.
Sie hatte zwei Gesichter.
Angespannt schüttelte Helios den Kopf und stemmte seine Hände in die Hüfte, während er den leisen Flüchen lauschte, die Darius dem Herrscher des Olymp widmete.
»Hast du wieder einen von diesen Träumen gehabt?«, fragte er schließlich neugierig, als er die quälende Stille nicht mehr ertragen konnte. Doch Serena schüttelte nur den Kopf.
»Hast du überhaupt etwas geträumt?«
»Die Toten träumen nicht, Helios, das solltest du wissen!«, grummelte sie leise und schüttelte wieder abfällig den Kopf, während ihr Gesicht sich zu einer düsteren Fratze verzog. Sie wandte sich von ihm ab, sodass es dem Gott unmöglich war, durch den zerbrechlichen Spiegel in ihre Seele zu blicken. Er meinte es nur gut, da war sie sich sicher. Ihre Lage erschien ihr jedoch so aussichtslos, dass sie ein anderes Thema nun unmöglich ablenken konnte. Ihr starrer Blick ging stumm ins Leere und dennoch glaubte Helios, sie bei vollem Bewusstsein zu wissen. Sie distanzierte sich immer mehr von der Hoffnung eine glückliche Zukunft führen zu können und somit auch immer mehr von den Leuten, die ihr eigentlich helfen wollten.
»Herkules?«, durchbrach Darius plötzlich die angespannte Situation und erweckte die Aufmerksamkeit des Sonnengottes, der sich wieder zu ihm umwandte.
»Ist er nicht selbst ein Halbgott? Wie kommt Zeus auf die Idee, er könnte dich mit einem Halbgott vermählen, um dich zu einer Göttin zu machen?«, fragte Darius irritiert und bemerkte zunächst nicht den finsteren Blick, den Helios ihm zuwarf.
»Das ist doch jetzt völlig egal. Wir müssen einen Weg …«
»Herkules ist ein Gott«, entfuhr es Serena leise und unterbrach Helios mitten in seinem Satz. »Als er in den Olymp aufstieg, heiratete er Hebe, die Göttin der Jugend. Durch die Ehe mit einer Olympierin und die Aufnahme in den Olymp erhielt Herkules das Geschenk der Unsterblichkeit und wurde schließlich auch zu einem Gott ... Hebe starb, doch selbst nach ihrem Tod durfte er auf dem Olymp bleiben, jedenfalls habe ich das gelesen.«
»Natürlich durfte er bleiben!«, erwiderte Darius zynisch. »Aber nur, weil ihm der Mord an Hebe oder seiner ersten sterblichen Frau nie nachgewiesen werden konnte!«
Augenblicklich trat eine eisige Stille ein. Helios schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wandte sich von den beiden ab. Serenas zierliches Gesicht drehte sich fast mechanisch zu Darius um. In ihren einst leuchtenden Augen erkannte er ein schimmerndes Funkeln von Fassungslosigkeit. Ihre leichte Bräune wich einer unnatürlichen Blässe und ihre blutroten Lippen bebten vor Erregung.
»W-Was hast du gesagt?«, hauchte sie und kam einen Schritt auf ihn zu.
Der junge Halbgott hielt inne. Der Hass auf Herkules hatte ihn übermannt. Zu spät realisierte er, dass er mit dieser Aussage das Tor zur Hölle aufgestoßen hatte. Verzweifelt suchte er Rat bei seinem Herrn, der jedoch nur den Kopf schüttelte. Er wollte nicht, dass Serena dies erfuhr und nun war es Darius, der diese Bombe zum Platzen gebracht hatte.
»Was hast du gerade gesagt?«, knurrte Serena aufgebracht und kam bedrohlich schnell auf ihn zu. Ihre Zähne blitzten hervor wie bei einer hungrigen Wölfin und ihre Augen verformten sich zu schmalen Schlitzen. Doch ehe sie ihn zwischen die Finger bekommen konnte, stellte sich Helios dazwischen und versuchte sie zurückzudrängen.
»Hebe wurde wenige Tage nach der Vermählung tot in ihrem Bett aufgefunden. Man fand einen Becher bei ihr, in dem sich das tödliche Gift aus den Fangzähnen der Hydra befand. Es konnte nie geklärt werden, ob Herkules etwas damit zu tun hatte. Und am Tod der Sterblichen ist Hera nicht ganz unschuldig. Du weißt selbst, wie sie ist …«, versuchte Helios die Situation zu entschärfen und die Halbgöttin zu beruhigen. Doch Serena war zu aufgewühlt, um sich zu beruhigen. Sie lief ziellos über die große Plattform und vergrub ihre Finger in ihrem leuchtenden Haar.
»Wir werden das bewältigen. Es wird …«
»Und wenn er es ist?«, fuhr sie ihn hysterisch an. Helios runzelte fragend die Stirn und schnappte nach Luft. Er hob seine Arme und versuchte Serena zu beruhigen, die jedoch sofort auswich.
»Serena, es gibt keine Beweise, dass er etwas damit zu tun hat!«
»Was, wenn Herkules dieser Gott ist, von dem die Moiren gesprochen haben?«
»Serena …«, grummelte Helios angespannt und versuchte ruhig zu bleiben, doch in diesem Moment hatte selbst er sich nicht mehr unter Kontrolle. Die Hitze in seiner Nähe wurde unerträglich und zwang den eingeschüchterten Halbgott aus seinem Schutz zu fliehen. Er hatte seinen Herrn noch nie so in Rage erlebt und beobachtete das Schauspiel von den Pferdestatuen aus.
»Niemand konnte dem Schicksal entkommen. Früher oder später hat es jeden erwischt. Warum sollte ich eine Ausnahme sein?«
»Weil du anders bist!«
»Du hast ihre Worte gehört, Helios. 'Sie wird sterben, durch die Hand eines Gottes!' Versuche nicht mir die heile Welt vorzuspielen. Weder Zeit noch das Schicksal standen je auf meiner Seite! Warum sollte es dann das Glück sein?«
Benommen rannte sie davon und ließ die beiden sprachlos zurück. Erst als sie außer Sicht war, kam Darius aus seiner Deckung hervor und sah ihr betrübt nach. Gratulierend klopfte der Gott ihm auf die Schulter und rüttelte ihn wieder wach.
»Dir ist bewusst, dass du ihr nun nachgehen darfst, um sie wieder zu beruhigen!«, murrte Helios und gab ihm einen Stoß von hinten, sodass er geradewegs auf die Treppe zu stolperte.
Serena rannte die strudelförmige Treppe nach unten und nahm dabei mehrere Stufen gleichzeitig. Ihre Augen waren tränengetrübt, ihre Wangen stark gerötet und ihre Stirn in tiefe Falten gelegt. Völlig blind rannte sie ihrem Gefühl folgend nach unten, als wäre sie auf der Flucht vor einer wilden Bestie, die ihr auf den Fersen war. Ein Unglück war vorherzusehen. Doch das schien ihr erst klar zu sein, als es unumgänglich war. Sie stolperte auf dem letzten Stück und versuchte sich mit ausgestreckten Händen wieder zu fangen, was ihr jedoch nicht gelang. Kopfüber rutschte sie die Steinstufen hinab und schlug mit dem Bauch auf dem harten Marmorboden am Fuße der Treppe auf. Ein leises Keuchen entfloh ihren Lippen, ehe ihr Körper zusammenzuckte. Der Schmerz, den sie in diesem Moment verspürte, lähmte sie vollkommen und ließ sie qualvoll leiden. Erst Augenblicke später kehrte das Gefühl in ihren Gliedern nach und nach zurück und sie konnte sich von dem erlittenen Schock erholen, doch der Schmerz blieb.
Ein Blick auf ihre Handflächen offenbarte großflächige Schürfwunden, die fürchterlich brannten. Eine Weile starrte Serena auf sie hinab und unterdrückte einen schmerzverzerrten Heulkrampf, der bereits in ihrer Kehle saß. Sie wollte nicht weinen, auch wenn sie allen Grund dazu hatte. Dennoch tat sie es nicht, denn sie wusste, dass jener Schmerz, der sie nun an ihren sterblichen Körper fesselte, bereits am späten Abend wieder vergessen sein würde. Die Kalte Flamme, die ihre unsterbliche Seele umschloss, würde keine Spuren einer Verletzung zurücklassen.
Kurze Zeit später hatte Darius sie eingeholt und sah besorgt auf sie hinab. Nur widerwillig ließ sie sich von ihm hochhelfen und in ihr Gemach bringen. Doch seine verzweifelten Versuche, sich für das Gesagte zu entschuldigen und die ganze Sache wieder geradezubiegen, prallten an ihr ab und scheiterten letztendlich ganz. Sie schien ihn völlig vergessen zu haben, als sie ihre Handflächen in eine Schüssel mit klarem Wasser hielt, um die Schmerzen zu lindern. Ihr tranceartiger Zustand veranlasste ihn letztendlich dazu, sich neben sie auf das Bett zu setzen und seine Hand auf ihre Schulter zu legen. Vor Schreck fuhr sie zusammen. Das goldene Gefäß fiel zu Boden und das Wasser ergoss sich über den glänzenden Marmor, der nun ihr ängstliches Gesicht widerspiegelte.
»Serena, ist alles in Ordnung?«, fragte der junge Halbgott sanft und drehte sie an den Schultern zu sich um. Erst als ihre goldbraunen Augen ihn erblickten, ließ das krampfhafte Zittern nach und Serena konnte sich wieder beruhigen. Der Schmerz in ihren Handflächen hatte sie betäubt und erinnerte sie wieder daran, dass sie trotz ihres körperlichen und seelischen Zustands noch immer leiden konnte. Der Schmerz erinnerte sie daran, dass sie noch immer die normalen Gefühle eines lebenden Menschen empfinden konnte. Dies konnte unmöglich eine Täuschung sein.
Sie war noch immer sterblich … noch immer eine Lebende …
Serena atmete tief durch und lächelte in sich hinein, während Darius weiterhin versuchte, auf sie einzureden. Doch seine Worte versiegten in ihrer Gedankenwelt, ganz gleich wie eindringlich diese auch waren.
Zögernd sah Serena ihn gezielt an und ein leichter Hauch eines Schmunzelns zierte ihre blassen Lippen, das den vertrauten Halbgott völlig verunsicherte. Er wusste nicht, was in ihr vorging, konnte nicht einmal erahnen, was sie durchlitt, doch ihr Verhalten beunruhigte ihn sehr. Er kannte sie inzwischen so gut, dass er wusste, dass selbst solch ein zuversichtliches Lächeln selten der wahren Gefühlslage in ihrem Inneren entsprach. Doch diesmal war es anders. Diesmal hatte er das Gefühl, dass es wirklich aus ihrer Seele kam.
»Die Moiren sagten, dass ich tot sei … aber Tote spüren keine Schmerzen, nicht wahr?«
Darius schüttelte leicht den Kopf und starrte auf ihre Handflächen hinab, die nach und nach rückstandslos verheilten. Nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gesehen. Aus diesem Grund war er wie gebannt von diesem magischen Ereignis.
»Ein Fluch kann auch ein Segen sein …«, flüsterte er und lächelte nun ebenfalls. Er hatte völlig vergessen, aus welchem Grund er sie aufgesucht hatte. Doch augenscheinlich schien sich selbst Serena nicht mehr daran zu erinnern, warum dieser Unfall überhaupt passiert war. Sie sah sich ihre Hände genauer an. Doch egal wie genau sie diese auch absuchte, sie konnte keine Schramme, keinen Kratzer, nicht einmal eine Rötung erkennen – binnen wenigen Augenblicken waren ihre Wunden vollständig verheilt.
Plötzlich verzog sich Darius' Gesicht jedoch, als er sich wieder aus dem Bann der Kalten Flamme lösen konnte.
»Helios möchte, dass du wieder nach oben kommst. Er meint, er habe eine Überraschung für dich.«
Fragend sah Serena zu ihm auf und zögerte einen Moment, ehe sie sich erhob und bereitwillig mit Darius ihr Gemach verließ. Doch gerade als er die Tür öffnete und sie auf den Korridor hinausschreiten wollten, hörten sie das laute Gebrüll einer aufgebrachten Frau. Serena dachte zuerst an Antheia, die ihre Langeweile mal wieder an einer der niederen Bediensteten ausließ. Die junge Halbgöttin merkte jedoch schnell, dass diese Stimme viel zu hell für die alte Hexe war.
Gegen den Willen von Darius schlich sie den langen, erleuchteten Korridor entlang und vergaß dabei völlig, dass Helios bereits auf sie wartete. Die Neugierde hatte sie wieder gepackt - eine Angewohnheit, die sie trotz aller Mühe einfach nicht ablegen konnte.
Vorsichtig spähte sie um die Ecke und blickte in einen weiteren Gang, in dem sie aus dem Augenwinkel drei schemenhafte Gestalten erblicken konnte. Erst bei genauerem Hinsehen konnte sie eine von ihnen identifizieren. Ihr seidiges, braunes Haar stach ihr sofort ins Auge und die meeresblauen Augen hätte sie überall wiedererkannt. Serena schämte sich fast schon, dass sie sie vor einigen Monaten noch für eine der zügellosen Nymphen gehalten hatte. Schließlich hatte sie ihr zu verdanken, dass sie rechtzeitig zu den Moiren gelangen konnte.
»Rhode …«, entfloh es ihren Lippen gerade laut genug, dass Darius, der ihr hinterher geeilt war, es hören konnte, doch ihre Anwesenheit hatte man längst bemerkt. Die tiefblauen Augen der Meeresschönheit schauten plötzlich gezielt in ihre Richtung und verfinsterten sich rasch.
»Wir wissen, dass ihr da seid!« Angespannt fuhren Darius und Serena daraufhin zusammen und kamen ertappt aus ihrem Versteck hervor. Wie kleine Kinder, die man gerade bei einer schlimmen Tat erwischt hatte, standen sie mit gesenkten Blicken vor ihnen und entschuldigten sich mehrere Male. Doch auch jetzt war die Neugierde in Serena zu groß und trotz des Dranges stillzustehen, sah sie auf. Eine junge Frau hatte sich vor die schöne Meeresprinzessin gestellt und schaute verachtend auf sie hinab. Die tiefen Furchen, die sich durch ihr Gesicht zogen, zeugten von der Wut, die sie verspürte.
»Was hat eine Bedienstete wie du und der kleine Laufbursche des Sonnengottes hier verloren?«, zischte sie aufgebracht und trat direkt auf Darius zu, der einen Schritt zurückwich. Sie war fast einen halben Kopf größer als er und schüchterte ihn zudem mit ihren dunkelbraunen, scharfen Augen ein, sodass er keine andere Möglichkeit sah. Doch Serena sah in diesem Augenblick nur die zusammengekauerte, zierliche Gestalt einer Bediensteten, die schluchzend in einem Trümmerfeld aus Tonkrügen stand. Mit ihren Händen presste sie ein Tablett fest an sich und blickte weder sie noch Darius ein einziges Mal an. Sie war völlig eingeschüchtert und traute sich nicht, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen. Ohne Zweifel hatte sie die Tonkrüge fallen lassen, in dem sich dem Geruch nach zu urteilen Nektar befunden haben musste und wurde deshalb nun dafür bestraft. Serena konnte nur zu gut nachvollziehen, wie es ihr gerade ging. In dieser misslichen Lage war sie schon so oft gewesen.
»Beruhig dich wieder, das ist doch nicht weiter schlimm …«, versuchte Rhode die Fremde zu beruhigen und packte sie unsanft am Arm. Diese schien sich allerdings ungern etwas vorschreiben lassen zu wollen. Dennoch atmete sie tief durch und ihre fast schwarzen Augen wanderten wieder zu der zierlichen jungen Frau, die noch immer keinen einzigen neugierigen Blick gewagt hatte.
»Du, sieh zu, dass du das schleunigst wegräumst!«, fauchte die Fremde sie an und hob ihre Hand, das war selbst für Serena zu viel.
»Es reicht!«
Stille kehrte ein. Rhode und die unheimliche Frau sahen die aufsässige Halbgöttin fragend an, die ihre erboste Stimme erhoben hatte und verachtend zu ihr aufblickte.
»Wagst du etwa …«
»Ich bin mir sicher, der Herr wird es nicht gutheißen, wenn er erfährt, dass jemand die Hand gegen die Bediensteten erhebt. Auch nicht, wenn es eine Furie ist!«
»Wie kannst du es wagen, du wertloses, kleines …«
»Hör auf, Clytia! Sie hat recht«, fauchte Rhode angespannt und zog die wutentbrannte Frau am Arm zurück. Ein kurzer Blick der Meeresschönheit bestätigte ihnen, dass sie der gleichen Ansicht war. Helios würde dies sicherlich nicht dulden, würde er davon erfahren.
Sie entschuldigte sich mehrmals bei den beiden und verschwand dann mit der rasenden Furie in einem Seitengang. Augenblicke später standen Darius und Serena noch immer fassungslos da und schauten ihnen nach. Sie wussten nicht, was sie von dieser Situation halten sollten. Serena hielt sie für eine der unzähligen Nymphen, die sich hier herumtrieben und glaubten, sie könnten sich wie Götter aufspielen. Sie verstand ebenso wenig wie Eos und Darius, was Helios an deren Gesellschaft fand, doch reinreden wollte sie ihm nicht.
Das Schluchzen des jungen Mädchens riss die Halbgöttin plötzlich aus ihrem tranceartigen Zustand und ließ sie aufsehen. Die Fremde war augenblicklich vergessen bei dem Anblick eines verängstigten Mädchens. Vorsichtig näherte sie sich der eingeschüchterten Bediensteten von hinten und drehte sie an der Schulter zu sich um.
»Ist bei dir alles …« Serenas Stimme brach abrupt, als sie das Gesicht des Mädchens sah. Ihre graublauen tränengetrübten Augen sahen sie an und versetzten sie in eine Schockstarre. Die Geräusche um sie herum wurden zu einem dumpfen Hämmern und eine innerliche Stimme erfüllte sie mit einem schaudernden Gefühl.
… Sie sah ihr so ähnlich …
Wie versteinert starrte Serena ihr Gegenüber an, um die sich Darius nun aufopfernd kümmerte und sie wieder zum Lachen brachte. Serenas Hände fingen an zu zittern. Eine unheimliche Kälte überkam sie und sie hatte alle Mühe nicht wild den Kopf zu schütteln, um aus diesem Albtraum zu erwachen.
… Sie sah ihr so ähnlich …
Das Mädchen verbeugte sich lächelnd vor den beiden, drehte sich um, sodass ihr langes, schwarzes Haar, das zu einem Zopf geflochten war, über ihre Schultern flog und eilte dann schnellen Schrittes davon.
Die Halbgöttin blickte ihr regungslos nach, in einem Gedanken verbissen, dass dies eben nur eine Illusion ihres Unterbewusstseins war. Ein böser Streich, den ihr schlechtes Gewissen ihr gespielt hatte.
»Sonnenschein?« Darius' eindringliche Stimme riss sie wieder aus ihrer Gedankenwelt. Irritiert sah sie ihn an und hatte offensichtlich Probleme damit sich wieder zu fangen. Auf Fragen, ob alles in Ordnung sei, nickte sie nur hektisch.
»Helios wartet bestimmt schon. I-Ich sollte gehen …«, würgte sie das Gespräch ab und rannte davon. Doch so schnell sie auch rannte, der quälende Gedanke holte sie ein und verbiss sich in ihrem Verstand. Ihr Haar, ihre Augen, ihr Lachen – ihr gesamtes Erscheinungsbild … Helia.
Nachdem sich ihre Gedanken nur noch um die Ehepläne ihres Vaters, die Kalte Flamme und das damit zusammenhängende Schicksal drehten, hatte sie nicht mehr an die olympische Bedienstete gedacht. Das junge Mädchen, das nur wegen ihr sterben musste. Noch immer verfolgten sie ihre freudestrahlenden Augen und das blasse Erscheinungsbild der toten Gestalt, die sie durch die Göttermasse auf dem Festplatz erblicken konnte. Sie war in ihrem Alter und noch so voller Leben, das in einer Nacht, in der sie einen schweren Fehler beging, einfach mutwillig ausgelöscht wurde.
Serenas Hände ballten sich zu Fäusten. Niemals würde sie ihm den Mord an ihr vergeben. Niemals.
Auf der Plattform angekommen, stützte sie ihre Hände auf die Knie und rang nach Luft. Sie war so schnell gerannt, dass ihre Kehle brannte und die hitzige Luft hier oben dieses Gefühl nur noch verstärkte. Dabei vergas sie zunächst, dass man bereits Ausschau nach ihr gehalten hatte.
»Du hast lange auf dich warten lassen«, entgegnete es ihr, noch ehe sie richtig oben angekommen war.
Erschöpft hob sie ihren Kopf leicht an und spähte zum anderen Ende der Plattform, wo sie Helios erblickte. Dieser stand mit verschränkten Armen und einem leichten Lächeln auf den Lippen am Rande der Plattform und wartete geduldig auf sie. Als Serena sich jedoch aufrichtete und er einen Blick auf ihr aufgelöstes Gesicht erhaschen konnte, verschwand dieses Lächeln sofort wieder.
»Was ist los? Ist etwas passiert?«
Prompt schüttelte die junge Halbgöttin den Kopf und rang noch immer nach Luft. Sie wollte ihm nicht sagen, was unten vorgefallen war. Sie wollte ihm auch nicht erzählen, dass sie seit langem wieder das Gesicht der jungen Bediensteten vor Augen hatte, an der sie noch immer sehr hing. Er würde sich nur wieder unnötige Sorgen machen.
Trotz der Schmerzen in ihrem Hals zwang sie sich ein kleines Lächeln ins Gesicht und sah ihn erwartungsvoll an.
»Du wolltest, dass ich komme …«
Helios beobachtete sie schweigend. Ob er ihr glaubte, wusste sie selbst nicht, doch sie hoffte es sehr. Das Sonnenlicht spiegelte sich in seinen grünen Augen, die strahlender leuchteten als alles Gold, was sie je gesehen hatte. Doch in diesem Augenblick wirkten sie trotz ihres verzweifelten Versuchs, die Sache mit einem leichten Lächeln vom Tisch zu fegen, sehr misstrauisch. Sie versuchten sie zu durchschauen, so wie sie es bei ihrer ersten Begegnung schon versucht hatten und sie in eine unangenehme Lage versetzten. Ihr Gesichtsausdruck hatte sie damals verraten, das wollte sie nun um jeden Preis verhindern.
»Du denkst in den letzten Tagen über vieles nach, bist abgelenkt und völlig durch den Wind. Die Sache mit Herkules hat dir wohl den Rest gegeben …«, brach es plötzlich zögernd aus ihm heraus, als er langsam an sie herantrat. Serena winkte dies mit einem müden Lächeln ab, wenngleich sie wusste, dass er sie inzwischen besser kannte als ihr lieb war.
»Auch du kommst irgendwann an deine Grenzen, das solltest du einsehen, Serena!« Als er vor ihr stehen blieb, fiel es ihr schwer, den Blickkontakt zu ihm zu halten. Seine Stimme klang so eindringlich, doch zu gleich auch einfühlsam und besorgt, dass sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Kein Ton verließ ihre Lippen. Ihre Zunge hatte sich bei seinen Worten verknotet. Sie wollte nicht, dass er sie so ansah, doch verbieten konnte sie es ihm nicht.
Ein Moment der Stille trat ein, in der er sie gedankenvoll beobachtete und sie flehte, dass er seinen Blick von ihr abwenden und ihr nicht ihre Unsicherheit anmerken würde.
»Ich dachte mir, dass dir eine Ablenkung vielleicht ganz guttun würde …«
Hinter seinem Rücken holte er einen langen, schmalen Gegenstand hervor. Er glänzte im Sonnenlicht und erregte Serenas Aufmerksamkeit. Der Atem stockte ihr erneut. Die Feuermusterung und das anthrazitfarbene Metall waren unverkennbar, jedenfalls für sie.
»Timaios …«, flüsterte sie, als sie die Klinge von Helios vorsichtig entgegennahm. Dies war das erste Mal, dass sie das Schwert bei Tageslicht erblicken konnte. Verändert hatte sie sich jedoch auch jetzt nicht. Das makellos verarbeitete Metall, die feinen flammenartigen Musterungen, der lederne Griff mit dem Messingknauf und das eingelassene Siegel eines Greifs. Selbst die feinen Gravuren waren über all die Jahre scheinbar völlig unversehrt geblieben.
»Er war ein Meister im Umgang mit Schwertern. Nun zeig, ob auch du dieser Fähigkeit mächtig bist!«
Fragend sah Serena zu ihm auf. Sein herausforderndes Grinsen verwirrte sie vollkommen. Sie wusste in diesem Augenblick nicht wirklich, was er von ihr wollte, doch sie hatte eine leise Vorahnung.
»Du bist eine brillante Bogenschützin, wie ich selbst feststellen durfte. Athene sagte mir jedoch, deine Schwerthaltung lässt noch viel Freiraum zum Üben, da dachte ich …« Seine Stimme erstarb abrupt, als er in Serenas leuchtende Augen blickte. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Zu verzaubert war sie von dem Anblick des Schwertes in seiner vollen Schönheit. Doch als sie Helios' Worte realisiert hatte, überkam sie ein leidiges Gefühl, das sie nicht überwinden konnte.
Athene hatte mit ihr nur an ihrer Verteidigung gearbeitet. Angriffstechniken wollte sie ihr nicht zeigen, dagegen hatte sie sich stets gesträubt. Doch während der Reise zu den Moiren wurde der jungen Halbgöttin bewusst, dass es ein Fehler seitens ihrer Schwester war. Sich zu verteidigen würde auf Dauer nichts nützen. So würde sie Ares nicht schlagen können.
Zitternd fuhr ihr Körper zusammen. Das Bild des leblosen Körpers auf dem Festplatz des Olymp ließ sie nicht mehr los. Die Verteidigung brachte ihr den Tod … Dieses Schicksal würde sicherlich auch sie bald ereilen, würde sie auf die Göttin hören, die dem Willen ihres Vaters folgte.
Zögernd blickte Serena wieder zu Helios auf, der geduldig auf eine Antwort von ihr wartete. Er wusste, was ihr bevorstand. Er wusste auch, zu welchen Taten Ares fähig war und hatte die Entscheidung getroffen, sich erneut gegen den Willen ihres Vaters zustellen.
Zwiespältig nickte sie und nahm das Schwert unsicher in beide Hände. Sie versuchte sich an das zu erinnern, was Athene ihr beigebracht hatte. Doch Helias graublaue Augen ließen nicht mehr von ihr ab. Es war wie ein Albtraum, der sie verfolgte und sie langsam in sich hinein zog. Sie würde niemals Ruhe finden, erst recht nicht nach der Begegnung mit der ängstlichen Bediensteten zuvor.
Sie sah ihr so ähnlich.
»Nimm das Schwert fest in deine Hände, sonst wird es dir beim nächsten Gegenangriff aus der Hand geschlagen und das wäre dein Ende!«
Angespannt blickte Serena direkt in Helios' entschlossene Augen. Sie strahlten so viel Kraft und Beständigkeit aus, dass sie in diesem Augenblick alles um sich herum vergaß. Er hatte seinen Umhang abgelegt, eine Abwehrposition eingenommen und wartete geduldig auf ihren Angriff. Doch etwas stimmte sie unruhig, sodass sie die Klinge wieder sinken ließ.
»Wo ist dein Schwert?«
Lachend schüttelte er den Kopf und strich sich durch seine dunkelbraunen Haare, von denen sich einige Strähnen in sein Gesicht verirrt hatten.
»Ich bin ein Gott, unterschätze mich nicht! Ich denke, ich bin schnell genug, um deinen Angriffen auszuweichen!«, zwinkerte er ihr frech zu und drehte ihr demonstrierend den Rücken zu. Er hob sogar bereitwillig seine Arme, um ihr zu zeigen, dass er keine Waffen in greifbarer Nähe hatte, als wolle er sich damit beweisen.
Serena starrte ihn eine ganze Weile unverstanden an, ehe sie wieder auf das Metall in ihren Händen hinabblickte, in dem sich noch immer ihre Unsicherheit widerspiegelte. Helios wirkte sehr selbstsicher, fast schon eingebildet. Er glaubte wirklich, er könne ohne Waffe gegen sie gewinnen. Doch dies wollte sie nicht auf sich sitzen lassen. Das Schwert mit beiden Händen fest umklammert, überwand sie den Zweifel in sich, ertränkte ihn gewaltsam in ihrer Entschlossenheit und stürzte sich auf den schutzlosen Gott. Nur wenige Meter von ihm entfernt, winkelte sie die Klinge an und schlug zu. Doch sie traf nicht auf Widerstand. Noch ehe die Klinge ihn auch nur streifen konnte, wich er aus, versetzte ihr einen kleinen Stoß von hinten und brachte die stolpernde Halbgöttin so zu Fall.
Mit einem dumpfen Schlag knallte sie auf den harten Marmorboden und blieb noch Augenblicke später mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck liegen.
»Der gleiche fatale Fehler, den du auch bei Stheno begangen hast. Du greifst viel zu offensiv an. Deine Angriffe sind vorhersehbar. Mit dieser Technik könntest du nicht einmal ein Kaninchen töten, wenn es regungslos vor dir stünde!«
Fassungslos blickte Serena über sich hinweg, direkt in das gelangweilte Gesicht des Sonnengottes, der ihr wieder den Rücken zuwandte und sich von ihr entfernte. Helios' harte Worte zwangen sie letztendlich wieder auf die Beine. Er hatte ihren Stolz angekratzt, und obwohl sie es nicht zugeben wollte, hatten seine Worte sie offensichtlich härter getroffen als seine Abwehr. Aus dem Augenwinkel sah sie ihn an, sah seine überhebliche Haltung, als er wenige Meter von ihr entfernt stehen blieb und seine Arme vor seiner Brust verschränkte.
»Was ist? War das schon alles?« Verärgert wandte er seinen Blick von ihr ab und atmete genervt aus. »Was für eine Enttäuschung und das für die Tochter eines Schmiedemeisters!«
Abrupt kehrte Stille ein. Serena sah ihn entsetzt an, unsicher, ob sie sich gerade verhört hatte. Doch seine offensichtliche Abneigung bestätigte sie. Es stimmte sie wütend und brachte sie sogar dazu, den Schmerz ihrer aufgescheuerten Knie und Ellenbogen für diesen Augenblick völlig zu vergessen. Wie konnte er es wagen, so zu reden? Sie hatte ihn nur mit halber Kraft angegriffen. Das tat sie doch nur, um ihn nicht ernsthaft zu verletzen. Er unterschätzte sie. Ihre Techniken hatten ausgereicht, um die Athener Wachen zu überwältigen und dieser Gorgone den Kopf abzuschlagen ... Er wusste rein gar nichts …
Wütend nahm sie die Klinge in ihre rechte Hand und starrte ihn gefasst an. Sie wusste selbst nicht, worauf sie wartete, geschweige denn wie lange sie schon dastand. Doch sie wollte Helios nicht noch einmal die Gelegenheit geben, ihren Kampfstiel zu kritisieren.
»Wartest du auf besseres Wetter? Das wirst du hier sicherlich nicht bekommen«, rief er ihr ungeduldig zu und suchte den strahlend blauen Himmel nach einer Wolke ab.
Er nahm sie nicht ernst – ein fataler Fehler.
»Du hast recht, ich habe dich unterschätzt!«, entgegnete sie ihm und wirbelte das Schwert in ihren Händen leichtfertig herum. »Du hast eine größere Klappe, als ich angenommen habe!« Ein erstauntes Lachen konnte sich Helios daraufhin nicht verkneifen. Wenngleich Serena wusste, dass dieses sie nur verspotten sollte, beging er jedoch einen weiteren folgenschweren Fehler – er drehte ihr den Rücken zu.
Wende niemals deinem Feind den Rücken zu.
Ihre Augen verformten sich zu schmalen Schlitzen. Ohne mit der Wimper zu zucken, winkelte sie ihren Arm an und schleuderte das Schwert mit aller Kraft auf den Gott zu. Sie dachte nicht darüber nach, was sie tat. Es war, als würde sie jemand führen. Sie hatte keine andere Wahl. Und als sich ihre Finger öffneten und der harte Ledergriff ihnen entglitt, spiegelte sich ein leichtes Funkeln in ihren Augen wider und ein bedrohliches Lächeln entfloh ihren Lippen.
Die scharfe Klinge zerschnitt die Luft. Nur wenige Augenblicke vor einem Treffer wich Helios jedoch aus und fing das Schwert kunstvoll in der Luft ab. Sein Lachen erstarb abrupt und wich einem verblüfften Schock. Dies war keine göttliche Waffe. Serena könnte ihn damit unmöglich töten. Doch eine schmerzhafte Verletzung wäre sie mit diesem Wurf bewusst eingegangen. Helios hatte sie herausgefordert, sie in Rage gebracht und sie wissentlich provoziert. Nun hatte er die Bestie aus dem Käfig gelassen. Gerade als er sich zu ihr umdrehen wollte, bemerkte er den Schatten auf ihn zu stürmen – jedoch zu spät.
Serena stürzte sich auf ihn, legte ihren rechten Arm um seinen Hals und zog zu. Doch noch ehe sie richtig zudrücken konnte, griff Helios nach hinten, packte sie und schleuderte sie über sich hinweg.
Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie auf dem harten Marmorboden auf und blieb keuchend liegen. Die Wucht des Aufschlages hatte ihr die Luft zum Atmen abgeschnürt. Ihre Lunge zog sich zusammen und hinderte sie an raschen Bewegungen. Das helle Sonnenlicht über ihr, das zum Greifen nahe schien, verschwamm kurzzeitig vor ihren Augen, ehe es sie blendete und sie in einen rauschartigen Zustand versetzte. Ihr Brustkorb schmerzte höllisch und bei jedem verzweifelten Atemzug entfloh ihr ein gequältes Stöhnen, das in ihrer Kehle schmerzte. Nur mit Mühe konnte sie sich auf ihren Bauch drehen und den imaginären Stein von ihrer Brust schieben. Helios' Worte gingen in ihrem Überlebenskampf kläglich unter. Der Klang seiner besorgten Stimme versank im Rauschen ihres Blutes, das ihren Körper durchströmte und ihr allmählich die Besinnung nahm.
»Serena?«
Ihre Finger verhakten sich im warmen Marmorboden unter ihr. Der hitzige Atem entstieg schubweise ihrer Kehle. Sie petzte die Augen zusammen und spürte den kühlen Schweiß über ihre Stirn laufen, der eine angenehme Linderung versprach.
»Serena?«, versuchte Helios erneut auf sie einzureden, als er keine körperliche Regung mehr von ihr vernahm. Auf einen Ton der Entwarnung hoffte er allerdings vergebens. Doch plötzlich drückte sie sich wortlos vom Marmorboden weg und stützte sich auf Hände und Knie. Er konnte von seiner Position unmöglich sehen, wie schwer sich Serena mit dem Versuch, sich zu erheben, tat. Doch ihre Kraftlosigkeit konnte und wollte sie sich nicht anmerken lassen. Der Schmerz in ihren Gliedern lähmte ihren Körper kurzzeitig, hinderte sie daran, sich zu erheben und in diesem Moment hasste sie sich selbst. Sie hasste ihre Schwäche. Sie hasste ihre Schmerzen. Sie hasste diese lächerlichen Empfindungen, die sie an diesen wertlosen, ermatteten Körper banden.
»Tut mir leid, aber du wolltest es unbedingt wissen. Ich möchte dir helfen dich zu verbessern, aber du scheinst das Ganze ziemlich ernst zu nehmen … Du setzt dich viel zu sehr unter Druck. Es ist nichts Schlimmes dabei, Schwäche zu zeigen. Das Entscheidende ist, die Stärke zu haben, diese auch zu zulassen.«
Ihr Atem setzte aus. Jeglicher Glanz verschwand aus ihren Augen und wich einem trostlosen Grauton, als sie seinen Schatten auf dem Marmorboden sah.
Die Silhouette eines stolzen Mannes, der triumphierend sein Schwert über die Schulter legte, während er auf sein am Boden liegendes Opfer starrte. Regungslos … wehrlos … nur auf den Tod wartend und darauf, dass der nächste Regen das Blut fortspülen würde.
Deutlicher denn je hatte sie das Bild eines kleinen Jungen vor Augen, der gekrümmt auf dem Boden lag. Schrammen und Blutergüsse übersäten seinen ausgemergelten Körper. Die kalten dunklen Klauen des Hades schwebten über seinem Kopf. Nur ein leichtes Funkeln war in seinen Augen zu sehen, das leichte Funkeln von … Hoffnung, dass seine Peiniger ihn nicht länger leiden lassen würden, dass er nicht länger der Schwäche seiner Menschlichkeit erlag, dass er nicht länger ein Opfer dieses Tyrannen sein würde …
»Was weißt du schon von Schwäche oder von Angst … Leid … Tod …«
Serenas dunkle Augen erstarrten, ehe sie sie schloss und sich ihre Finger verkrampften. Der zuvor noch warme Odem in ihrem Hals schien sie von innen heraus zu vereisen, doch es war ihr egal. Die Wut, die tief in ihrem Inneren tobte und die sie überall die Zeit fest verschlossen hatte, versuchte sie zu überwältigen und sie war nicht länger willens, diese zu unterdrücken. Beherrschung spielte in diesem Augenblick keine Rolle mehr. Menschlichkeit hatte nichts damit zu tun.
Er würde büßen. Er würde für das leiden, was er Lisias angetan hatte ...
Die eisige Kälte übermannte sie und erfüllt ihr Herz mit einem Drang, dem sie schlussendlich erlag.
Sie stemmte ihr gesamtes Körpergewicht auf ihre Hände, trat mit den Füßen nach hinten aus und stieß Helios gewaltsam weg. Das Schwert, das er fallen ließ, fing sie während einer rasanten Drehung auf und hielt es fest in ihrer kalten Hand. Erst jetzt öffnete sie wieder ihre Augen und blickten in die eines völlig entsetzten Mannes, der versuchte, unter Schmerzen wegzukriechen. Vor wenigen Augenblicken war er es, der die Oberhand hatte und siegessicher triumphierte. Nun erfuhr er, wozu die Schwäche eines Menschen führte, was Leid und Angst bedeuteten und wozu das Schicksal fähig sein konnte, ganz gleich ob man Mut zeigte.
Nun würde sie dem Mann, der sie und andere jahrelang gequält hatte, endlich die von den Göttern verweigerte Strafe erteilen.
Langsam schritt sie auf den verletzten Mann zu. Nichts erinnerte mehr an den starken Tyrannen, der er war. Kleinlaut wirkte er nun, verletzlich … menschlich. Sein klägliches Flehen klang in ihren Ohren wie ein verzerrtes Krächzen. Der besitzergreifende Trieb in ihr benebelte ihre Sinne und ließ sie diesen krankhaft befriedigenden Moment in vollen Zügen genießen.
»Das ist für dich, Lisias!«, flüsterte sie zu sich selbst, schloss ihre Augen und hob die Klinge.
Ihrem letzten tiefen Atemzug folgte eine eisige Windstille, ehe das Niedersausen des Schwertes diese zerschnitt und in einen markerschütternden Schrei ausartete. Er war qualvoller als der schreckliche Laut eines sterbenden Hundes, der in den Gossen von Athen an vergiftetem Essen elend verendete. Er war schrecklicher als der schleifende Laut einer Gorgone, die ihre eisernen Klauen über den Steinboden zog. Doch ein unterbewusster Stoß durchfuhr ihren Körper. Eine Gänsehaut jagte die Nächste. Ihr Gesicht glich dem einer Toten. Dieser Schrei war nicht der eines sterbenden Tyrannen, der nach jahrelanger Folter, Erniedrigungen und Plündereien endlich seine gerechte Strafe bekam. Dieser Schrei war viel … gefühlvoller.
Ein Monster wie er konnte keine Gefühle zeigen, schoss es Serena durch den Kopf.
Ihre Lippen bebten vor Erregung. Sie konnte sich nicht rühren. Noch immer verspürte sie die unruhigen Vibrationen, die nun nach und nach ihren Körper aus der beherrschenden Beklemmung erlösten. Und das Gefühl von unaufhaltsamer Macht beugte sich der erschütternden Erkenntnis: Dies war nicht Arkios …
Benommen öffnete sie ihre Augen und erfüllte das Schwarz dahinter mit dem gleißenden Licht der hellen Sonne. Ihr eiserner Griff löste sich und das Schwert schlug mit einem lauten Klirren auf dem Boden auf. Das bläulich leuchtende Metall ließ sie in diesem Augenblick jedoch völlig außer Acht. Ihr Blick war ausdruckslos, ihr Gesicht noch bleicher als zuvor. Die Realität traf sie unbarmherzig wie ein Pfeil in ihre Brust.
»Die Kalte Flamme … Die Macht, ein unsterbliches Wesen mit einer bloßen Berührung zu töten«, hallte Helios' verworrene Stimme in ihrem Kopf wider.
Sie hatte den Kampf gewonnen, doch zu welchem Preis?
Er lag nicht weit entfernt von ihr auf dem Marmorboden. Keine Muskelregung war wahrzunehmen. Seine Augen waren geschlossen, sein Gewand von der Wucht ihres Angriffes zerfetzt. Sein rechter Arm war schwarz und glühte noch immer in einem leichten bläulichen Farbton, als hätten Flammen ihn für sich eingenommen.
Serenas zarte Lippen zitterten. Der Schock lähmte ihren Körper und bildete ein beklemmendes Kratzen in ihrem Hals. Ihre Stimme glich mehr einem kindlichen Schluchzen als dem ergriffenen Ausdruck einer erschütterten Halbgöttin.
»H-Helios …?«
Er rührte sich nicht. Er blinzelte nicht. Er atmete nicht einmal.
Wind bedeutet Leben. Der Odem der Götter, der die Menschen berührt. Doch nun ist es still …
Der Himmel über Serena wurde düster. Binnen wenigen Augenblicken zogen schwarze Wolken auf, die der strahlenden Sonne ihre Schönheit nahmen und die junge Halbgöttin in kalte, dunkle Finsternis hüllten. Helios' Körper regte sich noch immer nicht und die Gewissheit in ihr wuchs, dass er es auch nicht mehr würde.
Wieder war der Kalten Flamme jemand zum Opfer gefallen. Wieder musste wegen ihr jemand sterben. Jemand, an dem sie nach all dem, was sie durchlebt hatte, festgehalten hatte.
Serena biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augen füllten sich mit den ersten glasigen Perlen, nachdem die Realität sie eingeholt hatte und der Wunsch, dass er jeden Moment unversehrt aufstehen und lachen würde, langsam verblasste. Sie würde nie wieder in seine leuchtenden Augen blicken können. Und als sie sich dessen bewusst wurde, verfluchte Serena die Kalte Flamme, die sie in ihrer Wut blind werden ließ. Sie verfluchte die Moiren für den Tod des Sonnengottes, weil er ihr helfen wollte. Sie verfluchte Zeus und den Olymp, der daran schuld war, dass sie herkam und ihm so etwas antat. Doch mehr noch verfluchte sie sich, dass sie selbst nicht den Willen hatte 'Stopp' zu sagen und die Schuld auf andere schob.
»H-Helios!«, entfuhr ein kratzender Laut ihrer trockenen Kehle, als sie schnellen Schrittes auf seinen leblosen Körper zulief.
»Rühr ihn ja nicht an!«, donnerte es plötzlich hinter ihr.
Zitternd blieb Serena stehen und ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie hätte mit ihr rechnen müssen. Doch in diesem Augenblick war sie nicht fähig sie anzusehen.
Eine Gestalt huschte an ihr vorbei und kniete sich neben Helios nieder. Ihr schönes kupferfarbenes Haar schien in dieser düsteren Stille dem matten Braun einer der zahlreichen Nymphen zu gleichen. Nur ihre Augen glänzten. Doch es war nicht der Glanz von Freude, den sie sonst ausstrahlten, wenn sie ihren Bruder erblickte. Sie betrachtete seinen leblosen Körper, starrte auf die starke Verbrennung an seinem rechten Arm hinab und hob dann seinen Kopf leicht an. Leise vernahm Serena ihre aufgewühlte Stimme. Sie betete. Vielleicht flehte sie sogar die Moiren an, Gnade mit ihm zu haben. Sie wusste es nicht, denn die Erkenntnis, dass ihretwegen wieder jemand sterben musste, überfiel sie erneut und zwang sie einige Schritte auf ihn zuzugehen, um das gesamte Ausmaß ihrer Tat zu sehen.
Abrupt wandte sich das blasse Gesicht der Göttin zu ihr um und Serena glaubte, das Aufflackern lodernder Flammen in ihren Augen zu sehen.
»Wage es ja nicht, meinem Bruder zu nahe zu kommen. Es war ein Fehler … Du bist eine Gefahr für uns alle! GEH!«, schrie Eos sie an und strich mit ihrer Hand sanft über das ausdruckslose Gesicht ihres Bruders. Doch Serena war zu gefesselt, um sich zu bewegen. Sie konnte Eos die Wut, die sich in ihr anstaute, nicht einmal verübeln. Schließlich hatte sie ihren geliebten Bruder getötet.
»Eos … I-Ich …« Serenas Stimme ging in ihren kläglichen Atemzügen unter und versiegte dann ganz. Was sollte das überhaupt? Kein Wort der Welt könnte den Tod des Gottes rechtfertigen und den Zorn seiner Schwester besänftigen. Wenn der Olymp von ihrer Tat erfuhr, und das würde er ganz sicher, dann wäre es so oder so aussichtslos. Sie würde keine Gnade erhalten. Der Mord an einem Gott war unverzeihlich - ein Verbrechen, das mit der Verbannung in den Tartaros geahndet wurde. Doch sie würden sich fragen, wie eine einfache Halbgöttin einen Gott töten konnte und dann würde Eos ihre Rache erhalten. Sie würde von dem Unheil in ihr erzählen, von der Macht, die Helios auf dem Gewissen hatte.
Als Serena aufsah und die zierliche Göttin betrachtete, die ihren Bruder in den Armen hielt, stockte ihr der Atem. Zuerst hielt sie es für eine Einbildung, ein Trugbild der Dunkelheit, die sie umgab oder ein Wunschdenken, das ihre Sinne benebelte, doch sie war sich sicher.
Er regte sich.
Gerade als Eos ihre Hand von seiner Stirn nahm, zuckten seine geschlossenen Augenlider,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Romana Kessner
Cover: GedankenGrün
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0359-6
Alle Rechte vorbehalten